BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS

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Hardcore Pop für Fortgeschrittene

Die Hannoveraner Band nahm schon kurz nach ihrer Gründung Ende 1979 ihre erste EP für No Fun Records auf. Mit „Jung kaputt spart Altersheime“ gelang ihnen auf Anhieb ein Szene-Hit. BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS spielten häufig mit anderen Labelbands wie HANS-A-PLAST und DER MODERNE MAN wie auf der „Jubel 81“ Tour 1981, veröffentlichten noch eine LP mit weiteren Punkrock-Perlen und eine weitere EP, bevor sie sich 1983 wieder auflösten. Mit Sängerin Annette sprechen wir unter anderem über Punk in den frühen Achtzigern, aber auch über eine mögliche Reunion der Band. Neben Annette waren noch Rudolf (Gitarre), Andreas (Schlagzeug) sowie Fuhsi und später Kai am Bass dabei.

Annette, wie bist du damals auf Punk aufmerksam geworden und wann hat dich das Virus selbst erfasst?

Mitte/Ende der Siebziger Jahre war ich sehr aktiv in der Anti-Atom-Bewegung. Viele Veranstaltungen liefen über das Unabhängige Jugendzentrum UJZ Kornstraße in Hannover. Dort fanden die ersten Punk-Konzerte statt. Und ich mochte die Energie der Musik und das selbstbewusste Auftreten der Leute.

Was bedeutete Punk damals für dich – und wie ist das heute?
Punk war neu, wild, unabhängig, unkompliziert, rotzfrech. So wollte ich sein. Und nicht so verwirrt und verletzbar, wie ich mich selber sah. Punk war die Bestätigung, dass es eine andere Art zu leben gibt. Leute, die Punk mögen, habe ich immer als sehr nett und zugewandt, einfach okay erlebt. Die Musik mag ich immer noch. Ich gehe gern auf Konzerte, singe die alten Hits in einem Punk-Chor und mag immer noch die Leute – besonders weil sie jetzt nicht mehr in dem Alter sind, wo sie mit Bierdosen nach einem schmeißen.

Gab es von deiner Seite aus von Anfang an die Idee, Musik zu machen?
Ich habe bei jeder Gelegenheit gesungen. Zum Beispiel bei den Atommusikanten auf Demos. Da war ich kein offizielles Mitglied, aber habe mich einfach dazugestellt und mitgegrölt.

Wer hatte die Idee zu eurem Namen? Und was bedeutet er für dich?
Die Idee kam von Renate, der Bassistin von HANS-A-PLAST, mit der ich zusammengewohnt habe. Sie nannte mich so, als ich morgens verkatert an den Frühstückstisch geschlurft kam. Die anderen HANS-A-PLAST-Mitglieder beömmelten sich – „und dann sind die Jungs die Milchbubis, hahaha“. Schon in der Situation war mir das peinlich, aber aus der Nummer kamen wir nicht mehr raus. Ich hätte lieber einen richtigen Punk-Namen gehabt.

Welche Einflüsse hattet ihr?
BLONDIE haben wir alle verehrt. Alles, was einem irgendjemand auf einem Tape zusammenkopiert hat. Dass wir CURE mochten, hört man bei „Tiefseefisch“ ziemlich deutlich.

Wo habt ihr geprobt – und wie oft?
Die Milchbubis hatten vorher schon eine Band, TBC, und probten in einer Garage, die Andreas’ Eltern gehörte. Dann erbten wir von HANS-A-PLAST einen Übungsraum in einem Bunker. Dort probten wir einmal die Woche. Hinterher gingen wir zu McDonald’s und ich nahm sehr schnell zu.

Wie sah die Punk-Szene in Hannover aus? Gab es ein Autonomes Zentrum, die Möglichkeit, selbst Konzerte zu organisieren? Gab es wie später auch verschiedene „Szenen“?
Es gab das UJZ Kornstraße und das UJZ Glocksee, in dem auch das erste Punk-Festival, das Hollow Skai organisierte, stattfand. Ich kannte die Bands um No Fun Records und die Szene um die Band BLITZKRIEG, die uns „Studi“-Punks verachteten, aber mir trotzdem Tipps gaben, wie man die Haare abstehend bekommt. Wahrscheinlich gab es auch noch mehr Gruppen.

Exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum – war das der Grund für euren Song „Jung kaputt spart Altersheime“?
Alkohol war ein sehr großes Thema bei mir. Mit HANS-A-PLAST traf man sich jeden Abend im Fillmore List und betrank sich. Es gab dort die ersten Videospielgeräte. Während ich mein ganzes Geld versoff und überlegte, in wen ich verliebt sei, spielten die Milchbubis das Videospiel „Missile Command“.

