JOSHUA MICHAELS

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Hardcore, Jesus and me – oder: wie man sich von Dogmen befreit

Nach einem kleinen theoretischen Überblick zu wichtigen Strömungen des christlichen Punk/Hardcore kommt nun ein direkt Beteiligter zu Wort. Joshua Michaels aus Ohio betreibt den Blog „Christian Hardcore Records“, der sich der Sammlung, Dokumentation und Archivierung des christlichen Hardcore der Neunziger und frühen Nuller Jahre verschrieben hat. Joshua hat während der Hochphase dieser Hardcore-Nische als gläubiger Christ in mehreren Bands gespielt und sich später schrittweise vom Glauben distanziert. Sein heutiger Blick auf die damalige Szene ist ein differenzierter. Im Interview sprechen wir unter anderem über den unerwarteten Zusammenhang religiöser und subkultureller Dogmen und wie man christliche Eltern mit Straight Edge beruhigen kann.

Joshua, reden wir zuerst über dich. Welcher christlichen Gruppierung fühlst du dich verbunden?

Von meiner Kindheit bis in meine späten Teenagerjahre gehörte ich verschiedenen protestantischen christlichen Kirchen unterschiedlicher Größenordnung an. Mit 18 Jahren verließ ich die Kirche ganz, nachdem ich die Vorgehensweisen und Entscheidungen der Ältesten der Kirche hinter den Kulissen erlebt hatte. Heute bin ich nicht mehr strenggläubig und habe keine Beziehung mehr zum christlichen Gott. Ein deistischer Ansatz schien mir vernünftiger zu sein, er bietet eine Möglichkeit der Distanzierung, ohne den Glauben ganz abzulehnen. Meine Mittzwanziger brachten den letzten Zweifel mit sich. Heute bin ich mit dem Etikett Agnostiker ganz zufrieden.

Wie wurdest du religiös geprägt, war deine Familie bereits religiös oder hast du die Entscheidung selbst getroffen?
Bis ich mit 18 Jahren ganz aus der Kirche ausstieg, ging ich jeden Sonntag mit meiner Familie in den Gottesdienst und nahm an den Jugendgruppen der Kirche teil. Es war eine sehr konservative, konfessionslose christliche Freikirche. Ich ging jeden Sonntag zur Sonntagsschule und besuchte jeden Sommer eine einwöchige Ferienbibelschule. In den Ferien ging ich sogar öfter für ein paar Wochen in ein christliches Sommerlager. Mit zwölf Jahren entschied ich mich dafür, mich vor der gesamten Kirchengemeinde taufen zu lassen, obwohl das nicht erforderlich gewesen wäre. Ich steigerte mich in meine religiösen Überzeugungen und in meinen Glauben sehr hinein. Einmal hatte ich sogar ein krasses Erlebnis bei einer christlichen Hardcore-Show im Jugendhaus der Kirche. Ich brach zusammen und weinte, weil ich das Gefühl hatte, dass Jesus Christus für mich gestorben war und ich einfach nicht verdiente, was er für mich getan hatte. Immer wenn ich an diesen Moment zurückdenke, erinnert er mich daran, wie die Kraft des Glaubens dich vereinnahmen kann. Ich war schon immer ein sinn- und wahrheitsorientierter Mensch. Ich kann mich daran erinnern, dass ich schon als Kind das Buch Genesis infrage gestellt und darüber nachgedacht habe, was vor dem Anfang war, was nach dem Ende sein wird und was außerhalb der uns bekannten Welt ist. Darum bin ich bis heute nie Atheist geworden. Religion ist nicht gleich organisierte Kirche. Ich war aber nie zufrieden mit dem, was die Bibel sagte oder was meine Familie sagte oder welche Antworten die Kirchen auf die Fragen des Lebens haben.

