JESUS AND MARY CHAIN

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Some candy talking

Sie sind eine meiner großen musikalischen Lieben, ihre ersten beiden Alben „Psychocandy“ (1985) und „Darklands“ (1987) waren sensationell neu und aufregend: einerseits extrem laut und brachial und noisig, andererseits aber auch sehr entspannt und melodiös – eine bittersüße Mischung. Bis 1999 nahm die 1983 nahe Glasgow, Schottland gegründete Band mit „Automatic“ (1989), „Honey’s Dead“ (1992), „Stoned & Dethroned“ (1994) und „Munki“ (1998) weitere Platten auf, wurde eine der erfolgreichsten Indie-Bands, und löste sich schließlich wegen des zerrütteten Verhältnisses der Brüder Jim (Gesang) und William Reid (Gitarre, Gesang) auf. 2007 kam die Reunion, aber es mussten zehn weitere Jahre vergehen, bis die Band ein neues Album einspielte. „Damage And Joy“ ist gerade erschienen, und Jim Reid sprach bereitwillig über dessen Hintergründe.

Jim, ein neues THE JESUS AND MARY CHAIN-Album ist eine Sensation, du gibst seit Wochen Interviews dazu. Gelangweilt?

Ach, das ist eben das, was ich mache, das ist schon okay. Und es macht mir auch nichts aus, über meine Musik zu reflektieren.

Na dann. Auf dem Album ist bei zwei Songs als Gastsängerin eine Linda Fox aufgeführt – ist das eure jüngere Schwester, mit der ihr 2007 das SISTER VANILLA-Album veröffentlicht habt?

Ja – und sie hat geheiratet, deshalb Fox und nicht mehr Reid.

Damals war gerade die Reunion von TJAMC verkündet worden, jeder dachte, es werde auch ein neues Album geben, doch dafür mussten erst noch zehn Jahre vergehen. Warum?

2007 ging ich davon aus, dass William und ich nie wieder ins Studio gehen. Die Entstehung des letzten Albums, „Munki“, war so schwierig gewesen, und ich hatte die Sorge, dass ein neues Album wieder so eine Erfahrung werden würde. Nur daran zu denken, führte mich schon den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Ich hatte es also nicht gerade eilig, wieder ins Studio zu gehen, obwohl ich eigentlich schon Lust hatte auf eine neue Platte. Ich schaffte es aber einfach nicht, das wirklich in Angriff zu nehmen. Und so fing ich an, mir Ausreden einfallen zu lassen. Irgendwann fiel mir dann aber auf, wie viel Zeit seit der letzten Platte wirklich schon vergangen war, und ständig wollte jemand wissen, wann denn nun das neue Album kommt, und da wurde es mir zunehmend peinlich, mich zu entschuldigen. Mir wurde klar, dass wir jetzt entweder ein neues Album machen oder klar sagen, dass es keines mehr geben wird. Also traf ich mich mit William und sagte: „Okay, ich bin jetzt bereit dazu, lass uns das Album machen.“

Andererseits: Muss man als Band mit einem legendären Backkatalog überhaupt zwingend ein neues Album veröffentlichen?

Ich finde das schon wichtig, aber das muss jede Band selbst entscheiden – was immer sich besser anfühlt. Und wir hatten einfach das Gefühl, ein neues Album machen zu wollen, aus den gleichen Gründen, wie wir sie bei den Alben hatten, von denen die Leute so angetan sind. Wir waren uns sicher, dass wir ein gutes Album hinbekommen werden. Also legten wir los und sagten uns zudem, wenn die Leute die Songs mögen, dann machen wir noch mehr.

Und wie kommt ihr beide mittlerweile klar?

Wir kommen heute besser miteinander aus als in vielen der Jahre davor. Und das passierte rein zufällig, ich weiß gar nicht, wie das kam. Wir waren beide im Vorfeld sehr nervös, wir wussten ja, dass wir für einen Monat oder länger zusammen im Studio eingesperrt sein werden, und hatten keine Idee, wie das klappen soll. Wir waren beide sehr unsicher, und dann stellte sich heraus, dass wir sehr gut klarkamen. Das hatte wohl etwas damit zu tun, dass wir merkten, dass dieses Album für uns beide sehr wichtig war. Das an die Wand zu fahren, weil wir uns streiten, wäre eine Verschwendung von Möglichkeiten gewesen. Wir haben nie so genau darüber gesprochen, aber mir ging es so und ihm wahrscheinlich auch. Wir kamen also ganz gut klar miteinander und haben uns einfach darauf konzentriert, die Platte aufzunehmen.

