FAHNENFLUCHT

Foto© by Andi Langfeld

Der geklaute Albumtitel

Seit 25 Jahren sind FAHNENFLUCHT vom Niederrhein eine Größe im deutschsprachigen Punkrock. Und gemäß ihrem eigenen Veröffentlichungsrhythmus von fünf Jahren folgt nun das Album „Weiter Weiter“ auf „Angst und Empathie“ von 2016. Geändert hat sich seit damals nichts. Der Welt geht es nach wie vor schlecht bis übel. Die Corona-Krise setzt dem Ganzen zwar noch einen drauf, spielt gleichwohl aber keine Rolle auf „Weiter Weiter“. Was die Song stattdessen ausmacht, warum es um den Albumtitel gehörige Verwirrungen gab und wieso FAHNENFLUCHT lieber pessimistische als optimistische Musik machen, erklären uns Thomas (voc), Jan (dr), Dennis (bs) und Kai (gt) im Zoom-Interview, das im Vorfeld als „Bandprobe“ angekündigt worden war, zu der man zugeschaltet würde.

Ich spreche mit euch über Zoom und sehe, dass ihr alle an verschiedenen Orten sitzt, von denen aus ihr zugeschaltet seid. Lasst es mich so sagen, eine Bandprobe sieht klassischerweise anders aus.

Thomas: Das ist richtig. Aber das ist derzeit unsere Bandprobe, wenn du so willst. Montag- und Mittwochabends sitzen wir alle so wie jetzt zusammen. Bequatschen diverse Dinge – aktuell natürlich vieles um das neue Album. Klären Angelegenheiten mit dem Label. Und sammeln Ideen für zukünftige Videos – was ja erst recht notwendig ist, denn diesbezüglich müssen wir ja extrem umplanen wegen der Kontaktsperre. Sprich: All diese Dinge fallen an. Aber gemeinsam Musik machen? Wie bei einer richtigen Bandprobe? Das haben wir zuletzt tatsächlich irgendwann im vergangenen Jahr getan.

Dennoch habt ihr es geschafft, dieses neue Album „Weiter Weiter“ aufzunehmen und jetzt herauszubringen.
Thomas: Hast du das schon auf CD?

Ja. Zugeschickt vom Label.
Thomas: Ich hab’s selber noch nicht!
Dennis: Ich auch nicht.
Kai: Ich ebenfalls nicht.

Das tut mir jetzt sehr leid. Das konnte ich nicht ahnen, haha.
Jan: Kein Problem, haha. Die Tonträger sind derzeit alle bei mir. Vor ein paar Tagen habe ich sie zugeschickt bekommen. Ich habe die Sachen ja layoutet und bekomme die Belegexemplare daher immer als Erster, um alles prüfen zu können. Und ich konnte den anderen noch keine CD überreichen.

Einer weitere der seltsamen Blüten, die die Pandemie treibt ...
Jan: Ja. Und das ist eben genau das, was Thomas gerade sagte: Wir können uns nicht treffen. Noch nicht mal zur Übergabe des neuen Albums, haha. Abgesehen davon, dass die Produktion generell länger dauert, da die Presswerke auf Sparflamme arbeiten.

Ist „Weiter Weiter“ so erschienen wie geplant – oder ist dieses Album auch eines der Marke „Wegen Corona verschoben“?
Jan: Wir waren vergangenes Jahr um diese Zeit im Studio und wollten das Album eigentlich im Oktober rausbringen.
Dennis: Wir hatten das Artwork geplant, da wir die Fotos ja immer selbst machen. Und gedacht war eine Veröffentlichung im Juni 2020. Dann kam Corona. Alles hat sich verschoben. Und das Label meinte dann irgendwann: Nehmt euch Zeit. Hetzt euch nicht ab. Dann kommt die Platte eben erst 2021 raus.
Thomas: Jeder fragt sich ja aktuell, wann der beste Zeitpunkt ist, um neue Musik zu veröffentlichen. Normalerweise ist das ja immer schnell geregelt: Neue Platte dann, wenn sie möglichst schnell im Anschluss auch live präsentiert werden kann. Aber das ist ja nun derzeit überhaupt nicht absehbar. Wir waren also letztlich an kein Zeitlimit mehr gebunden, wollten aber nun auch nicht mehr länger warten.