Konntet ihr ahnen, dass ihr mit „Jung kaputt spart Altersheime“ praktisch einen Lebensentwurf für nachfolgende Punk-Generationen formuliert habt? Selbst A.M. Music hat in den Neunziger Jahren ein T-Shirt mit dem Slogan gemacht ...
Ich hatte nie das Gefühl, dass wir irgendetwas machen, was zu der Zeit oder in Zukunft eine Bedeutung haben würde.

Wie ist der Kontakt zu No Fun zustande gekommen? Wie hast du die Aufnahmen zu euren Platten in Erinnerung? Wie war der Zusammenhalt unter den No Fun Bands? Ihr wart 1981 mit allen No Fun Bands auf der „Jubel 81“ Tour ...
Die hannoversche Szene war sehr überschaubar und beschränkte sich auf wenige Kneipen. Ich war auf Wohnungssuche und durfte kurzfristig bei der hannoverschen Lesbenband UNTERROCK wohnen. Die kannten die WG von HANS-A-PLAST und haben mich dahin vermittelt. Die beiden Gitarristen Micha und Jens waren die Mitgründer von No Fun Records, das war alles sehr dicht beieinander. Der Zusammenhalt der No Fun-Bands war sehr groß. Wir haben ein Konzert mit den 39 CLOCKS gemacht, da haben sie unsere Stücke gespielt und wir deren. Davon waren wir so begeistert, dass wir das 39 CLOCKS-Stück „DNS“ für den Sampler mit David Volksmund, unter anderem TON STEINE SCHERBEN, aufgenommen haben. Auch mit den CRETINS haben wir viel abgehangen. Und wenn jemand einen Auftritt angeboten bekam, hat man gefragt, ob man eine Vorgruppe mitbringen darf. So haben wir oft HANS-A-PLAST oder DER MODERNE MAN supportet.

Im Interview anlässlich der 2. Münchener Rocktage sagtet ihr, dass man euch nach nur drei Wochen Bandexistenz unter einem Vorwand ins Studio gelockt hat, um dort eure erste EP einzuspielen. Was ist da dran?
Nach den ersten Proben trafen wir uns immer im Fillmore List und haben dort vorgespielt, was wir gemacht haben. Das fanden Micha und Jens von No Fun wohl ganz witzig. Wie die auf den Termin gekommen sind, ob zufällig was in der Tonkooperative an dem Tag frei war – keine Ahnung. Wir waren natürlich sehr unsicher und aufgeregt. Als für den Chor alle Freunde ins Studio kamen, habe ich mich einfach nur gefreut.

Welche Aktionen, Peinlichkeiten, Konzerte sind dir in besonderer Erinnerung geblieben?
Bereits unser erster Auftritt im Bebop in Hildesheim war peinlich. Ich war so aufgeregt, dass ich nichts essen konnte und trank zur Beruhigung Jägermeister. Wegen der magenberuhigenden Kräuter. Micha sollte mir ein Zeichen geben, falls ich peinlich wäre. Ich war aber irgendwann so gut drauf, dass ich gar nicht mehr von der Bühne wollte, und mich wunderte, was er da am Mischpult wedelte. Irgendwann zog er mich von der Bühne. Ich war fassungslos, weil ich doch gerade so in Fahrt war, aber er erklärte mir, dass das Mikro schon lange aus war, weil ich so einen Scheiß von mir gegeben hätte. Danach bin ich nur noch nüchtern auf die Bühne. Aber habe mich hinterher so abgeschossen, dass mich die Jungs oft suchen mussten, weil ich unter irgendeiner Bank lag. Erst vor zwei Jahren, als ich mit dem Metal Chor in Wacken aufgetreten bin, habe ich gelernt, dass man auch eine halbe Stunde nach dem Auftritt noch nicht trinken darf. Wegen des Adrenalinpegels. Das funktioniert.

Habt ihr oft in anderen Städten gespielt? Wie wurden die Konzerte in einer Zeit ohne Internet organisiert?
No Fun Records hatte einen Typen, der das organisiert hat. Manche Veranstalter haben uns auch direkt angefragt oder eine befreundete Band hat uns mitgenommen. So viel konnten wir nicht auftreten, weil die Milchbubis noch zur Schule gingen.