Wie bist du mit Hardcore und Punk in Kontakt gekommen? Warst du zu diesem Zeitpunkt schon religiös?
Ich habe 1997 zum ersten Mal Hardcore gehört. Es war lebensverändernd. Ich war 13 Jahre alt und noch geprägt vom klassischen Rock meines Vaters, dann den amerikanischen Radio-Rock und -Pop der Neunziger Jahre, METALLICA und härteren Rock. Nun kamen Punk- und Ska-Bands, die ich von Freunden in der Schule und der Kirche kannte. Die Kirche, der ich damals angehörte, hatte zugegebenermaßen eine sehr coole Musikszene zu bieten, in der die Jugendgemeinschaft einige eigene Bands hatte, darunter Ska-, Punk-, Emo-, Post-Hardcore- und schließlich Metalcore- und Hardcore-Bands. Meine damalige Lieblingsband waren die MIGHTY MIGHTY BOSSTONES. Sie waren dann der Türöffner für christlichen Ska wie O.C. SUPERTONES. Was Hardcore betrifft, so haben mich christliche Bands zuerst erwischt. Ich stand auf harte Musik und befand mich in der Hochphase meines Christseins. Ich fing aber schnell an, nach Hardcore-Bands aller Art zu suchen, egal ob christlich oder weltlich. Mit den christlichen Bands konnte ich auch meine Eltern beschwichtigen, die fanden diese Art von Musik suspekt. 1997 kam ich mit der christlichen Hardcore-Band ZAO durch das Album „The Splinter Shards The Birth Of Separation“ in Berührung. Das war eine bedeutende Veränderung. Ich ließ alle andere Musik hinter mir und machte mich auf die Jagd nach immer mehr Hardcore. In diesem Jahr sah ich meine erste lokale Hardcore-Show und entdeckte SICK OF IT ALL, EARTH CRISIS und etliche weitere Bands für mich. Und ich wurde straight edge. Das bin ich auch heute noch, über 21 Jahre später. Aber heute definiere ich mich nicht mehr so stark darüber wie damals.

Wie sah die – christliche – Hardcore-Szene bei dir zu Hause aus?
Mit zwölf Jahren erhielt ich meine erste E-Gitarre und einen Übungsverstärker. An demselben Weihnachten bekam mein bester Freund das Gleiche und mein Cousin erhielt ein Schlagzeug. Wir hatten uns schön abgesprochen und unsere Eltern bearbeitet, um eine Band zu gründen. Dies alles passierte zeitgleich mit der Entwicklung meiner musikalischen Interessen. Natürlich wurde diese erste Band dann eine christliche Hardcore-Band. So ging das dann 13 Jahre lang weiter. Allerdings waren die Nachfolgebands nicht mehr so stark religiös definiert. Meine letzte Band KILLING YEARS war sogar offen antireligiös. Wir hatten ein T-Shirt, auf dem stand „Dissolve Organized Religion“, eine klare Absage an organisierte Religion. Damals war unsere lokale Hardcore-Szene in Cincinnati sehr vielfältig und wurde von Straight-Edge-Kids dominiert. Sie war ziemlich rauh und wirkte auf mich als Jugendlichen sehr einschüchternd. Es gab eine aufkeimende christliche Hardcore-Gemeinschaft, die sich am Rande der Szene bewegte, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne, denn das christliche Zeug schien nur außerhalb der Stadtgrenzen zu passieren und Aufmerksamkeit zu erregen. Es war definitiv eine eigene Subkultur der Musikszene der Stadt und insbesondere der Hardcore-Szene. Sie existierte aber nur ein paar Jahre und entwickelte sich dann zu der Art von Metalcore, die Mitte der Nuller Jahre aufkam. Da hatte ich aber bereits mein Interesse an der Sache verloren.

