KALTFRONT

Foto© by Amy Carskadon

Mysterienmeister

Warum tue ich mir das an, es ist ja gar nicht so einfach, mit KALTFRONT ein Interview zu führen, das substanziell ist und wo man nicht permanent Gefahr läuft, einer Verarschung aufzulaufen. Aber das ist es ja, was die Band so interessant macht. Genau deswegen macht es Spaß, sich diesem Thema zu stellen und das eine oder andere aus den Antworten herauszuziehen, die einen jedes Mal ein Stück weiterbringen, das Mysterium KALTFRONT ansatzweise zu verstehen. Es ist wieder soweit, die Band hat mit „Spiegel“ ein neues Album vorgelegt und das ist Grund genug, ein paar Fragen zu Politik, Musik und Gesellschaft zu stellen.

Ich starte mit einem Thema, das mit der Stadt und mit der Region, in der ihr lebt, zu tun hat. Die AfD erzielt hier Spitzenergebnisse bei den Wahlen, PEGIDA und die Querdenker demonstrieren permanent und zweifeln das politische System in Deutschland an, wollen es gar abschaffen. Wie lebt es sich 2021 in Dresden und Umgebung?

Jörg: Das Thema „Ewiggestrige“ zieht sich durch fast alle Lieder der Platte, mal mehr mal weniger deutlich, aber speziell in „Ein dreckiger Schleier“ oder auch in „Geh zurück in dein Grab“. Grundsätzlich ist das ja hier nichts Neues. Diese rechte, erzkonservative Mentalität war schon vor der Wende da. So ein Selbsthass, der immer auf andere projiziert wird. Schon damals waren es die „Fidschis“, die „Bimbos“, die „Alis“, oder die „Roten“, die als Sündenböcke benutzt wurden. Jetzt dazu gekommen: die „Wessis“. Ich wohne am Rand der Stadt, sozusagen im Speckgürtel, gutbürgerliche Gegend. Aber auch hier haben 30% AfD gewählt, dazu noch recht viele die Freien Wähler, eine „AfD light“. Ich verstehe überhaupt nicht, was diese Leute damit bezwecken. Die demokratischen Parteien machen leider in deren Augen vieles falsch. Aber deswegen AfD wählen? Was würde für sie dadurch besser? Nichts. Ganz im Gegenteil.

Eigentlich gruselig. Insgesamt bekam die AfD in Sachsen 24,6% der abgegebenen Zweitstimmen, in manchen Städten lag sie bei 35%. Spürt ihr das gelegentlich bei euren Live-Aktivitäten, dass die politische Landkarte in Sachsen so blau ist?
Willi: Bei unseren Konzerten sind viele blau, aber das liegt eher an den günstigen Getränkepreisen. Tatsächlich nehme ich aber nicht wahr, dass sich derartige Leute bei uns rumtreiben. Ich glaube, sowohl unser Profil als auch das der Läden, in denen wir spielen, ist gut genug ausgeprägt, um diese Leute fernzuhalten. Zumal man auch ganz klar sagen muss: In Sachsen gibt es immer noch sehr viele kluge Leute, die sich gegen menschenverachtende Einstellungen und deren Auswüchse engagieren. Ein gutes Beispiel, das den meisten „Dresden-Bashern“ oft unbekannt ist: die Seenotrettungsorganisation „Mission Lifeline“ kommt aus Dresden. Wir wollen jedoch nichts relativieren. Positive Gegenbeispiele ändern natürlich nichts an der Gesamtentwicklung. Gerade der ländliche Raum ist, glaube ich, ziemlich verloren. Deswegen ist es wichtig, gerade dort aktiv zu sein und Sub-Kultur und Zivilcourage zu stärken. Wirklich tolle Beispiele für solche Projekte sind das Dorf der Jugend in Grimma oder das Treibhaus in Döbeln. Und was man auch nicht hoch genug würdigen kann: Das jahrelange beharrliche Engagement der alternativen Konzertläden in kleineren Städten, wie etwa Störfaktor in Zwickau, die Klinik in Löbau, Bunter Hund und Emil in Zittau. Wenn solche Institutionen irgendwann wegbrechen sollten, haben wir ein noch größeres Problem in Sachsen. Leider haben das bis jetzt die wenigsten der meist ja konservativen Kommunalpolitikerinnen und -politiker verstanden.