Ich hoffe, ihr könnt die Songs noch spielen, wenn das live irgendwann einmal wieder möglich sein sollte ...
Thomas: Egal! Wenn das noch dauert, nehmen wir eben gleich das nächste neue Album auf, haha.

Gute Idee. Das wäre zumindest ein ordentliches Output.
Jan: Man lacht jetzt darüber, aber ganz ehrlich, es ist nicht das erste Mal, dass wir darüber nachdenken. Es ist nämlich durchaus noch Material übrig aus der Produktion von „Weiter Weiter“. Und ehe man gar nichts machen kann ... Der Kreislauf Songwriting, Albumproduktion, Tour, Songwriting, Albumproduktion, Tour ist ja nun unterbrochen. Warum sollte man da nicht nach der Albumproduktion einfach weitermachen mit dem Schreiben neuer Musik?
Kai: Vielleicht kann man ja auch zwischendurch etwas veröffentlichen. Oder neue Videos produzieren ...

Als Lebenszeichen der Band nach außen hin ist das sicherlich sinnvoll – sage ich als jemand von außen. Motto: Es passiert noch etwas. Die Kultur lebt.
Kai: Richtig. Wir müssen eben sehen, wie lange der Lockdown dauert.

Online-Konzerte?
Kai: Die sind nicht wirklich etwas für uns. Da muss man schon vor Ort sein.
Thomas: Nichts ersetzt ein Punk-Konzert, das live stattfindet. Alle Alternativen sind unzureichend. Damit tun wir uns schwer.

Autokino-Konzerte?
Kai: Es gibt durchaus Bands, bei denen das funktioniert. Ich war im Oktober auch zu einem solchen Konzert von AKNE KID JOE eingeladen – und die haben das gut gemacht. Mit viel Humor. Da saß man in Sitzgruppen zusammen. Kellner kamen zu einem an den Tisch. Und vorne spielte die Band. Die Leute hatten alle Bock. Das spürte man. Aber ich habe auch gemerkt: Für uns würde das nicht passen. Das könnte ich mir niemals vorstellen. Dann lieber nichts machen als so etwas.

Wann sind die Songs von „Weiter Weiter“ denn entstanden?
Kai: Wir waren im vergangenen Jahr im Studio. Und die Stücke sind in den Jahren davor entstanden. Während wir auf Tour waren, haben wir immer mal wieder Material gesammelt.
Jan: Die Themen sind tatsächlich bis zu drei Jahre alt. 2018 gab es die ersten Textideen von Kai und erste Treffen im Studio, wo wir dann mit Schlagzeug und Gitarre schon mal das Grundgerüst gebaut haben. Im Herbst 2019 haben wir den Studiotermin vereinbart.

Ich frage das, weil mich interessiert: Wäre die Platte im Bewusstsein der Corona-Krise anders geworden?
Dennis: Nein. Würde ich nicht sagen. Die Themen und Texte standen schon.
Jan: Ich denke, dass sie auch ohne Corona alle ihre Daseinsberechtigung haben. Als andere Bands irgendwann anfingen, Corona-Songs zu schreiben, haben wir gemerkt, dass das keine Option für uns wäre. Auch nicht, wenn wir jetzt sofort wieder ans Songwriting gehen würden. Vielleicht gäbe es hier und da einen Verweis. Aber das groß zu thematisieren? Nein. Zudem haben ja einige der Texte auf der Platte durchaus einen Bezug – ohne dass der geplant war. Einmal heißt es ja beispielsweise: „Die Masken fallen von den Fratzen“. Das ist ja ein Satz, der nun eine ganz andere Bedeutung erlangt hat.