Eure Texte waren schon etwas Besonderes. Neben Songs wie „Sid klebt“ oder „Pogo liebt dich“ gab es Songs wie „Tiefseefisch“, „Muskeln“ oder „Schweinekram“. Woher nahmt ihr die Ideen? Gibt es Stücke, die du so heute nicht mehr schreiben oder auch spielen würdest?
„Seh ich einen schönen Mann, denk ich nur an Schweinekram“ oder „Wir trafen uns das erste Mal besoffen unterm gleichen Tisch“ – das war meine Realität. Entgrenzung und Ekstase. Ich hätte gern abstraktere Texte gemacht. Wie „Es brennt“ von HANS-A-PLAST. Oder etwas Politisches wie „Schrei nach Liebe“ von DIE ÄRZTE. Mir fiel aber nichts ein.

Hast du das Gefühl, dass eure Texte immer noch aktuell sind?
Für die Auftritte, die 2020 geplant waren, haben wir gemerkt, dass wir einiges nicht mehr spielen mögen. Die neueren Stücke sind mir zu verkrampft und bemüht. Die ersten Sachen, zum Teil noch von unserem alten Bassisten Fuhsi, haben mehr Wumms. Die machen Freude. Mir war es damals – und zuerst auch jetzt – unangenehm, die so laut zu singen, wie „Ich bin so einsam!“ bei „Superfrau“. Aber es ist so, ich fühle mich oft einsam. Und mittlerweile weiß ich, dass es vielen so geht. Und dann finde ich es mutig und tröstlich.

Ihr habt bei dem Film „Deutsche Welle“ von Michael Bentele mitgemacht, wie unter anderem ÖSTRO 430. Wie ist es dazu gekommen? Habt ihr euch selbst als Teil der NDW, die ja schnell kommerzialisiert wurde, betrachtet?
Der Film „Deutsche Welle“ ist der zweite Übungsfilm an der Filmhochschule München von Michael gewesen. Er hatte schon früh das Potenzial von Musikvideos erkannt. Später wurde er Regisseur der Musiksendung „Formel Eins“. Ein Freund von ihm, der auch die Kamera gemacht hat, hatte uns bei der „Jubel 81“-Tour gesehen und angesprochen. Wir haben uns nicht als Teil der NDW gesehen. Und wollten auch nicht dazugehören. Wir wollten auch nicht berühmt und zum Beispiel Hauptact werden. Wir wollten gern die lustige Vorgruppe sein, die keine große Verantwortung für den Abend und die Zufriedenheit der Leute hat.

„Hardcore Pop für Fortgeschrittene“ oder „Pogo mit menschlichen Antlitz“ – was ist deiner Meinung nach die treffendste Bezeichnung für euch?
Ich mag beide Bezeichnungen. „Hardcore Pop für Fortgeschrittene“ finde ich ein bisschen cooler. Weil es impliziert, dass man noch zu den Anfängern gehört, wenn man uns nicht mag.

Ihr wart mehrfach in der Bravo, die Spex hat euch gefeiert, ihr seid im Fernsehen bei „Bananas“ aufgetreten und selbst die Emma fand lobende Worte. Wie reagierte die Punk-Szene? Gab es Kommerzvorwürfe?
Die Spex hat uns nicht gefeiert. „Ihr Auftritt ist wie ein langgezogenes Kaugummi“ oder so, schrieben sie. Wir sind schon ziemlich viel gedisst worden. Auch im Sounds. Wenn jemand uns blöd fand, hat mich das total getroffen. Ich wollte jedes Mal sofort alles hinschmeißen. Als wir die EP aufgenommen haben, war ich 19, die Jungs 17 und 18. Kai, der später dazukam, war 16. Wir waren echt noch sehr unsicher. Nach einem Auftritt in Berlin, bei dem Micha von HANS-A-PLAST meinte, ich wäre soooo peinlich gewesen, habe ich mich auf dem Klo stundenlang eingeschlossen. Ein paar Nasen vom Österreichischen Rundfunk wollten ausprobieren, ob sie es schaffen, einen Hit zu machen. Dafür hatten sie sich ausgerechnet „Muskeln“ von unserer LP ausgesucht und spielten das in ihren Sendungen rauf und runter. Daraufhin fragte das österreichische Schallter-Label, ob sie das Stück als Single-Auskopplung rausbringen dürfen. Durch deren Kontakte kamen wir zu „Bananas“ und in die Bravo. Die waren ja alle komplett überrumpelt von Punk und hatten Angst, dass der Kuchen ohne sie verputzt wird. Wir haben einiges staunend mitgemacht, anderes abgelehnt, weil wir die Leute doof fanden oder uns überfordert fühlten.

