Der Kanon des guten Geschmacks

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10 empfehlenswerte US-Crossover-Alben der Achtziger

„Crossover“ bedeutet seit den Neunzigern alles und nichts: Funk, Rap, Industrial, Electro/EBM wurden mit Rock/Metal/Punk/Hardcore mehr oder weniger innovativ gemixt. Der Begriff stammt aber aus den Achtzigern und stand für eine Reihe von Bands, die – meist aus dem Hardcore-Punk kommend – ihren Sound mit der damals immer populärer werdenden Thrash-Metal-Welle verschmolzen.

SUICIDAL TENDENCIES „s/t“

(LP, Frontier, 1983)
Das noch deutlich mehr als alle späteren Platten im Punk verwurzelte Debüt der Venice Beach/L.A.-Truppe nahm bereits 1983 alles vorweg, was später viele Nachahmer finden sollte: Drei-Akkorde-Hardcore und -Punk wechselte mit Rock- und Metal-Riffs. Zusammen mit dem unverwechselbaren (Sprech-)Gesang von Bandleader Mike Muir ergab das eine nie zuvor gehörte Mischung, die schnell weltweit Furore machte. Das Skater-Image und die trotz aller Härte immer gegenwärtige kalifornische Leichtigkeit machen die Sensation perfekt! Und: Selten wurden die Sorgen und Nöte von Heranwachsenden in treffendere Zeilen verpackt als in „Institutionalized“. Ab dem zweiten Album um den Hit „Possessed to skate“ sorgte dann Gitarrist Rocky George (heute CRO-MAGS) für den immer größer werdenden Metal-Faktor.

D.R.I. „Dealing With It!“
(LP, Death/Enigma/Armageddon, 1985)
Nach einer noch deutlich im US-Hardcore verwurzelten EP und einer 7“ voller Highspeed-Granaten erschien 1985 das erste Album „Dealing With It!“ der vier aus San Francisco um Sänger Kurt Brecht. Hier wurden die gewohnt kurzen, schnellen Hardcore-Eruptionen aber erstmals in dieser Form von Metal-Riffs und Soli (!) unterbrochen. Das ikonische Logo mit dem pogenden Männlein auf dem Backcover ging um die Welt. Mit dem zweiten Album „Crossover“ wurden die Songs länger und der Thrash-Faktor deutlich höher. Der Albumtitel gab der aufkommenden Welle ihren Namen und zusammen mit ST und S.O.D. bildeten sie die Trinität des neuen Sounds.

S.O.D. „Speak English Or Die“
(LP, Megaforce/Roadrunner, 1985)
ANTHRAX stehen seit locker drei Dekaden für vieles, was man am Metal lächerlich finden kann. 1985 aber waren sie jung, hungrig, innovativ und wichtig! Sie brachten den Fun-Faktor in den Thrash: Pogen hieß seitdem „moshen“ und kurze Hosen waren plötzlich kein Tabu mehr! In Feierlaune und quasi nebenbei gründeten die beiden Bandleader Gitarrist Ian und Drummer Charlie zusammen mit ihrem Ex-Bassisten Danny Lilker (NUCLEAR ASSAULT, später BRUTAL TRUTH) und Roadie Billy Milano am Mikro das Projekt S.O.D. (STORMTROOPERS OF DEATH). Mit der Präzision eines Maschinengewehrs hämmerten sie in kürzester Zeit, aber mit Top-Soundqualität ein Album ein, das sofort weltweit wie eine Bombe einschlug. Die äußerst provokanten Texte wurden zu Recht kontrovers diskutiert, zumal Mr. Milano (später M.O.D.) sich auch privat als reaktionärer Sack entpuppte. Musikalisch ist die Wirkung indes bis heute nicht verpufft. Macht mal den Test und spielt auf einer Party die ersten Sekunden des Openers „March of the S.O.D.“ an!

ATTITUDE ADJUSTMENT „American Paranoia“
(LP, Pusmort, 1985)
ATTITUDE ADJUSTMENT kamen wie D.R.I. ebenfalls aus San Francisco und standen wie später auch CLOWN ALLEY für den (Crossover-)Sound der Stadt: hektische, ein- bis zweiminütige Hardcore-Eruptionen, viele Breaks mit Metal-Riffs, sozialkritische Texte. Mit Andy Anderson hatten sie zudem einen auffällig charismatischen Sänger. „American Paranoia“ ist ein zeitloser Klassiker, absolut auf Augenhöhe mit „Dealing With It!“. Allerdings blieb es ein „One-Hit-Wonder“ und erst 1991 gab es ein neues Album, leider ohne Andy Anderson. Der machte unter anderem als ATTITUDE auf dem deutschen We Bite-Label weiter, konnte aber nicht überzeugen.

THE ACCÜSED „The Return Of Martha Splatterhead“
(LP, Combat/Earache, 1986)
1986 wurden vier junge Metal-Punks in Seattle von Zombies entführt, mit Amphetaminen vollgepumpt und in ein Aufnahmestudio gezerrt. Mit maximal möglicher Verzerrung jagte Gitarrist Tom tagelang rasend schnelle EXODUS-, Early-METALLICA- und Hardcore-Riffs durch seine Marshalls. Der völlig entfesselte Drummer und ein ebenfalls bis zum Anschlag verzerrter Bass ließen konstant die Wände vibrieren. Und egal, wo später im heimischen Wohnzimmer die Nadel aufsetzte, nie zuvor hatte ein Sänger wie Blaine dazu so angepisst in sein Mikro gefaucht. „Splatter-Rock“ war geboren! THE ACCÜSED waren der asoziale kleine Bruder des Bay-Area-Thrash und zumindest für meine Wenigkeit das absolute Maß aller Dinge!