Hat es vielleicht damit zu tun, dass ihr, wie man so schön sagt, „older and wiser“ geworden seid?

Ja, das Alter hat sicher was damit zu tun, denke ich. Und ja, es heißt, man werde mit dem Älter auch klüger, und ich würde mir auch wünschen, das wäre bei uns der Fall, haha. Aber meiner Erfahrung nach ist das definitiv nicht so. Wir haben einfach kapiert, dass wir nicht jünger werden und die Chance, nochmal ein Album zu machen, sich einfach irgendwann nicht mehr bieten könnte. Uns wurde klar, dass es kein weiteres THE JESUS AND MARY CHAIN-Album geben wird, wenn wir uns weiterhin anbrüllen und wütend davonlaufen. Diese Erkenntnis hatte mehr Wirkung, als dass in unserem Fall am Satz „age brings wisdom“ was dran wäre.

Warum war es euch wichtig, nochmal ein Album zu machen?

Aus dem gleichen Grund, aus dem es uns wichtig war, als wir in den Achtzigern mit dem Musikmachen anfingen: Wir hatten Songs und wollten, dass die jemand hört. Wir wollten sie aufnehmen und andere hören lassen, was wir so zu bieten haben. Die Herangehensweise und die Gründe sind damals und heute die gleichen. Als Mittfünfziger hat man die gleiche Motivation wie als Mittzwanziger. Warum es solange gebraucht hat für dieses Album, habe ich ja gerade erklärt, aber ich finde nicht, dass jemand überrascht sein sollte, dass jemand auch in reiferen Jahren noch Platten aufnehmen will. Es hat sich doch nichts verändert! Du willst immer noch Neues schaffen, du hast immer noch einen künstlerischen Output, willst den umsetzen.

Gehört und gesehen habe ich euch erstmals Mitte der Achtziger in der TV-Sendung „Live aus dem Alabama“ im Bayerischen Rundfunk, und euer Auftritt war schockierend: So laut, so aggressiv, so disharmonisch war keine andere Band, die ich kannte. Diese Aggression, die bekommt man, so behaupte ich, nur in jungen Jahren hin.

Hm ... aber das Musikmachen ändert sich ja nicht, wenn man älter ist. Dieses neue Album zu machen lief erstaunlicherweise sehr ähnlich ab wie bei der Entstehung der anderen Alben. Was nun das ganze Drumherum betrifft, so sind wir natürlich keine jungen Kerle mehr, es geht uns nicht mehr um das Image und darum, auf der Bühne Verstärker umzuwerfen. Es geht uns um die Musik.

Ich hatte „Damage And Joy“ vor diesem Interview schon fast drei Monate, ich habe es oft gehört – und es ist wirklich großartig. Es passiert ja immer wieder, wenn eine alte Band noch mal eine Platte aufnimmt, dass man sich denkt, das Album hätten sie besser nicht gemacht. Aber das trifft in eurem Fall erfreulicherweise nicht zu.

Danke! Wir hätten es auch nicht veröffentlicht, wären wir nicht überzeugt gewesen, ein wirklich gutes THE JESUS AND MARY CHAIN-Album gemacht zu haben. Wir waren uns darüber einig, nur etwas zu veröffentlichen, wenn es mindestens so gut ist wie unsere anderen. Hätten wir im Studio mittendrin festgestellt, dass das alles schlecht klingt, hätten wir einfach aufgehört und uns eingestanden, dass wir es einfach nicht mehr draufhaben. Aber so kam es nicht, wir hatten das Gefühl, dass Menschen, die The Mary Chain mögen, die Platte gefallen wird.

Habt ihr das so explizit diskutiert, habt ihr das definiert, ganz konkret in Zusammenarbeit mit eurem Produzenten Youth, der auch auf der Platte mitspielt?