In eurem Song „Teddyboy“ singt ihr: „Er ist zwar nur ein Ted, doch er ist trotzdem nett“. Gab es auch in Hannover Stress mit den Teds wie in Hamburg oder mit anderen Gruppen?
Ehrlich gesagt nein. Das kannten wir nur aus Zeitungen und Filmen wie „Quadrophenia“ oder „The Warriors“, der uns sehr beeindruckt hat. Da wir selber aktiv in der Anti-Atom-Bewegung waren, auf Frauenfesten tanzten und die netten Freaks aus dem Unabhängigen Jugendzentrum Kornstraße uns auftreten ließen, hatten wir keinen Grund, Leute, die keinen Punk mochten, zu dissen. Zum Glück waren Glatzen noch nicht so sichtbar. Das kam erst ein paar Jahre später. Ich erinnere mich noch an Konzerte von DIE TOTEN HOSEN, auf denen Jäki Eldorado, der Tourmanager, immer reihenweise Naziprolls rausschmeißen musste. Da werden andere bessere Geschichten zu erzählen haben.

Was führte 1983 zur Trennung der Band?
Da gab es viele Gründe. Musikalisch waren wir orientierungslos. Die Szene hatte sich verändert. Die Leichtigkeit, das Anarchische waren weg und Rudolf, unser Gitarrist, wollte nur noch einen Ton spielen. Er beschäftigte sich mit Quantenphysik und meinte, alles sei in einem Ton enthalten.

Im Rückblick, wie war es für dich, in den Achtzigern in einer Punkband gespielt zu haben?
Es war toll, eine Band gehabt zu haben. Das wünsche ich jedem Teenager. Und Punk war ideal, da es keine großen Ansprüche stellt. Einfach alles raushauen. Sich der Energie überlassen. Man musste noch nicht mal tanzen können oder gut aussehen.

Welche Rereleases gibt es von deiner Band? Und wie sind die zustande gekommen?
Gutfeeling Records aus München hat die LP wieder rausgebracht. Die haben einfach gefragt. Wir haben die Leute mittlerweile kennen gelernt und mögen die sehr. Höhnie Records hat die EP wieder aufgelegt. Unser ehemaliger Bassist Fuhsi arbeitet für Höhnie. So kam der Kontakt.

Ihr solltet schon 2020 auf dem Höhnie Festival in Peine spielen. Gibt es also eine Reunion?
Reunion ist so ein großes Wort. Nach dem erfolgreichen Auftritt von DER MODERNE MAN am 31. Mai 2019 im Hafenklang hatten wir auch Lust, wieder auf die Bretter zu steigen. Außerdem waren BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS-Fans aus Halle auf dem Konzert und fragten uns, ob wir nicht Lust hätten, auf ihrem Festival zu spielen. Das hat uns so mitgerissen, dass wir dachten, warum eigentlich nicht. Andreas am Schlagzeug und Kai am Bass sind dabei. Rudolf, unser Gitarrist, lebt in Innsbruck. Das macht das Proben schwierig. Und die BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS-Zeit ist für ihn auch abgeschlossen. Dafür spiele ich jetzt Gitarre.

Heute wird der Status von Musikerinnen stark diskutiert. Wie männlich/machistisch oder emanzipatorisch hast du die damalige Szene wahrgenommen?
Die Siebziger waren allgemein eine große emanzipatorische Zeit. Zuerst die Frauenbewegung, dann die Lesben- und Schwulenbewegung. Ich dachte, mit den Themen sind wir durch, denn für mich war es völlig normal, dass Frauen auf der Bühne genauso abliefern können wie Männer. HANS-A-PLAST waren ja ein gutes Beispiel. ÖSTRO 430 waren der Knaller. Es gab auch international super Bands wie die SLITS, SIOUXSIE AND THE BANSHEES, X-RAY SPEX, zu deren Musik wir tanzten und die wir auf der Bühne abfeierten. Konkurrenz habe ich eher zwischen den Städten empfunden. Als hannoversche Band konnte man in Hamburg nicht auftreten. Aber das ist ja auch mittlerweile vorbei. Oder?