Nun zum Album. In einem früheren Interview habe ich gelesen, dass es dir, Jörg, Spaß macht, musikalisch „herumzufrickeln“ und neue Sachen auszuprobieren. Dem neuen Album merkt man genau das an. Als intensiver Kenner der KALTFRONT-Musik ist bei einem neuen Album ja eine gewisse Erwartung da, dass es ein Stück weit an die Vorgänger anknüpft. Aber das ist bei „Spiegel“ so gar nicht der Fall. Die Songs haben sich nicht beim ersten Hören ins Hirn gefräst, die vordergründigen Melodien sind eher versteckt und der Sound ist viel dichter. Viele Veränderungen und dennoch ein typischer KALTFRONT-Sound, oder?
Jörg: Wenn wir Erwartungen erfüllen wollen, dann nur unsere eigenen. Unsere Musik war immer etwas sperrig und hat sich Erwartungshaltungen verweigert. Wir haben mit unserer musikalischen Entwicklung auch schon viele alte Fans verprellt. Es gibt in der Punk-Szene Bands, die „auf Nummer sicher“ gehen und damit großen Erfolg haben. Wir frickeln lieber rum und probieren – für uns – neue Sachen aus. „Zwischen allen Fronten“ war als erste „richtige“ Platte nach der Reunion ganz okay, ist aber aus heutiger Sicht nur ein Zeitdokument. „Wenn es dunkel wird“ markierte schon eine spürbare Veränderung, aber „Spiegel“ hat mit alledem von früher so gut wie überhaupt nichts mehr zu tun.
Willi: Musikalisch gesehen haben wir uns wohl weiterentwickelt. Das betrifft unter anderem Songstrukturen oder bestimmte Setups. Zu dieser Entwicklung als Band hat natürlich auch das Personal beigetragen. Da hat sich seit „Zwischen allen Fronten“ 2011 einiges getan: Gitarrist und Gründungsmitglied Blitz hatte die Band verlassen. Auch am Schlagzeug gab es einige Wechsel. Steffen ist nun auch schon fünf Jahre dabei. Seine Qualität und Kontinuität sind ganz, ganz wichtig.

Erstaunt war ich, als ich erfuhr, dass der Mix durch Archi Alert von TERRORGRUPPE vorgenommen wurde. Wie kam es zu dieser Kooperation und wie war die Zusammenarbeit mit ihm?
Jörg: Der Kontakt kam durch Stephan von unserem Label Rundling zustande. Die Arbeit war sehr inspirierend. Archi hat unsere Intention sofort verstanden und weiter gedacht, so dass Dinge entstanden sind, die wir uns nicht hätten träumen lassen. Ich glaube, ihm hat es auch Spaß gemacht.

Mittlerweile muss man keine anderen Bands mehr auflisten, um euren Sound zu beschreiben. Die Bekanntheit ist so gewachsen, dass das überflüssig ist. Vor allem der sehr markante Gesang von Tom und die unverkennbare Gitarre von Willi sind dafür verantwortlich. Punk, Post-Punk, eine Einordnung des Sounds fällt ohnehin schwer. Wie seht ihr das?
Jörg: Danke für das Kompliment. Wir machen, was uns im jeweiligen Moment gefällt, im Rahmen unserer Möglichkeiten. Vielleicht liegt es gerade an gewissen Unzulänglichkeiten, dass ein unverkennbarer Sound entsteht. Perfektion ist meistens langweilig. Unseren Musikstil zu definieren, fällt uns selber schwer. Zur Zeit wird allgemein sehr gern der Begriff Post-Punk benutzt. Ob der auch bei uns passt, weiß ich nicht. Aber in Ermangelung einer Alternative verwenden wir ihn als grobe Einordnung auch.

