30 Jahre später: DIE ÄRZTE

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Die Bestie in Menschengestalt (CD/LP, Metronome, 1993)

Anfang der Neunziger: Ich bin zwölf und Jan Krogmann überspielt mir die Live-Platte der Band DIE ÄRZTE auf Kassette. Wenige Wochen später kann ich das Album inklusive der Ansagen auswendig. Der Nazi-Skin aus dem Nachbardorf verpasst mir eine Backpfeife im Bus, dann ausländerfeindliche Brandanschläge im Osten, Klassenfahrt in Dresden, die ersten Nazi Skins außerhalb des Nachbardorfes. Im Herbst 1993 erscheint „Schrei nach Liebe“. Fünf Jahre zuvor hatten sich DIE ÄRZTE aufgelöst, nachdem sie sich einen hervorragenden – die Zensur ausreizenden Ruf – beim Bravo-lesenden Publikum erarbeitet hatten. Nun, 1993, sind sie zurück und liefern mit ihrem Comeback-Album den Soundtrack für unzählige Pubertierende, wie für mich damals. In der Rückschau ist „Die Bestie in Menschengestalt“ irgendwie seltsam gealtert. Klar ist „Arschloch“ (wie Nachgeborene „Schrei nach Liebe“ häufig nennen) vermutlich heute relevanter als früher. Dass Belas Schnulzen wie „Mach die Augen zu“ seinerzeit das Teenie-Ich erreichten, lässt sich sehr gut nachvollziehen. Von „Deutschrockgirl“ wünscht man sich jedoch ein zeitgemäßes „Deutschrocktyp“-Update, das sich dem prolligen „unpolitischen“ Hooligan-Rock widmet. In den Rap-Einlagen von „FaFaFa“ „Gehirn-Stürm“ (mit einem Gastauftritt von Heinz Strunk, den damals vermutlich kaum jemand auf dem Zettel hatte) gibt es flache Seitenhiebe auf den aufkeimenden HipHop. Durch die Synthies und den Neunziger-„Rapflow“ hat das Ganze eine leider recht käsige Note. Die Zotigkeit des Frühwerks wiederum erhält mit dem „Claudia“-Update eine Abfuhr und mit „Omaboy“ neues Futter. Beim Ska-beeinflussten „Die Allerschürfste“ gibt es ein fast schon episches Finale mit Streichern und Bläsern. Die Message von „Friedenspanzer“ ist inhaltlich zeitlos, „Quark“ ein fast klassischer DIE ÄRZTE-Diss nerviger Menschen. „Kopfüber in die Nacht“ spiegelt schon erstaunlich ernsthaft die Desillusion der Adoleszenz. „Lieber Tee“ enthält ein Klaus Kinski-Sample und wirkt mit seiner musikalischen Verspieltheit im Nachgang wie eine Brücke zu den „neueren“ DIE ÄRZTE-Songs. Provokant wird es dann mit der abschließenden Volksmusik- und Provinz-Abrechnung „Wenn es Abend wird“. Das Überraschendste an „Die Bestie ...“ ist neben der musikalischen Vielfalt vor allem (leider) die Relevanz der angeschnittenen politischen Themen, die bis in die Gegenwart reicht. Den bisweilen grenzüberschreitenden DIE ÄRZTE-Humor ins Jetzt rüberzuretten, funktioniert jedoch (natürlich typabhängig) nur bedingt. Wer das Lebensgefühl der frühen Neunziger aus einer pop-punkigen Perspektive betrachten möchte, findet hier aber ein hervorragendes Zeitdokument.