Wir haben nie darüber geredet, wie eine Veröffentlichung werden sollte, aber ich habe schon gewollt, dass sich alles in Richtung einer klassischen THE JESUS AND MARY CHAIN-Platte bewegt. Youth ins Spiel zu bringen war gut, wir haben darüber diskutiert, worin wir seine Rolle sehen, und kamen überein, dass es sein Job ist, alle Elemente von THE JESUS AND MARY CHAIN, wie man sie auf den verschiedenen Platten findet, hier nun zu kombiniert. Es gab kein Blaupause, keinen Plan, aber ohne das konkret zu besprechen, war das unser gemeinsames Ziel.

Wie geht man damit um, als Kultband verehrt zu werden?

Hm ... Mir ist es egal, was die Leute von uns denken, solange sie uns eine Chance geben und sich die Musik anhören. Es kümmert mich nicht, ob uns jemand für eine „Indie-Band“ oder was auch immer hält, Hauptsache sie nehmen sich Zeit für die Musik, dann bin ich zufrieden.

Wie sieht es mit Inspirationen aus? Als ihr in den Achtzigern neu wart, wurde natürlich darüber gesprochen, was eure Einflüsse sind. In den letzten dreißig Jahren habt ihr ja ständig neue Musik kennen gelernt – hat das Spuren hinterlassen?

Was ein Album beeinflusst hat, stellt man ja immer erst fest, wenn es fertig ist – und oft erkennt man das sogar erst mit großer zeitlicher Distanz. Ich halte es für das Beste, sich nicht mit solchen Überlegungen aufzuhalten. Aber natürlich sickert alles, was man über die Jahre so gehört hat, irgendwie durch. Ich möchte das aber lieber als Geheimnis für mich behalten.

Mit was beschäftigst du dich sonst so? Ich schätze, die Band ist jenseits von Studioaufenthalt und Tour kein Vollzeitjob.

Klar, jetzt, zum Release des Albums, bin ich schon gut eingespannt, aber du hast schon recht, ich habe viel freie Zeit. Und ich bin zufällig der faulste Mensch der Welt. Nichts zu tun zu haben, sich über nichts Gedanken oder Sorgen machen zu müssen, ist das Beste, das kommt mir sehr entgegen. Ich lebe im Südwesten Englands in einem ruhigen Städtchen am Meer, und ich mache eigentlich fast nichts. Viele Menschen würden mein Leben für ziemlich langweilig halten, aber ich habe meine wilde Zeit gehabt und irgendwann gemerkt, dass so ein ruhiges Tempo mir entgegenkommt.

Dein Leben ist also so entspannt, wie eure Musik klingt.

Jaaa!

Du hast zwei Töchter. Wissen die, was ihr Vater so macht und früher gemacht hat?

Ja, Candice ist zehn und Simone dreizehn Jahre alt. Es ist ihnen irgendwie peinlich, was ich mache, die sind noch nicht in dem Alter, wo sie das schätzen können. Die finden es seltsam, dass manche Menschen wissen, wer ich bin. Hier in der Stadt allerdings hat keiner eine Ahnung, wer ich bin. Obwohl, Simone erzählte letzte Woche, dass einer ihrer Lehrer THE JESUS AND MARY CHAIN-Fan ist und erst jetzt kapierte, dass sie meine Tochter ist. Ihr war das etwas peinlich. Mal schauen, wie der nächste Elternsprechtag abläuft, haha.

In „Los Feliz (Blues and greens)“ vom neuen Album geht es um die USA. Was genau ist das Thema?

Der Text ist von William, der lebt seit 16 Jahren in Los Angeles, im Detail müsstest du ihn fragen. Es geht wohl um seine Beobachtungen in den USA Amerika, es heißt „God lives in America“, aber das ist sicher kein Hurra-Lied auf die Vereinigten Staaten. Und es ist ja wohl klar, dass Gott absolut nicht in Amerika lebt. Es gibt sicher keinen gottloseren Ort als Amerika heutzutage.

Hast du einen Lieblingssong auf dem Album?

Das verändert sich, aktuell sind es „War on peace“ und „All things pass“.

Ihr habt diverse Gastsängerinnen, über eure Schwester Linda sprachen wir schon. Aber wer sind Bernadette Denning, Isobel Campbell und Sky Ferreira?