Wie bist du nach der Musik zum Bloggen gekommen? Warum ein christlicher Hardcore-Blog?
Das Bloggen war 2010 nicht so verbreitet wie jetzt. Aber selbst damals habe ich nicht in erster Linie gebloggt, weil ich schreiben wollte. Ich habe es ausschließlich als Plattform für den Austausch von christlichem Hardcore aus der für mich relevanten Zeitspanne betrieben, einer Zeit, die ich immer noch als die beste betrachte. Ich wurde von anderen minimalistischen Blogs inspiriert, die dasselbe mit älterem Hardcore machten, aber keiner von ihnen schien wirklich das zu bieten, was ein Fan des christlichen Hardcore der Neunziger und frühen Nuller Jahre suchte. Ich wollte einfach meine Sammlung von christlichem Hardcore zur Verfügung stellen und den Blog als Ressource nutzen, um meine Sammlung durch Austausch zu erweitern. Ich bekam haufenweise christlichen Hardcore und Metalcore der Neunziger und frühen Nuller Jahre geschickt, den ich vorher noch nie gehört oder vergebens gesucht hatte. Es kamen Kontakte zu Bands zustande, die ich als Teenager verehrt hatte. Freundschaften entstanden, die bis heute andauern. In dieser Zeit brachten andere Blogs nicht viel christlichen Hardcore, abgesehen von Szenegrößen wie STRONGARM, ZAO und STRETCH ARM STRONG. Mehrfach musste ich mich dafür rechtfertigen, weil ich nach christlichem Hardcore fragte. Und dass, obwohl ich mich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr als Christ bezeichnete. Meine Beweggründe, mein Faible für die Musik einer bestimmten Dekade habe ich darum auch im Vorwort meines Blogs ausformuliert. Hardcore als Genre ist so vielfältig, es gibt so viele Bands und so viele Botschaften, so viele Ideologien sind dort vertreten. Straight-Edge-Bands,vegane Bands, Depression, Nihilismus, Pessimismus, Optimismus, Positive Mental Attitude, Negativität und Hass, Menschenrechtsfragen, Atheismus und eben auch religiöser Hardcore. Hier reicht die Spannweite von Bands, die Ideen der abrahamitischen Religionen verfechten, bis hin zu den Krishnacore-Bands. Auch das sollte dokumentiert sein.

Kommen wir zu Fragen nach deiner Einstellung. Wie ist heute deine Position zu staatlichem Säkularismus beziehungsweise der Trennung von Staat und Kirche?
Ich liebe es, mich mit Religion, Philosophie und verschiedenen Formen der Mystik zu beschäftigen. Diese Bereiche sind integraler Bestandteil der Entwicklung westlicher Kultur, neben dem Säkularismus natürlich. Ich schätze diese scheinbare Dichotomie sehr, aber noch mehr schätze ich die Rolle, die der Säkularismus tatsächlich spielt, wenn es darum geht, die maximale Freiheit religiöser Überzeugungen und Praktiken in den USA zu gewährleisten. Er bietet ein Spielfeld, auf dem jeder alles glauben und sagen kann, Sachen infrage stellen kann. Die Idee ist in den Grundfesten der Vereinigten Staaten verankert. Der erste Zusatzartikel der US-Verfassung garantiert den Bürgern das Recht auf Religionsfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung. Er war eine sehr aufklärerische Reaktion auf die Theokratien und Monarchien Großbritanniens und Europas im Laufe der Geschichte. Die Vereinigten Staaten wurden sehr stark als eine Art „Leben und leben lassen“ konzipiert, weshalb der klassische Liberalismus Grundlage für ihre Gründung ist. Obwohl in unser Verfassung ein Schöpfer anerkannt wird, schreibt sie ausdrücklich vor, dass es weder eine institutionalisierte Staatsreligion geben noch jegliche religiöse Praxis ausgeschlossen werden darf. Das ist eine Philosophie, die ich schätze und die hoffentlich nie vergeht.