CLOWN ALLEY „Circus Of Chaos“
(LP, Alchemy, 1986)
Da war mehr drin: „Circus Of Chaos“ ist ein veritabler Volltreffer, blieb aber leider das einzige Album der Band aus San Francisco. Ihr Sound war deutlich von der SF-Crossover-Variante ihrer Nachbarn D.R.I. und ATTITUDE ADJUSTMENT geprägt. Besonders aber in den langsameren Parts erweiterten sie es um eine sehr markante psychedelische Note, die man bislang nur von den DEAD KENNEDYS kannte. Gossip fact: den Bass bediente Lori „Lorax“ Black (später bei den MELVINS), die Tochter von Hollywood-Kinderstar Shirley Temple. Gitarrist Mark Deutrom produzierte das Album nicht nur, sondern veröffentlichte es auch auf seinem seinerzeit recht einflussreichen Label Alchemy Records. Dort hatten immerhin MELVINS, NEUROSIS, POISON IDEA, SACRILEGE B.C. und RKL ihre Duftmarken hinterlassen!

EXCEL „Split Image“
(LP, Suicidal, 1987)
Vier Kids aus Venice Beach/L.A. tragen Bandanas, skaten, veröffentlichen auf einem Label namens Suicidal Records und als „executive producer“ wird ein gewisser Mike Muir genannt. Klingelt’s? Im Fahrwasser der mittlerweile zu Szene-Stars avancierten SUICIDAL TENDENCIES betreten hier die neuen Helden des Cali-Skatecore die Bühne. Sogar der Gesang von Sänger Dan ist an den eigenwilligen Stil seines Mentors Mr. Muir angelehnt, aber EXCEL spielen ihre eigene Version des L.A.-Crossover: die Songs sind deutlich flotter und härter als die ihrer Vorbilder ST.

GANG GREEN „You Got It“
(LP, Roadrunner, 1987)
Boston 1985. Nachdem er mit JERRY’S KIDS das US-Hardcore-Kult-Album „Is This My World?“ veröffentlicht hat, reanimiert Gitarrist Chris Doherty sein altes Baby GANG GREEN. Der ruppige Hardcore-Punk wird nun allerdings um eine zukünftig immer dominanter werdende Prise Punk’n’Roll angereichert. Die Botschaft: Skaten, Bier, Party, Saufen! Ihr Debüt „Another Wasted Night“ (1986) auf dem Bostoner Label Taang! punktete dann auch mit ihrem ewigen Hit „Alcohol“ und der Zeile „... I’d rather drink than fuck!“ (sic!). Mit „You Got It“ vollendeten sie ihren Trademark-Sound und lieferten Hit an Hit! Bis heute ist das die ultimative Party-Platte und Blaupause für ZEKE und viele andere.

WEHRMACHT „Biermächt“
(LP, Shark, 1988)
Schnell, schneller ... WEHRMACHT. Als die Crossover-Welle 1987 bereits auf ihren Höhepunkt zusteuerte, setzte die Spaß-Truppe aus Portland, Oregon mit ihrem Debüt „Shark Attack“ in Sachen Geschwindigkeit noch einen drauf: derart heftige Highspeed-Granaten ließen selbst CRYPTIC SLAUGHTER alt aussehen und waren manchem schon zu viel des „Guten“. Von den meisten wurden sie aber natürlich genau dafür abgefeiert, zumal augenzwinkernde Texte übers Saufen, Kotzen, Sex haben wollen und ... äh, Biertrinken bei den halbwüchsigen Metal-Punx super ankamen. Nur ein Jahr später, auf dem zweiten Album „Biermächt“ (kannten die etwa die „Werner“-Comics?!) perfektionierten sie ihren sogenannten „Beercore“: besserer Sound, lustigeres Cover und etwas mehr Abwechslung beim Tempo. Klassiker! Über den provokanten Bandnamen müssen wir als politisch korrekte Menschen diversen Geschlechts bitte so viele Jahre später nun wirklich nicht mehr diskutieren.

CRO-MAGS „Best Wishes“
(CD, Profile, 1989)
Über die Bedeutung der CRO-MAGS ließen sich ganze Bücher füllen. Und ja, ihr Debüt „Age Of Quarrel“ ist bis heute der große Meilenstein des (NY)HC. In Sachen Crossover hat das zweite Album ohne John Joseph jedoch die Nase vorn: keines der hier genannten Alben hat sich auf der Basis von Hardcore so extrem einer (Thrash-)Metal-Gitarre bedient wie dieses. Der Gesang von Bassist und Bandleader Harley Flanagan passt perfekt und bringt gelegentlich gar eine melancholische Note („Fugitive“) in den ansonsten brettharten Sound. „Best Wishes“ ist die Startrampe für STRIFE, TERROR und Co.!