ANAAL NATHRAKH

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Von der Realität eingeholt

ANAAL NATHRAKH, das sind Multi-Instrumentalist Mick Kenney und Sänger Dave Hunt. Wir sprechen mit dem Frontmann über die Themen des neuen Albums „Endarkenment“.

Ihr habt das Album im Januar aufgenommen. Damals war noch nicht so viel über COVID-19 bekannt. Einen direkten Einfluss auf das Werk hat das Virus also nicht gehabt, oder?

Nein, Mick konnte aus Kalifornien hierher fliegen. Während des Lockdowns wäre das nicht möglich gewesen. Aber der kam hier erst Ende März. Und erst eine Woche davor begriffen die Menschen so langsam, dass irgendwas passiert. Drei oder vier Wochen bevor das Virus zum Thema wurde, waren wir fertig. Die komische Sache ist jedoch, dass vieles von dem, was ich auf dem Album thematisiere, jetzt wesentlich relevanter ist. Manche Dinge, über die wir nachgedacht und über die ich geschrieben habe, haben sich als wahr herausgestellt. Wenn sich die Welt auf eine so drastische Art und Weise verändert, kann es passieren, dass das, was du vorher gemacht hast, auf einmal eine andere Bedeutung bekommt. Ich habe erst gestern eine Dokumentation über San Francisco im Jahr 1906 gesehen. Diese Aufnahmen wurden vier Tage vor der größten Naturkatastrophe in Kalifornien gedreht. Achtzig Prozent der Stadt wurden zerstört. Plötzlich sind diese Aufnahmen also total veraltet. Das hätte auch mit diesem Album geschehen können. Viele Sachen haben sich aber doch als richtig herausgestellt. Fast schon so, als hätten wir das Virus vorhergesehen.

Kannst du ein bisschen näher auf diese Themen eingehen, die du gerade schon vage angerissen hast?
Das neue Album bezieht sich darauf, wie sich die Welt aktuell gerade anfühlt. Es gibt Dinge, bei denen ich mich schwertue, sie zu verstehen. Der Beginn davon war der Brexit. Davon hast du sicher auch mitbekommen. In den Debatten, die ich dazu sah, wurde mir eines klar, die Leute waren nicht einer Meinung, weil einer weniger Informationen hatte als der andere. Ich möchte nicht sagen, dass eine Seite alles zum Thema wusste, aber in einer traditionellen post-aufklärerischen Herangehensweise von Diskussionen werden von zwei Leuten solange Informationen ausgetauscht, bis eine Person etwas Neues erfährt und umgestimmt wird. Dann hört diese Meinungsverschiedenheit auf. Das ist natürlich nur ein Modell, die echte Welt ist komplizierter. Aber das ist der Klassiker. In den Debatten rund um Brexit wurde jedoch klar, dass es egal ist, welche Information die jeweilige Seite präsentiert hat, sie würden niemals übereinstimmen. Das unterscheidet sich fundamental von der Idee der Aufklärung. Es geht nicht um Fakten, Rationales oder eine fast schon akademische Herangehensweise an die Wahrheit. Heutzutage geht es mehr um das Gefühl, was die Menschen meinen, dass richtig sei. Auch beim Klimawandel lässt sich das beobachten, aber mit dem Brexit wurde mir das so richtig klar. Das Ganze hat sich durch das Virus offenbar noch einmal verstärkt. Es gibt Leute, die sich dagegen auflehnen, etwas gegen COVID-19 zu unternehmen. Sie stimmen nur nicht miteinander überein, sondern sind in Rage. Man sieht sie in den Medien mit Waffen. Ich meine, Epidemiologie ist für den allergrößten Teil kein Fall für Gefühle. Wir wissen, wie es funktioniert. Es ist ja auch nicht so, dass Menschen die Funktionsweise eines Flugzeugs infrage stellen, obwohl sie nicht verstehen, wie es geht. Aber sich in vielen Bereichen so zu verhalten, als wüsste man alles und besser als die Experten, ist etwas Neues, das ich jetzt seit einigen Jahren beobachte.

Ich kann das bei mir aber auch feststellen, dass ich jetzt viel vorsichtiger mit anderen über solche Themen spreche, weil ich immer Angst haben muss, dass jemand etwas Irrationales von sich gibt, von dem er glaubt, dass es richtig ist. Dieses Misstrauen ist ziemlich zerstörerisch für jede Art von Beziehung.
Das zeigt sich auf eine andere Art, meiner Meinung nach. Eine andere Äußerung desselben Phänomens ist für mich nämlich das starke Verlangen danach, Menschen eine Plattform zu nehmen. Es gibt einen sehr bekannten Fall in Kanada, die Details weiß ich gerade nicht genau, aber die kann man sicher nachschauen, bei dem ein Professor seinen Job verloren hat und sogar die Stadt verlassen musste. Dabei hat er jetzt nicht gesagt, dass man alle Armen und Schwarzen nehmen sollte und sie in einen Liquidator stecken und trinken sollte. So was hat er nicht gesagt. Aber die Menschen möchten heutzutage nicht, dass bestimmte Dinge gesagt werden oder überhaupt in ihrer Welt existieren. In dem Song „Punish them“ auf diesem Album geht es an der Oberfläche darum, dass Menschen einer Frau übel zugesetzt haben, die Drogen verkauft hat. Dies ist wie aus der Kommentarspalte einer Nachrichten-Seite. So habe ich das auch in den Linernotes erklärt. Die Leute sagten nicht: „Was für eine schreckliche Frau, gut dass sie im Gefängnis ist!“ oder „Gut, dass das mein Nachbar nicht tut!“, sondern: „Tötet sie!“ Es war für sie unerträglich, in derselben Welt wie diese Frau zu leben. Irgendwo ist das für mich mit dieser Aufklärungsidee verbunden. Auf eine verrückte Art ist das natürlich gut für uns als Band. Es fühlt sich fast so an wie politische Satire zu schreiben. Da möchte man ja auch nicht unbedingt immer recht haben.

Hier in Deutschland gibt es aktuell Leute, die auf die Straße gehen und behaupten, dass wir in einer Diktatur leben und Meinungen zensiert werden. Gibt es so etwas in Großbritannien auch?
Ironischerweise beißt sich das ein wenig, wenn sie demonstrieren, um zu sagen, dass sie nicht frei sind. Die meisten großen Demonstrationen, die ich bisher dazu gesehen habe, waren in Amerika. Dort scheint man damit aber den Mann unterstützen zu wollen, der sich wie ein Diktator aufführt. Irgendwas ist da falsch, die Logik stimmt nicht. Aber auch bei uns in Großbritannien gibt es so was. Aber ich versuche mittlerweile, mich etwas davon fernzuhalten. Dauernd die Nachrichten zu sehen, hat meiner geistigen Verfassung nicht sonderlich gutgetan.