Irgendwie hatten wir viele Duette bei den Songs, und dafür brauchten wir Gastsängerinnen. Isobel Campbell kannten wir durch ihre Aufnahmen mit Mark Lanegan und BELLE AND SEBASTIAN. Ich hatte sie nie getroffen, mochte aber ihre Stimme, und so fragten wir einfach bei ihr an. Sky Ferreira ist eine US-Popsängerin, die mir gegenüber vor vielen Jahren mal bekannte, dass sie The Mary Chain-Fan ist, und da sie unlängst mal was mit PRIMAL SCREAM gemacht hatte, stellte Bobby Gillespie den Kontakt her. Bernadette Denning schließlich wirst du nicht finden, wenn du sie googlest, die war nie in einer Band, ist keine Sängerin – sie ist Williams’ Freundin. Sie hat es einfach ausprobiert und war gut. Sie hat über die Jahre live öfter mal „Just like honey“ mit mir zusammen gesungen.

Nicht um Gott, aber um Jesus ging es einst in eurem wundervollen Song „Jesus fuck“, der sich bestens dazu eignete, religiöse Eltern zu schocken. Was würdest du tun, wenn deine Töchter mit so was ankommen?

Zum Glück bin ich nicht gottesfürchtig. Es ist ein Alptraum, Kinder zu haben ... Wenn die sich mal die ganzen Interviews anschauen und durchlesen würden, die ich irgendwann mal gegeben habe und die jetzt im Internet zu finden sind ... Was ich alles gesagt habe ... Wenn die damit mal ankommen, puh ... Gott, Drogen, Himmel, was soll ich nur antworten, wenn es soweit ist?

No regrets? Was denkst du mit 55 über den 25-jährigen Jim Reid?

Für Bedauern ist das Leben zu kurz. Ich hatte viel Spaß damals, aber es gab auch schlechte Zeiten, und ich habe als „Andenken“ ein Alkoholproblem behalten, mit dem ich immer noch kämpfe, auch heute noch. Was soll ich sagen? Ist wohl so was wie eine Berufskrankheit. Ich war zu Beginn unserer Bandkarriere extrem unsicher und sehr schüchtern, und eher zurückhaltend bin ich auch heute noch. Das war der Grund, weshalb ich ich so offen für Drogen und Alkohol war. Es war ja noch nicht mal so, dass mein Leben eine einzige Party gewesen wäre, Tag und Nacht, die ganze Woche ... Ich brauchte schlicht eine „Krücke“, um mich da vorne auf die Bühne stellen zu können. Heute noch glaubt man mir nicht: Was? Du bist doch Sänger in einer Rock’n’Roll-Band! Wie kann man da schüchtern sein?! Und ob ich das bin, ich kann doch nicht einfach raus aus meiner Haut. Ich weiß heute aber, dass ich nicht zugedröhnt sein muss, um ein Konzert spielen zu können. Ich weiß, dass ich das nüchtern hinbekomme. Das zu erkennen nimmt eine Menge Druck weg.

Hattest du ein bestimmtes Erlebnis, an dem dir klar wurde, dass du was ändern musst, wenn du noch ein paar Jahre mehr Spaß am Leben haben willst?

Ich habe meine Ups and Downs. Ich habe einfach ein Alkoholproblem, habe erst jüngst mal wieder aufgehört zu trinken. Ich habe immer wieder Rückfälle, sogar jetzt noch kann ich ganz schön wüst saufen. Ich war mehrere Jahre trocken, bis ich letztes Jahr diesen Rückfall hatte. Ich war sechs Monate lang besoffen, jetzt habe ich seit Oktober keinen Alkohol mehr angerührt. Es ist mein ewiger Kampf, und es macht mir nichts aus, darüber zu reden. Es ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Immerhin nehme ich keine Drogen mehr, ich habe „nur“ das Alkoholproblem.

Was kann man von euren Deutschand-Konzerten Ende April erwarten? Alte und neue Songs gut gemischt?

Ja, ein guter Mix. Wenn das Album mal eine Weile raus ist, werden wir sicher mehr Songs davon spielen, doch jetzt werden wir wohl nur eine Handvoll spielen und der Rest werden solche sein, die die Leute kennen.