Sollte Religion eher reine Privatsache sein oder auch Grundlage für politische Entscheidungen?
Ich bin der Meinung, dass Religion im Interesse des Praktizierenden etwas sehr Persönliches sein sollte. Sie ist eine Herzensangelegenheit und das fällt ins Private. Bei Amtsträgern ist das schwierig zu sagen. Religiöse Ideen wirken im Unbewussten und sind natürlich ausschlaggebend für politische Entscheidungen. Sie prägen dein Weltbild. Das Großartige an unserem System ist aber, dass jemand wie ein Präsident der Vereinigten Staaten ein Kabinett hat und gleichzeitig nur einer von drei gleichberechtigten Zweigen der Bundesregierung ist. So kann seine Subjektivität von diesen verschiedenen Ämtern und Personen überprüft und kritisiert werden. Deshalb nivelliert die Gewaltenteilung einzelne religiöse Überzeugungen im öffentlichen Amt. Ich bin dankbar, dass ich nicht in einer Theokratie lebe. Der Gedanke, dass meine Regierung Entscheidungen trifft, die ausschließlich auf religiösen Ideen beruhen, würde mich beunruhigen. Da spricht der klassische Liberale aus mir. Als leidenschaftlicher christlicher Teenager, der für Gott gekämpft hat, aber völlig unwissend war, wie individuelle Freiheiten aussehen und wie sie gesichert werden, hätte ich das natürlich noch anders gesehen. Aber da war ich viel zu sehr damit beschäftigt, harte Musik zu hören, zu schreiben und zu spielen.

Hardcore kann sehr politisch sein. Als Jugendlicher habe ich durch Bands vieles über Politik gelernt, das in der Schule nicht besprochen wurde. Siehst du christlichen Hardcore als legitimes Mittel zur christlichen Bildung beziehungsweise Missionierung?
Stimmt, Hardcore war teilweise sehr politisch. Teilweise übertreffen die Inhalte aber jeden dumpfen Post auf Facebook. Christlicher Hardcore war zumindest auf seinem Höhepunkt definitiv ein legitimer Ansatz für die Missionsarbeit. Ich bin das beste Beispiel dafür. Aber genau wie andere Inhalte, die im Hardcore transportiert werden – Veganismus, Hinduismus, Politik – wirken die Botschaften am stärksten auf diejenigen, die offen für sie sind. Ich habe mein ganzes Leben lang vegane Bands gehört und bin nie selber vegan geworden. Als Christ wirkten die religiösen Songs auf mich. Freunde von mir sind sogar nur aufgrund von christlichem Hardcore und Punk Christen geworden. Musik bindet dich aber nur temporär, wenn ein religiöses Umfeld beziehungsweise eine Glaubensgemeinschaft dich nicht als komplette Person einbindet. Die so genannten Jesus Freaks der Neunziger Jahre haben das kultiviert, die haben als Vehikel aber eher Alternative Rock genommen. Mit Hardcore, wie ich ihn hörte, hatte das wenig zu tun. Das war eher eine Form der ganzheitlichen Missionierung.

