CASINO BLACKOUT

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Raus aus dem Keller, rein in den Hinterhof

Am Anfang stand der Punk und wurde subsummiert unter dem passenden Titel „Punkrocktape“. Es folgte die Unsicherheit, ob es auch anders gehen kann, anders gehen darf und trug den ebenfalls bedeutungsschwangeren Namen „Fragment“. Jetzt sind CASINO BLACKOUT bei der „Hinterhof Poesie“ angelangt – ein Kontrast wie der zwischen Tag und Nacht. Das dritte Album der Band aus dem Süden Deutschlands klingt so abwechslungsreich wie keines zuvor. Punk ist nurmehr Facette. Er steht gleichberechtigt zwischen Indie, Alternative, Electro, Pop. Das wirft natürlich Fragen auf. Und Frontmann Flo hat sich ihnen gestellt.

Flo, ihr habt das neue Album nicht im Studio, sondern in einem Kellerraum aufgenommen. So was kennt man von Bruce Springsteen in den Achtzigern, als er „Nebraska“ angeblich in einer Holzhütte mit einem Vierspur-Recorder einspielte. Nicht aber aus der, nun, Moderne, in der das Studio ein heiliger Ort ist. Also wieso ein Keller?

Als Anfang 2020 langsam klar wurde, was die Pandemie für Ausmaße annehmen würde, blieben wir davon natürlich auch nicht verschont. Wir mussten dreimal unseren Studiotermin verschieben. Irgendwann entschied ich mich dann aus der Notlage heraus, eine alte Waschküche im Keller zu räumen und für die Aufnahmen herzurichten. Und im Nachhinein war das sogar die beste und wichtigste Entscheidung – weil ich nämlich endlich die Zeit hatte, quasi unbegrenzt herumprobieren zu können. Ich konnte mit Sounds und Vocals experimentieren, Gitarreneffekte basteln. Alles, was ich während einer teuren und begrenzten Studiozeit nie hätte umsetzen können. Nur für die Schlagzeug-Aufnahmen konnten wir dann zum Glück einen Studiotermin klarmachen. Das war uns sehr wichtig. Dafür wollten wir einfach einen speziellen Raum und Platz zum Ausprobieren haben. Beim Schlagzeug kommt es nämlich erfahrungsgemäß gerne mal vor, dass Micha Czernicki, unser Produzent, bei der Aufnahme ausweicht und mitunter sogar ein Mikrofon ins Klo stellt, nur um diesen ganz „besonderen Raum“ und seinen Klang einzufangen. „Nur für den Fall“, wie er immer sagt.

Ist diesem Umzug in den Keller auch der Titel „Hinterhof Poesie“ entsprungen? Keller und Hinterhof – das ist ja beides ein bisschen abseitig.
Nein. Ich glaube, der Titel stand schon etwas länger fest. Mir gefiel daran einfach, dass er wie eine große Headline das Album beschreibt. Außerdem mag ich diese Gegensätzlichkeit: Die Schönheit des Unperfekten quasi.

Hinterhof gleich Gerümpel und Schmutz, Poesie gleich schön?
Genau. Und das Cover beschreibt das ja auch ganz gut. Als ich den abgebildeten Innenhof bei einer Reise entdeckte, war mir sofort klar: Das ist es! Dieses Bild bringt es auf den Punkt! So wird das Artwork der Platte aussehen!

Wenn Keller und Hinterhof so gute Dienste leisten, warum gehen Bands dann überhaupt noch ins Studio und zahlen viel Geld dafür?
Haha, ich glaube schon, dass Studios noch eine Daseinsberechtigung haben. Klar, man kann inzwischen echt viel im Homestudio machen. Und daheim aufgenommene Demos klingen zum Teil besser als irgendwelche alten im Studio aufgenommenen Alben, die wir früher abgefeiert haben. Aber es gibt eben schon Momente, in denen man um ein Studio und einen Produzenten einfach nicht herumkommt. Wenn man einen gewissen Sound haben möchte – wie zum Beispiel in unserem Fall eben die Drums. Wir wollten genau diesen Raum, diese Mikrofone, dieses Studioequipment. Genauso wie wir Micha als Produzent wollten, um das Schlagzeug so „groß“ klingen zu lassen, wie es nun klingt. Das hängt natürlich alles auch vom Geschmack ab. Viele gehen ja auch ins Studio, um den Vibe dort mitzunehmen und gegebenenfalls einen Produzenten vor Ort zu haben, der einen immer weiter pusht und das Beste aus einem rausholt.

Was auffällt, auf dem Album sind sehr viele musikalische Facetten zu hören. Mitunter sogar erstaunliche. Der Opener etwa könnte auch von BRING ME THE HORIZON stammen. Was ist da passiert?
Mehr Zeit zum Experimentieren ist auf jeden Fall ein Grund für diese Abwechslung. Aber ich glaube, auch so hätte sich auf „Hinterhof Poesie“ das fortgesetzt, was sich auf unserem zweiten Album „Fragment“ bereits ankündigte. Dieses Weitergehen. Bei Songs wie „Gut genug“ oder „Bestehen bleiben“ hörte man ja bereits diese Entwicklung. Wobei es nun nicht das Ziel war zu sagen: Auf die neue Platte müssen so viele unterschiedliche Songs wie möglich drauf. Wenn du so an diese Sache herangehst, läufst du nämlich Gefahr, dass am Ende alles sehr gezwungen wirkt.

