MEMENTUT

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Im Schatten mexikanischer Götter

Wir tragen hier in Europa unsere Nasen schon sehr weit oben, auch wenn sich mancher für aufgeklärt, weltoffen und tolerant hält. Wir diskutieren beinahe schon leidenschaftlich über Cancel Culture und zeigen gerne mit dem Finger auf andere, ohne dabei zu ahnen, was wir damit etwa bei Künstler:innen in Mexiko auslösen. Mit MEMENTUT-Gründer und -Gitarrist Fernando Vaugier musste ich erst mal Freundschaft schließen, ehe er sich auf das Interview einließ. Das gemeinsame Bier muss noch warten.

Fernando, ursprünglich hast du MEMENTUT als Soloprojekt gestartet. Mittlerweile stehst du mit zwei Kollegen auf der Bühne. Fühlt es sich jetzt mehr nach einer Band an?

Das erste Album habe ich komplett alleine gemacht und bei mir zu Hause aufgenommen. Alle Ideen stammen von mir, aber mit der Zeit brauchte ich mehr Power für die Live-Shows, um den Sound, der mir vorschwebt, adäquat umzusetzen. Mit der Zeit wurde es ein Soloprojekt, das bei Live-Auftritten eine echte Band war. Aber eine dreiköpfige Band ist nicht genug für die Musik, an der ich seit Neuestem arbeite. Es ist möglich, dass in Zukunft einige zusätzliche Mitglieder auftauchen werden. Das wird aber eher mit meinem neuen Projekt G.A.D.U.U. passieren, mein neues geheimes Alter Ego, das noch viel ehrgeiziger und bombastischer sein wird als MEMENTUT. Also brauche ich auch mehr Musiker für die Live-Shows. Ich hoffe, dass die Leute bald sehen und hören können, wovon ich spreche. Bei MEMENTUT geht es mit drei Mitgliedern weiter.

Der Name MEMENTUT ist Kunstwort. Wie bist du darauf gekommen und vor allem, was bedeutet es?
MEMENTUT setzt sich zusammen aus dem lateinischen Bergiff „memento“, das heißt „ich erinnere mich“, und dem deutschen Wort „tot“, wobei „Mímentut“ spanisch ausgesprochen wird und sich auf den Ausdruck „Erinnerung an etwas Totes“ bezieht. Es steht für die Idee, sich auf die letzte Erinnerung oder das letzte Bild zu beziehen, das jemand hat, bevor er oder sie in einem früheren Leben stirbt, und ist wie ein zweiter Versuch, diese schemenhafte Emotion zu benennen, die nur die verlorenen Seelen fühlen können. Es enthält auch eine Referenz auf den ägyptischen Gott „Tut“, eine Beziehung und Ähnlichkeit besteht auch zu dem Begriff „Schatten“, der in der Psychologie verwendet wird. MEMENTUT vereint also polysemisch mehrere Bedeutungen in einer Phrase, aber die wichtigste ist vielleicht: „Du bist Mementut, du bestehst vor der Wut Gottes“. Haha.

Dein Album „Into The Shadow Of God“ von 2017 ist reich an verschiedenen musikalischen Elementen. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Achtziger Jahre viele Spuren bei dir hinterlassen haben. Wie schwierig ist der Spagat zwischen prägenden musikalischen Erfahrungen und deiner eigenen modernen Vision?
Dieser Achtziger-Jahre-Sound war eher ein Unfall beim ersten MEMENTUT-Album. Das kam daher, dass ich alles auf sehr primitive und schlampige Weise aufgenommen hatte, weil ich keine Erfahrung als Produzent hatte, haha. Es war nicht mein Plan, diese Art von Sound zu machen. Bei G.A.D.U.U. möchte ich einen futuristischeren, weiterentwickelten Sound haben, weil ich finde, wir müssen aufhören, in der Vergangenheit zu leben, wir müssen immer wieder neue Formen von Musik entdecken. Ich würde mich sehr langweilen, wenn ich nur Sounds im Stil der Achtziger hören würde. Wir müssen etwas Neues schaffen. Ich glaube, das ist immer noch möglich. Ich arbeite bei G.A.D.U.U. an etwas, das ich „Cyborg-Musik“ nenne. Wegen der Kombination von digital und analog, Mensch und Maschine, aber auch aufgrund der Verwendung sehr unterschiedlicher Genres. Zum Beispiel kannst du Black Metal, Post-Punk, gleichzeitig Techno und etwas lateinamerikanische Musik machen, wenn du aufrichtig versuchst, das zu verbinden. Es liegt mir im Blut, denke ich, dieses permanente Vermischen von Dingen. Ich bin ein Mestizo, habe sowohl europäische als auch indigene Vorfahren, bin also eine Person mit vielen Races, die in mir leben, und versuche, sie zusammenzubringen und Harmonie zu finden. Es ist mir egal, wenn einige Leute mich wegen dieser Art zu denken verurteilen oder blockieren. Missverständnisse gibt es immer. Meine wahren Fans wissen, was ich auszudrücken versuche. Ich lebe in der Realität.