Gab es eine Schnittmenge der Jesus Freaks-Bewegung mit der christlichen Hardcore-Szene? Die Jesus Freaks sind in Deutschland noch recht aktiv.
Wirklich? In den USA weniger. Die Jesus Freaks waren bei uns eine typische Sache der Neunziger Jahre. Ich konnte damals schon nicht viel damit anfangen – und ich war damals selber noch gläubiger Christ. Es war eine Bewegung, die der christlichen Jugend das Gefühl gab, als Anhänger von Jesus akzeptiert und sogar cool zu sein. Sie hat ihr Selbstbewusstsein gestärkt, was ich generell okay finde, gerade wenn Jugendliche sich aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen für schräg und ausgegrenzt halten. Mir erschien das aber alles ein wenig zu verkitscht. Wenn ich mich richtig erinnere, spielte die christliche Pop-Band DC TALK dabei eine wichtige Rolle. Sie verbreiteten in den Neunziger Jahren WWJD-Armbänder („What Would Jesus Do?“) als Gimmick. Ähnlich wie die Straight-Edge-Kids immer ein fettes X auf ihren Händen trugen. Meiner Meinung nach hätte die christliche Hardcore-Szene, insbesondere in ihrer Blütezeit, ohne den Einfluss der Jesus Freaks nicht so groß werden können. Durch sie interessierten sich immer mehr Kids für alternative Musik wie Grunge, Punk, Metal und Hardcore. Die Freaks stellten Treffpunkte und Konzertlocations zur Verfügung, die auch von christlichen Hardcore-Bands genutzt wurden. Der Enthusiasmus und die Organisiertheit der Freaks hat definitiv zur Vergrößerung der Hardcore-Szene beigetragen. Darüber hinaus war das Cornerstone Music Festival ein echter Multiplikator. Das war ein jährlich stattfindendes einwöchiges Festival, das von der Jesus People USA-Gruppe veranstaltet wurde, einer familienähnlichen, sogar kultisch religiösen Gruppe. Ich blieb einmal eine Woche bei ihnen, als ich 14 oder 15 Jahre alt war, während ich auf einer Missionsreise in Chicago war. Wer sich für obskure religiöse Gruppen interessiert, sollte sich mal mit ihnen beschäftigen.

Hardcore und Punk sind ursprünglich subversive Jugendkulturen. Sie stellen Autoritäten infrage. Wie passt das deiner Meinung nach zu Religion? Ist ein Glaube an Gott nicht das Sinnbild für den Glauben an Autorität?
Ich kann diese Paradoxie sehr gut nachvollziehen. Aber zwei Punkte des christlichen Kernbereichs halte ich dennoch für anknüpfungsfähig an Subversion. Die eine Sache ist, dass der christliche Hardcore sowohl das Individuum als auch die Gruppe betrifft. Die Inhalte drehen sich um subjektive oder kollektive Erfahrungen einer Person oder Gruppe von Menschen. Das Christentum mit seinem Gleichheitsprinzip betont das Individuum stärker als andere Religionen, es ist mehr auf das Individuum ausgelegt. Zweitens hat der christliche Hardcore sich immer als eine Subkultur innerhalb einer Subkultur behauptet. Genauso, wie die veganen, politischen oder anderen jeweiligen Subgenres innerhalb der Hardcore-Kultur mit ihren jeweiligen Doktrinen koexistierten, hatten auch die Christen ihre eigenen Veranstaltungen, die sie von der großen Hardcore-Community trennten. Christlicher Hardcore wurde und wird von christlichen Jugendlichen geschrieben, die mit Hardcore auf das reagierten, was sie als autoritären Charakter ihrer Religionen, ihrer Familien und ihrer Gemeinden erkannten. Christliche Hardcore-Kids waren und sind Außenseiter und schwarze Schafe innerhalb des Christentums. Die wachsende Popularität des christlichen Hardcore scheint definitiv damit zusammenzuhängen, wie der christliche Rock in den Neunziger Jahren fast zum Mainstream wurde, weil die christliche Musik diverser wurde. Die Neunziger Jahre brachten Alternative und Grunge und dann Punk, Ska, Metal und Hardcore unter das Dach der christlichen Musik. Als ich jünger war, beäugten viele ältere Christen christlichen Hardcore, Punk und Metal stirnrunzelnd. Was uns zurück zu dem Punkt bringt, dass christlicher Hardcore eine subversive Seite hat. Hardcore ist Mittel zum Zweck, die Welt anzuschreien. Hardcore ist eine Reaktion auf das Gefühl der Unterdrückung als junges und machtloses Individuum. Und das Bedürfnis danach, einer Kultur anzugehören, die anderen gegen den Strich geht – sogar in der christlichen Welt.