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Pogo mit menschlichem Antlitz
Auf der ersten Single von BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS war auch ich zu hören. Als Labelchef von No Fun Records grölte ich im Chor „Jung kaputt spart Altersheime“ mit, und da ich gesanglich immer etwas hinterherhing, kann man mich sogar raushören. Dass der Song, dessen Titel schon bald zum geflügelten Wort wurde, die damalige Emma-Autorin und spätere Chefredakteurin des WDR, Sonia Seymour Mikich, mitschunkeln ließ, war aber nicht mein Verdienst, sondern allein das einer Band, die ihren Namen zu Recht trug.
In die damals entstehende Punk-Szene passten sie irgendwie gar nicht, trotzdem wurden sie von allen akzeptiert. HANS-A-PLAST fanden BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS ebenso niedlich wie die 39 CLOCKS. Und der Sounds-Redakteur Diedrich Diederichsen reiste sogar extra zu einem ihrer Auftritte in einem Gymnasium an und lobte ihren „Pogo mit menschlichem Antlitz“ und diese „typische Mischung aus Akne und Weisheit, abgeklärtem Fun und adoleszenter Verwirrung“. Diederichsen war überzeugt, dass „ihr Verzicht auf jede Finesse“ und „ihre gebirgsquellklare Pop-Ausrichtung von geradezu ekstatischer Einfachheit“ nicht nur hierzulande absolut originell waren. „Gerade heute, wo alle Punks Funk und alle Hippies Untergang- und Elektronik-Lärm“ machten, fand er es schön, „dass jemand Unschuld mit Stil und cleverer Selbstinszenierung“ verband. Allerdings war er sich auch nicht sicher, „ob dieses spezifische Hannoveraner Talent, treffsichere Pop-Melodien nicht mit angelesenen Ansprüchen zu überfrachten, sondern auf die eigene, direkte, mitunter auch peinlich direkte Ausstrahlung zu vertrauen, sich anderswo durchsetzen“ würde. „Dabei könnten wir Images, Selbstdarstellung und Mini-Mythen wirklich dringend brauchen, um den schmalen Grat zwischen NICHTS, 999, FEHLFARBEN und Kim Wilde wieder begehbar zu machen.“
Weil sie es doof fanden, ihre Gemeinschaftskunde- und Kunstlehrer duzen zu müssen, hatten sich die Milchbubis anfangs gesiezt. Und weil jede Band nur eine Diva verkraftet, waren die Sängerin Bärchen und der Bassist Fusi auf einer Party aneinandergeraten. „Schlag mich doch“, hatte Fusi da gebrüllt, und Bärchen hatte geantwortet: „Das geht ja nicht, du trägst ja eine Brille.“ Woraufhin Fusi die Brille abnahm, sich prompt eine einfing und kurz darauf durch Kai Nungesser ersetzt wurde.
Schon sehr früh hatte Bärchen alias Annette Grotkasten (heute Simons) erkannt, dass in Hannover so wenig los war, dass „man sich die Musik selber machen“ musste. Eine Zeit lang ging das auch ziemlich gut. Andreas Kühne, ihr Schlagzeuger, bastelte eine Rhythmusmaschine, die nur funktionierte, wenn sie mit einer ganz bestimmten Marmeladensorte gefüttert wurde. Ihr Album „Dann macht es Bumm“ verkaufte sich viel besser als die Debüt-LP der 39 CLOCKS. Und eine „richtige“ Plattenfirma, die Ariola, koppelte sogar eine Single daraus aus. Doch dann weigerte sich der Gitarrist Rudolf Grimm, mehr als einen Ton pro Song zu spielen, so dass irgendwann Schluss war mit lustig.
Heute macht Grimm, der einen Lehrstuhl für Kälteforschung an der Universität Innsbruck innehat, „unregelmäßigen optischen Teilchen“ nachspürt und von der New York Times zu den zehn wichtigsten Wissenschaftlern der Welt gezählt wurde, im Prinzip nichts anderes: Er isoliert einzelne Atome, bremst sie bis zur Bewegungslosigkeit aus, um sie sortieren zu können, und reduziert so alles auf das Wesentliche.
Dass ausgerechnet BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS 35 Jahre nach der Veröffentlichung ihres einzigen Albums das Cover der amerikanischen Punkrock-Bibel Maximumrocknroll zieren würden, das Münchener Label Gutfeelings Records die Platte auf extradickem Vinyl wiederveröffentlichen und Tapete Records nun ihr Gesamtwerk unter dem Titel „Endlich komplett betrunken“ herausbringen würde, hätte ich jedenfalls nie gedacht, als ich damals versuchte, mit dem No-Fun-Chor Schritt zu halten. Aber so ist das nun mal im Leben: Anfangs weiß man nie, ob ein Song nur für 15 Minuten ein Hit oder zum Evergreen wird.
Hollow Skai

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Diskografie
„Jung kaputt spart Altersheime“ (7“, No Fun, 1980, Rerelease: 12“, Höhnie, 2017) • „Dann macht es Bumm“ (LP, No Fun, 1981, Rerelease: LP, Gutfeeling, 2015) • „Muskeln“ (7“, Schallter, 1982) • „Schatzgräber“ (MC, All Roads Lead To Beatown, 1987)