Einem Interview im aktuellen SAX-Magazin entnahm ich, dass bei dem neuen Album nicht mehr nur Jörg für die Texte verantwortlich ist. Wer ist aktuell in das Schreiben der Texte involviert?
Jörg: Es war schon immer so, dass nicht nur ich die Texte geschrieben habe. Früher hat auch unser ehemaliger Gitarrist Blitz welche geschrieben, Tom schreibt Texte. Meistens ist es so, dass jemand mit einer Textidee ankommt und dann alle mit daran arbeiten. Auf dieser Platte sind zwei komplette Songs, also Worte und Musik, von Willi.

„Alle Lieder sind gesungen / Alle Storys sind erzählt ...“, das sind die ersten Zeilen, die Tom singt. Damit könnte man es doch bewenden lassen, wenn alles gesagt, alles erzählt ist. Trotzdem folgen neun weitere Songs im klassischen KALTFRONT-Textspektrum. Vordergründig düster, problembehaftet und mit viel Interpretationsspielraum versehen. Woher kommt diese negative Energie?
Jörg: Du hast recht, diese Zeilen hätten gereicht. Aber durch Knebelverträge mit unserem Label waren wir gezwungen, in diesem Jahr ein komplettes Album abzuliefern. Daher haben wir auf die Schnelle noch die anderen neun Songs zusammen gestümpert, weil es sein musste. Warum „düster, problembehaftet, negativ ...“? Das könntest du doch alle Punkbands fragen, außer vielleicht die TOY DOLLS. Ich will mich da nicht immer wieder erklären müssen. Das ist keine Masche, aber auch kein Zwang. Wir sind leider nicht in der Lage, lustige Musik zu machen. Bier trinken ist zwar wichtig, aber muss man darüber Songs schreiben? Um dich zu beruhigen, gebe ich zu: Trotz alledem lachen wir auch manchmal – aber nie auf der Bühne!
Willi: Du fragst nach negativer Energie? Klima, Kriege, Krankheit, Menschen ertrinken im Mittelmeer. Das können nicht mal die größten Optimisten ausblenden und leugnen können es nur Ignoranten. Wer sich da mit Gute-Laune-Mucke zudröhnen will, ist bei uns falsch. Die Welt ist gerade kein schöner Ort. Ist sie vermutlich auch niemals wirklich gewesen.

Der Song „Nachts in den Straßen“ beschließt das Album. Dessen Urversion stammt ja sogar noch von PARANOIA. Was war der Auslöser, das Lied noch mal aufzunehmen?
Jörg: Für die Alben „Zwischen allen Fronten“ und „Wenn es dunkel wird“ hatten wir auch einige alte Songs aus den Achtziger Jahren wieder neu aufgenommen, zum ersten Mal unter richtigen Studiobedingungen. Es war uns wichtig, die besten Songs auch noch mal in ordentlicher Qualität einzuspielen. Diesmal ist es mit „Nachts in den Straßen“ nur einer. Es ist einer der wenigen alten Songs, die wir im aktuellen Live-Set noch spielen, aber sehr wichtig, weil er als letztes Stück der schleppende und dröhnende Abschluss ist. Genauso wie auf der Platte. Archi nannte ihn „Monsterwalze“.

Wie geht es eigentlich eurem Drummer Steffen? Die Release-Show stand ja eine Weile auf der Kippe?
Willi: Steffen hatte Ende August einen Fahrradunfall, bei dem er sich das Hüftgelenk gebrochen hat. Er musste operiert werden und hat jetzt ziemlich viel Metall drin. Anschließend war er drei Wochen in einer Reha-Klinik. Er muss noch eine ganze Weile auf Krücken laufen, aber Schlagzeug spielen kann er zum Glück. Wir hatten alle richtig Bammel, das Konzert verschieben zu müssen. Nachdem die gesamte Plattenproduktion sich sehr lange hingezogen hat und teilweise auch ziemlich anstrengend war, wäre das der Gipfel der ganzen Geschichte gewesen. Aber Steffen hat mega reingehauen und war rechtzeitig zum Konzert wieder fit. Wir konnten vorher sogar zwei bis drei Mal proben.