In meiner Perspektive scheinen Punk und Christentum nicht viele Dinge gemeinsam zu haben: Individualismus vs. Kollektivismus, Nichtkonformität vs. Konformität . Punk ist schwulenfreundlich, teilweise feministisch. Siehst du diese Widersprüche auch? Wenn ja, wie gehst du mit ihnen um?
Auch ich sehe die scheinbaren Widersprüche. Ich glaube jedoch nicht, dass christliche Bands diese Themen kontrovers aufgreifen. Ich habe viele Erinnerungen daran, wie christliche Hardcore-Bands auf die Bühne gehen und der Sänger etwas in der Richtung sagt wie: Wir sind Soundso und wir sind für Gott hier. Wenn das nicht euer Ding ist, ist das okay. Ich habe so viele Christen in Bands und bei Shows getroffen, die liberal eingestellt waren und deshalb nie mit diesen scheinbar widersprüchlichen Ansichten Probleme hatten. Das einzige Thema, an das ich mich erinnern kann, ist die Pro-Life-Debatte und die Ablehnung von Abtreibungen. Zu diesem Punkt bezogen viele Leute klar Stellung und eckten damit in anderen Bereichen der Hardcore-Community an. Menschen außerhalb der christlichen Hardcore-Community nehmen oftmals eine Art ideologische Kluft zwischen Hardcore und dem Christentum wahr. Hardcore steht dabei mehr für Individualismus, während es bei der Religion, oder speziell beim Christentum, mehr um Kollektivismus und Doktrin und Dogmen zu gehen scheint. So deutlich sehe ich das gar nicht. Nach 21 Jahren als Teil der Hardcore-Gemeinschaft kann ich mit voller Überzeugung sagen, dass es sich um eine Community handelt, die von Konformität und kollektivistischen Dogmen durchsetzt ist. Während das Christentum, obwohl eine organisierte Religion mit unzähligen Mängeln, dem Individuum eine persönliche Beziehung zu seinem Gott bietet, mit seinem eigenen Glauben an diesen Gott und seiner eigenen spirituellen Reise, die, wenn er es wünscht, durch die Gemeinschaft unterstützt werden kann. Vielleicht ist mein eher protestantischer Hintergrund aber nicht mit katholischen und orthodoxen Traditionen zu 100% vergleichbar. Hardcore und Religion können sich ironischerweise daher sehr ähnlich sein.

Du erwähntest gerade Dogmen in der Hardcore-Szene. Welche sind das deiner Meinung nach?
Dogmatismus ist in der Hardcore/Punk-Szene definitiv kein so präsentes Thema. Und ich beziehe mich nur auf meine eigenen Erfahrungswerte, das, was ich in der Hardcore-Szene gesehen, erlebt und von anderen gelernt habe. Zuerst ist da, was ich als sehr positiv betrachten würde, eine klar antifaschistische Haltung. Diese Opposition gegen nazistische und faschistische Ideen und Gruppen dominiert Hardcore und Punk von Anfang an. Es gibt aber auch negative Beispiele ideologischer Dogmen. Heterosexualität oder Veganismus sind Beispiele, die in meiner Wahrnehmung mit einer Art Elitarismus und Militanz von Leuten vertreten wurden. Das hat aber im Laufe der Zeit abgenommen. Seltsam fand ich auch immer die Vehemenz, mit der die Idee der Political Correctness – P.C. – in den Hardcore eingesickert ist, das Monster der politischen Korrektheit der Neunziger Jahre. Es verhindert Kontroversen und verliert sich teilweise in Kleinigkeiten. Bei uns im Mittleren Westen kam das aber nicht so extrem an wie in den progressiveren und kosmopolitischeren Staaten. Ich habe eine Art Gegenreaktion auf diese P.C.-Bewegung im Hardcore erlebt, welche auch zu einer Differenzierung der Szene führte. Es gab quasi P.C.- und Non-P.C.-Shows, -Bands, -Veranstalter*innen und -Besucher*innen. Diese Teilung war die Reaktion auf die Annahme oder Ablehnung des P.C.-Dogmas. Du kannst den Gedanken aber auch weiterspinnen. Jede*r, der oder die häufig zu Shows geht, meistens Hardcore hört, das meiste Geld für Merchandise und Musik ausgibt und sich meistens mit anderen Menschen aus der Hardcore-Szene umgibt, operiert in einem dogmatischen Dunstkreis. Das ist nicht unbedingt eine schlechte Sache. Diese Szene, diese Musik und diese Leute bieten Gemeinschaft, Ideen und eine Kultur, in der sie sich akzeptiert fühlen können – eine Subkultur. Daher ist die Schnittmenge zwischen Hardcore als Subkultur und Religion so offensichtlich. Letztendlich gibt es aber nichts Befreienderes, als sich von Dogmen und Ideologien zu lösen, und dazu gehört auch Hardcore. Ich habe mit Mitte zwanzig erkannt, dass es in der Tat mehr gibt als nur Hardcore-Musik und Menschen, die auch in die Szene involviert sind. Meine langlebigsten Freundschaften, die ich wirklich schätze und weiterführen werde, haben nichts mit Hardcore zu tun, sondern mit Musik im Allgemeinen, mit Familie und anderen gemeinsamen Ideen und Interessen.