Welche Bedeutung hat der sehr interessante Titel „Weiter Weiter“ für euch? Eher motivierend im Sinne von „Niemals aufgeben!“ – oder lakonisch im Sinne von „Ja, ja, macht mal. Das hat eh keinen Sinn.“?
Thomas: Ich sehe da eine gewisse Ambivalenz. Einerseits die Aufforderung, auch in schweren Zeiten den Kopf über Wasser zu halten. Andererseits ein Verweis auf diese ja fast schon chronische Aufforderung an die Gesellschaft, die man stets hört, immer weiterzumachen – obwohl ja viele Faktoren eher dazu gemahnen, einmal innezuhalten und über die Dinge, die schieflaufen, nachzudenken.
Kai: Es geht um die Haltung in der Gesellschaft, alles auszubeuten. Eine Haltung, die irgendwann zu großen Krisen führt.
Dennis: Es gibt zu diesem Titel übrigens eine kleine Anekdote ... Wir hatten vorher schon einen anderen Titel für das Album. Jan hatte das Artwork bereits fertig. Und dann kam eine andere Band und nannte ihr neues Album auch so. Ergo: Wir durften wieder von vorne beginnen. Mit allem.

Welcher Titel und vor allem welche Band waren das?
Jan: Das muss man jetzt nicht sagen, haha. Aber das hat uns natürlich umgehauen. Ich als Grafiker hatte den Titel, den wir uns ausgesucht hatten, auch schon visualisiert. Und dann waren wir im Studio, spielten die neuen Songs. Und als ich fertig war mit meinen Schlagzeugparts, machte ich das, was man eben immer macht: Ich setzte mich aufs Sofa, surfte quer durch Social Media – und las irgendwann nur diesen Post: „Hey! Unser neues Album kommt dann und dann raus und hat den Namen: ...“ Ich bin aus allen Wolken gefallen. Das war’s dann mit den Plänen. Wir mussten wieder bei Null anfangen, haha.

Weiß die andere Band davon?
Dennis: Ja, ich habe mit einem der Musiker telefoniert. Wir kennen die sehr gut und haben schon oft zusammen gespielt. Aber es ist alles klar zwischen uns. Und wir sind mit „Weiter Weiter“ auch sehr zufrieden.

Was bei den Songs auf „Weiter Weiter“ auffällt: Es wird nicht wirklich viel Hoffnung vermittelt. Die Stücke benennen sehr direkt, was derzeit ganz, ganz schlecht ist.
Thomas: Ich glaube, dass wir als Band eben immer schon eher das thematisiert haben, was nicht gut läuft, als Trinklieder, Liebeslieder oder Happy-People-Lieder zu schreiben. Sprich: Wir legen den Finger in die Wunde, wie man so schön sagt. Der pessimistische Kontext ist also tatsächlich schon gegeben und die Platte hat durchaus ihre dunklen Seiten. Nichtsdestotrotz würde ich Stücke wie „Misanthrop“ oder „Bewegung“ nicht per se als total düster wahrnehmen, sondern auch ein Stückweit als auffordernd und vorausschauend.

Das spricht letztlich für die These, dass Musik wie Kunst generell erst dann relevant wird, wenn sie aus „negativen“ Emotionen wie Trauer, Angst oder Wut entsteht.
Thomas: Ich denke, vor allem Wut ist das Gefühl, das uns antreibt. Man kann nicht zufrieden sein mit dem Status quo. Und spätestens wenn man Kinder hat, lässt einen das endgültig in anderen Kategorien denken.

Leider kann man sich ja Jahr für Jahr dranhalten, aus diesen Gefühlen heraus Songs zu schreiben, denn es tut sich ja nicht wirklich etwas. Was derzeit los ist auf der Welt, wissen wir. Euer voriges Album „Angst und Empathie“ kam beispielsweise kurz nach den Geschehnissen heraus, die zigtausend Flüchtenden in Europa widerfuhren – und kurz vor der Trump-Wahl.
Thomas: Einerseits ist es so: Wir müssen uns vielleicht wirklich einmal daran versuchen, Stücke konzeptionell anderes anzugehen und auch mal einen positiveren Blick auf die Welt zu bekommen ...

Weil beispielsweise auch Gutes wie „Fridays for Future“ oder „Black Lives Matter“ aus diesen negativen Dingen entstehen?
Thomas: Genau. Insofern kann man auch positiv in die Zukunft schauen. Aber kritische Stimmen werden ja angesichts der schlechten Dinge auf der Welt immer wieder immer lauter. Und diesen Stimmen muss man eben auch Gehör verschaffen.