Dein Song „Valyrian“ klingt so, als ob er zum Soundtrack der erfolgreichen Netflix-Serie „Stranger Things“ gehört. Zufall?
Eigentlich bin ich kein großer Fan dieser Serie. Die ist schon ganz gut, aber ich glaube, dass ich gerade mal die erste Folge gesehen habe. Nur ein Zufall daher. Aber in Zukunft würde ich gerne Musik für Filme oder Serien schreiben. Man kann als Beispiel dafür meinen G.A.D.U.U.-Track „Inmortal quo“ hören.

Einer deiner Songs hat den deutschen Titel „Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung“. Was steckt dahinter?
Ich mag es, Leute zu verwirren, damit sie ein bisschen mehr nachdenken. Gedankenübungen sind wichtig für einen gesunden und starken Geist. Deshalb werde ich die Leute weiterhin rätseln lassen, warum ich einige Dinge mache. Ich mag die Tatsache, dass jeder meinen Songs seine eigene Bedeutung verleiht. Wenn ich immer gleich erkläre, was ich tue, ist das Spiel vorbei, also lass uns ein bisschen weiterspielen. Ich mag die Vorstellung, wie ein Zauberer zu sein. Ich mag es, Menschen durch das Geheimnisvolle und den tieferen Sinn an Magie glauben zu lassen. Auf der Straße kann ich wie ein normaler Mensch aussehen, im Kreis meiner Freunde bin ich ein bisschen dumm und jemand mit sehr schlichtem Humor, haha, aber auf der Bühne, da bin ich der Hexer.

Geisteskrankheit, Tod und Ruin sind Motive, die sich durch dein Album ziehen. In der westlichen kapitalistischen Welt werden diese Themen in der Kunst als Tabubruch gehandelt. Empfindest du das auch so? Oder gehört das zur mexikanischen Kultur, mit so etwas ganz selbstverständlich umzugehen?
Vielleicht ist es in der Ersten Welt ein Tabu, über so was wie Krieg zu sprechen, in der Hoffnung, dies in der Vergangenheit zu belassen. In der Dritten Welt sieht es anders aus. Hier sind Krieg und Tod die Realität, also ist es ganz normal für uns. Ein Mexikaner spricht darüber. In diesem Land könnte der Unterschied in meinem Fall in den Texten liegen, weil Lieder aus Lateinamerika üblicherweise ziemlich warm und romantisch sind. Aber ich versuche mein Bestes, um nicht über Liebe zu sprechen, weil es Probleme gibt, die die Aufmerksamkeit eher verdienen und die gelöst werden sollten. Das Leiden, die Kriege und die Armut in Ländern wie meinem. Aber auch hierzulande ist es nicht wirklich alltäglich, offen über psychische Probleme zu sprechen. Ich denke, das hat damit zu tun, dass Glück durch künstliches Dopamin die neue Form von Kontrolle und Manipulation ist.

Auf deiner Facebook-Seite schreibst du über die Visualisierung von Politik in deinen Songs. Was meinst du damit? Wie stark beeinflusst die Politik deine musikalische Arbeit?
Die Politik beeinflusst meine Musik stark, aber nur auf intellektuelle und meditative Weise. Ich bin kein Mitglied einer radikalen Gruppe und war es auch nie. Ich fürchte, einige Leute haben das missverstanden und vielleicht einen falschen Eindruck bekommen. Für meinen Teil ziehe ich es aber vor, zu beobachten, zu lernen und zu verstehen. Ich greife nicht ein und betrachte die Geschichte der Menschheit wie einen großen Dokumentarfilm, so wie ein großes Auge ohne Körper und Gesicht. Wir lassen Dinge passieren, wenn es passieren muss, und geben Menschen, die sich künstlerisch ausdrücken, zufällige Hinweise. Am Ende versuche ich, in meinen Songs Sachen anzusprechen, die die Menschen zu verbergen versuchen, und das hat bekanntermaßen viel zu tun mit Politik und staatlicher Kontrolle.