Christlicher Hardcore/Punk wird in Europa oft kritisch gesehen. Die Szene ist größtenteils atheistisch und agnostisch. Wie ist das in den USA?
Nach meiner Erfahrung ist es hier in den Vereinigten Staaten ähnlich. Aber solange christliche Hardcore-Bands nicht als ,,predigend“ erscheinen, sind sie als Teil der Szene akzeptiert. Das Problem ist jedoch, dass sich christliche Bands teilweise selbst vom Rest der Szene abgrenzen, sich christlichen Labels anschließen und in einem scheinbar parallelen Hardcore-Universum agieren. Ich glaube, in den Vereinigten Staaten sind die Leute im Allgemeinen ziemlich aufgeschlossen, solange sie sich nicht bevormundet oder irgendwie missioniert fühlen fühlen.

Wie aktiv ist die christliche Hardcore-Szene heute? Sind Labels wie Tooth & Nail oder Thumper Punk immer noch so aktiv wie früher?
Meines Wissens ist von der eigentlichen Szene gar nicht viel übrig. Es gibt sicherlich christliche Hardcore-Bands, die kommen und gehen, wie alle Bands, aber es scheint neben der säkularen Hardcore-Szene keine voll funktionierende, unabhängig agierende christliche Szene zu geben. Die Zeitspanne zwischen Mitte der Neunziger bis Anfang der Nuller Jahre war wirklich eine besondere. Diese möchte ich ja auch mit meinem Blog abbilden. Dieses explosive Zusammentreffen von offenen Christen in einem zunehmend säkularen westlichen Zeitgeist erzeugte eine einzigartige Hardcore-Szene, die christlichen Kids einerseits das gleiche Ventil zum Schreien und Anklagen bot, wie die säkulare Hardcore-Szene, und sie andererseits mit den gleichen religiösen Inhalten überzog, die sie sonst auch von Kirchen, Bibelstudien und Jugendgruppen kannten. Ein Beleg dafür, dass christliche Musik auch eine subversive Seite haben kann.

Was verurteilen strenggläubige Christen deiner Meinung nach an Punk und Hardcore am meisten?
Oberflächlich gesehen verstehen viele Leute ihn einfach nicht. Ihre erste Annahme ist häufig, dass er mit Metal vergleichbar sei, und da Metal voller dunkler und böser Bilder und Themen ist, muss dass im Hardcore ähnlich sein. Strenggläubige Christen haben ein dichotomes Weltbild von Gut und Böse und fürchten das Böse an sich. Und ich denke, es ist einfach die Ablehnung von Dingen, die sie an das Böse erinnern – extreme Formen der Musik, wie Metal, Hardcore und Punk klingen für sie böse. Es ist so banal wie simpel. Die Verbindung zum Straight Edge ist für viele eine Erklärungshilfe. Wenn die Leute sehen, dass harte Musik keine Verbindung zu Drogen- und Alkoholkonsum haben muss, schwinden die Vorurteile und Ängste. Auf einer Metaebene betrachtet ist es wiederum die subversive Natur im Punk und im Hardcore. Sie wird als Bedrohung für eine große historisch gewachsene jüdisch-christliche Kultur angesehen. Es ist ein Angriff auf ihre gesamte Weltsicht.