Also hat sich das alles zufällig ergeben?
Ich finde, dass „Hinterhof Poesie“ einfach diese breite musikalische Sprache braucht, um die unterschiedlichen Themen zu transportieren. „Anti-Ich“ muss einfach diesen Edgy-Charme haben, um zu funktionieren, „Hinterhof Poesie“ hingegen hat mit seinem E-Drum-Beat und begleitet von breit hallenden Gitarrentönen eine große bildhafte Wirkung.

Du weißt, derlei Veränderungen bedeuten im Genre Punk nicht selten Zeter und Mordio ...
Ja, aber ich mag diese Bandbreite sehr, auch bei anderen Bands. Es ist doch schön, wenn man so ein Album entdecken kann und überrascht wird. Ich möchte jedenfalls kein Album aufnehmen, das zehnmal den gleichen Track enthält.

Wie weit kann man die Experimentierschraube drehen?
Erst mal sollte man sich natürlich selbst wohl fühlen mit dem, was man erschaffen hat. Das klingt wie eine Floskel, aber es ist doch so! Ich kann doch nicht jahrelang stillstehen nur aus Angst vor Veränderung oder der Sorge, dass es jemandem nicht gefällt. Ich finde, da sollte es keine Grenzen geben. Dieses starre Genredenken interessiert mich heute nicht mehr so sehr, wie noch vor ein paar Jahren.

Der Albumtitel und die in den Songs behandelten Themen stehen ja so ein bisschen im Gegensatz zueinander. Die große Welt und ihre hässliche Fratze auf der einen und die intime Enge des kleinbürgerlichen Hinterhofs auf der anderen Seite. Normalerweise wird das ja eher aufeinander abgestimmt.
Ja, und das ist tatsächlich etwas, mit dem ich mich sehr intensiv bei der Entstehung des Albums befasst habe. Denn normalerweise fällt es mir tatsächlich nicht so leicht, über solche großen globalen Zerwürfnisse im CASINO-BLACKOUT-Duktus zu schreiben. Ich finde, es braucht für solche Songs einen sehr direkten Schreibstil ohne viele Metaebenen. Die Botschaft muss ohne Interpretationsspielraum unmissverständlich ankommen. Bei diesem Album habe ich aber gespürt, dass sich ein persönlicher – vielleicht auch therapeutischer – Schreibstil und ein weltpolitisches Thema nicht ausschließen müssen.

Weil dich das große Ganze da draußen innerlich so aufwühlt?
Genau. Wenn mir etwas so nahegeht, dass ich es erst verarbeiten muss, dann wird es ja sowieso ein Teil von mir. Dieses Bild des Gegensatzes und der Abhängigkeit voneinander kann man also ganz gut auch auf den Gegensatz zwischen Albumtitel und Songthemen übertragen.

Kann – oder muss sogar – die große „Revolution“ aus dem Hinterhof, dem Kleinen, dem privaten Kosmos herauskommen?
Man sagt ja immer so schön: Jeder kann seinen Teil dazu beitragen. Das stimmt natürlich. Und es ist sehr wichtig, auch das Gefühl einer gewissen Verantwortung dieser Welt und seinen Mitmenschen gegenüber zu haben. Allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Man kann nicht die komplette Verantwortung auf das Individuum abwälzen. Ich fürchte dafür sind viele Themen einfach zu komplex. Nur wenn Dinge schieflaufen oder wir in voller Fahrt auf eine Katastrophe zusteuern ...

Davon gibt es ja leider genug: Klimakrise, der Krieg in der Ukraine ...
Genau. Jedenfalls ist es dann schon wichtig, seine Stimme zu nutzen und für eine bessere und gerechtere Welt zu kämpfen.

Wo steht „Hinterhof Poesie“ in der Diskografie der Band?
Ganz klar: Weiterentwicklung! Ich habe auf jeden Fall das Gefühl, dass wir mit diesem Album den Mut gefunden haben, zu uns selbst zu stehen. Ich glaube, es gibt viele Bands, die den klassischen deutschsprachigen Punkrock – wie er eben zum Großteil auf unserem ersten Album zu hören ist – sehr gut bedienen. Jetzt fühlt es sich so an, als ob wir uns freigeschwommen haben und CASINO BLACKOUT frischer, moderner und spannender klingen als je zuvor. Daher wird das Album ganz bestimmt einen ganz besonderen Platz in der Diskografie einnehmen. Hinsichtlich der musikalischen Entwicklung würde ich sagen, ist es das wichtigste Album der Band. Damit haben wir uns jetzt selbst einige Türen geöffnet, an die wir uns früher nicht herangetraut hätten.