Die BBC hat im Januar 2020 ein kurzes Video über Lord Fer Salas veröffentlicht. Lord Fer Salas ist der Besitzer des Clubs The Real Under. Es ging darum, wie schwierig es ist, in Mexiko Teil der Subkultur zu sein. Wie gehst du mit den Widrigkeiten der mexikanischen Gesellschaft um? Die katholische Kirche ist immer noch sehr einflussreich.
Ich kenne ihn, mag seinen Club sehr und habe dort mehrmals gespielt, bis wir anfangen mussten, uns größere Bühnen zu suchen. Er ist ein Urgestein der mexikanischen Gothic-Szene, also hat er mit diesen religiösen Strukturen weit mehr Probleme gehabt als ich. Aber bei der jüngeren Generation ist es anders, wir haben zumindest in der Stadt viele Freiheiten. Hier ist es normal, dass Menschen die unterschiedlichsten Stile mögen. Die Leute werden immer offener. In einem Entwicklungsland als Musiker zu existieren ist möglich, aber sehr schwierig. In Europa kann einer allein leicht so viel Geld verdienen wie eine vielköpfige Großfamilie in Mexiko. Hier muss die Hälfte der Bevölkerung mit vier bis acht Euro pro Tag auskommen. Vielleicht können sich manche jetzt vorstellen, wie schwer es für eine mexikanische Band ist, sich überhaupt anständige Instrumente zu leisten. Stellt euch vor, was los ist, wenn dir nach einem Gig von ein paar Kriminellen die gesamte mühsam erworbene Ausrüstung geklaut wird. Manchmal kommt so was vor und dann platzen alle Träume. Einmal wäre uns das fast passiert, aber wir haben uns zur Wehr gesetzt und schafften es, in dieser Nacht zu überleben. Unser Traum geht weiter. Als Europäer könnt ihr Bands aus der Dritten Welt zum Beispiel mit dem Kauf von Merchandise unterstützen, aber selbst das kann manchmal zum Problem werden. Denn wenn auf dem Postweg etwas schiefgeht und jemand eine Rückerstattung verlangt, könnten die verlorenen Versandkosten das Geld sein, das diese Menschen sonst für Lebensmittel ausgegeben hätten. Das Porto für ein einziges Paket kosten vielleicht so viel, wie ein Mexikaner für drei bis sieben Tage zum Leben braucht. Zumindest ist das Essen bei uns echt gut und günstig.

Mexiko leidet sehr stark unter der Corona-Pandemie. Offenbar hast du die Ausgangssperre genutzt, um kreativ zu sein. In dieser Zeit hast du zwei neue Songs auf Bandcamp hochgeladen. Wird es bald ein neues Album geben?
Mexiko ist eines der Länder, die am meisten unter der Situation leiden, und ich spreche nicht nur über die Krankheit, sondern auch über das große Problem, das unsere Wirtschaft derzeit hat. Die Mexikaner wissen, wie man mit der täglichen Angst vor dem Tod umgeht. Ehrlich gesagt denke ich, dass die Menschen keinen weiteren Lockdown mitmachen werden. Kugeln und Krieg sind gefährlicher als dieses Virus. Wir könnten noch mehr Probleme bekommen, wenn die Wirtschaft in der Dritten Welt endgültig kaputt ist. Vielleicht ist ein Lockdown in der Ersten Welt leichter durchzustehen, und in einem großen Haus, das hübsch eingerichtet ist, Homeoffice zu machen. Ein durchschnittlicher Mexikaner muss täglich arbeiten, um wenigstens etwas zu essen zu haben. Eigentlich fürchten wir mehr den Hunger oder die Obdachlosigkeit als Krankheit. Als ich ein Kind war, haben meine Eltern durch den Neoliberalismus fast alles verloren und wir litten einige Jahre Hunger. Es scheint, als ob das jetzt wieder Tausende von Familien durchmachen. Vielleicht ist es für die Reichen, die ja diese Maßnahmen beschließen, sehr einfach zu sagen: Hey, lass uns ein ganzes Jahr in unseren Häusern bleiben. Aber für normale, arme Leute, die nicht einmal einen Computer haben, ist es das eben nicht. Ich kämpfe momentan mit einer ernsthaften Form von Anhedonie, einer Art krankhafter Freudlosigkeit, oder etwas sehr Ähnlichem. Daher ist es für mich ein bisschen schwierig, die neuen Projekte zügig zu beenden, aber ich verspreche, dass meine Follower und Fans in der nächsten Zeit etwas Neues und ganz Besonderes erwartet.

Was sind deine Pläne nach der Pandemie irgendwelche Auftritte in Europa?
Ich habe eine große Überraschung für euch alle, aber im Moment ist es noch ein Geheimnis.