Ehemalige Tabus wie Homosexualität erfahren heute immer mehr Akzeptanz. Ist Religion heutzutage in einer modernen westlichen Gesellschaft eine Provokation? Der einzige Weg, rebellisch zu sein, wenn auch auf konservative Weise?
Ich habe definitiv das Gefühl, dass religiös zu sein heute im Westen, zumindest in den Vereinigten Staaten, im Gegensatz zur Verwissenschaftlichung der Medien und Unterhaltungsindustrie steht. Rein wissenschaftliche Normen setzen sich durch, ob wir wollen oder nicht. Das gilt insbesondere für das Christentum. Als heute Außenstehender ist mir jedoch aufgefallen, dass viele Kirchen, vor allem in den liberalen Städten an der Westküste, fortschrittlichere Ideale annehmen. Der Zyniker in mir denkt, dass dies wahrscheinlich nur eine überlebensnotwendige zeitgeistspezifische Anpassung ist, aber das ist nur meine subjektive Einschätzung. Ich bin ein Befürworter des westlichen Liberalismus, auch wenn ich einfach in ihn hineingeboren wurde. Es hat allerdings mein ganzes Leben lang gedauert, diese Werte schätzen zu lernen, dafür tue ich das heute um so mehr. Allerdings spüre ich eine Art Niedergang im Sinne eines Imperium Romanum. Wir sind alle im internationalen Vergleich so sicher, so frei und so wohlhabend, dass wir selbstgefällig geworden sind und anfangen, uns von innen heraus aufzufressen. Obwohl ich nicht mehr religiös bin, schätze ich die Religiosität anderer Menschen aus drei Gründen: weil es ihr Recht ist, diese zu haben, weil es heutzutage eine Provokation ist und weil die Vereinigten Staaten historisch gesehen auf gemeinsame übergeordnete Ideale, Erfahrungen und öffentliche Räume angewiesen waren, um ein Gesellschaftsgefüge zu bilden. Ich bin sicher, dass Religiosität dabei eine Rolle spielt. Die starke westliche Rezeption von Nietzsches ,,Tod Gottes“ benötigt etwas, das die spirituelle Leere füllt, die vorher durch Religion und Glauben gefüllt war. Und ich bin jemand, der, wie schon gesagt, den Säkularismus und die Trennung von Kirche und Staat schätzt. Ich denke, es bedarf einer liberalen, säkularen Perspektive, um das empfindliche Gleichgewicht zwischen maximaler individueller Freiheit im klassischen Liberalismus und dem sozialen Zusammenhalt durch gemeinsame Ideale auszutarieren.

Zum Schluss: Was gibt dir Hardcore, das dir Religion nicht gibt? Welche Werte, Ideale oder Ideen?
Dies ist eine schwierige Frage. Der Pessimist in mir glaubt, dass es keinen Unterschied zwischen den beiden Seiten gibt. Es muss jedoch einen Grund dafür gegeben haben, dass ich auch nach meiner Abwendung von Religion noch regelmäßig Hardcore-Shows besuche und längere Zeit selber Musik schrieb und spielte. Aber ehrlich gesagt, ich kann darauf keine Antwort geben. Einen exklusiven Wert oder ein bestimmtes Ideal, das nur in einem Bereich vermittelt wird, sehe ich nicht.

Nach so vielen ernsthaften Fragen: Welcher ist dein Lieblings-Anti-Religion-Hardcore-Song?
„Anchor“ von CHOKEHOLD.