WIE DER PUNK NACH ZÜRICH KAM ...

Foto© by Roland Stucky

Teil 2

Heinz Meier (18.10.1951 – 21.12.2021) war ein Pionier der Schweizer Rock-Szene. Er und sein Partner Harry Sprenger, auch bekannt unter dem Namen „Die Blues Brothers der Schweiz“, organisierten mit ihrer Konzertagentur Free & Virgin und unzähligen Partnern ab 1972 gut 3.500 Konzerte. Ebenso waren sie dafür verantwortlich, dass die ersten amerikanischen und englischen Punkbands schon ab 1977 in Zürich auftraten. Dieser zweite Teil ist wie der erste ein Vorababdruck aus der Publikation „Free & Virgin – Heinz Meier. Rock, Chole & Chaos“ von Lurker Grand, die durch Aussagen etlicher Schlüsselpersonen einen Eindruck von der damaligen Zeit vermittelt.

Alec von Tavel

Mitte der Siebziger Jahre habe ich den „Einstieg“ in das Musikbusiness gewagt. Zuerst habe ich für die Free & Virgin Agency Konzertplakate aufgehängt. Als Lohn gab es jeweils zwei Freikarten für die entsprechenden Konzerte. Einer der Mitinhaber von Free & Virgin, Heinz Meier, hat mich zu jener Zeit ermutigt, es doch in meinem Wohnort Herrliberg selbst als Konzertveranstalter zu versuchen. So habe ich zwei Konzerte veranstaltet – mit lokalen Bands, die von Heinz gemanagt wurden. Das erste Konzert mit einer internationalen Band veranstaltete ich genau an meinem 19. Geburtstag, am 24. Januar 1976 im Weißen Wind in Zürich mit den deutschen Ethno-Krautrockern EMBRYO aus München. EMBRYO waren mit TON STEINE SCHERBEN Mitbegründer von Schneeball, dem ersten unabhängigen deutschen Label-Verbund und -Vertrieb, zu einer Zeit, als es den Begriff „Independent Label“ im deutschen Sprachgebrauch noch gar nicht gab.
Nach Patti Smith am 12. Oktober 1976 in der Roten Fabrik (Good News/Thearena) und den RAMONES im Frühling 1977 im Volkshaus dachte ich, die Zeit sei reif für ein Festival mit den drei wichtigsten englischen Punkbands: THE SEX PISTOLS, THE CLASH und THE DAMNED. Nebenbei wurde ich noch bei Free & Virgin Agency Hausgrafiker für Konzertplakate, ein Nebenjob, der mir viel Spaß bereitete und den ich bis Anfang der Achtziger Jahre innehatte.

THE CLASH, NASAL BOYS
01.10.1977 Zürich, Kaufleutensaal

THE CLASH Bombs Switzerland

THE SEX PISTOLS und THE CLASH zeigten sich interessiert, von THE DAMNED gab es vorerst keine Reaktionen. Die Pistols, oder wohl besser ihr Manager Malcolm McLaren, wollten aber plötzlich nicht mehr im Rahmen eines Festivals auftreten. So sah es vorläufig nach einem ganz normalen Auftritt mit den CLASH aus, bis mich Harry Sprenger anrief und sagte, er habe ein Angebot auf dem Tisch liegen für ein Konzert von DAMNED. Das offerierte Datum für den DAMNED-Gig in Zürich war drei Tage vor dem Termin, den ich für die CLASH vorgesehen hatte. Wir beschlossen, gemeinsame Sache zu machen, und ich war nicht unglücklich, in Harry einen professionellen Coach gefunden zu haben. THE DAMNED konnten ihren Termin schieben und so stand das Line-up für das erste Punk-Festival in Zürich am 1. Oktober 1977. THE CLASH und THE DAMNED, sowie die Zürcher Lokalmatadoren NASAL BOYS im Vorprogramm. Bevor ich allerdings die Zusage für THE CLASH bekam, musste ich erst noch bei Andy Knecht von CBS in Zug vortraben und ihn von meinen Fähigkeiten und – vor allem – von meiner Solvenz überzeugen. Andy ist ein netter, ehrlicher Mensch und so eröffnete er mir, dass CBS erst fünfzig LPs von THE CLASH in der Schweiz verkauft hatte und dass wohl einiges von meinem Taschengeld für dieses Abenteuer draufgehen würde. Er sicherte mir aber auch Unterstützung zu, wenn ich mich schon in Unkosten stürze, um einen CBS-Act zu promoten. Ich ließ mich nicht beirren, denn ich wusste, dass die Spezialistenläden, bei denen ich mir meine Platten besorgte, schon ein Mehrfaches dieser Menge direkt aus England importiert und verkauft hatten – ohne dass CBS davon Wind bekommen hatte. Das Ganze wurde wenige Tage vor jenem 1. Oktober 1977 noch etwas abenteuerlicher, als wir erfuhren, dass ein Musiker nach einem Auftritt in Frankreich spitalreif geprügelt wurde und THE DAMNED ihren Zürcher Gig absagen mussten. Trotzdem ist mein Taschengeldkonto nicht geschmolzen, sondern angewachsen. Der Saal war brechend voll und der eindrückliche Auftritt der CLASH tröstete viele über die Absage von DAMNED hinweg. Ich hatte mir als Veranstalter für die Dauer des Konzerts einen Job bei der Security-Crew zugeschanzt, um das Konzert aus der ersten Reihe mitverfolgen zu können.
Andy Knecht und seine Mannschaft haben einerseits die Welt nicht mehr verstanden und waren anderseits sehr beeindruckt und erfreut über den riesigen Publikumsaufmarsch. CBS Schweiz hatte wohl auch etwas Angst davor, einen abfahrenden Zug zu verpassen. Nur so kann ich mir erklären, dass sie noch am selben Abend ihr Interesse an den Zürcher NASAL BOYS bekundeten und diese dann auch im April des Folgejahres unter Vertrag nahmen.
© 2006 Alec von Tavel (Labelinhaber und Independent-Vertrieb 1980-2013)

Lurker Grand
Gesagt, getan! Peter Preissle lernt im BRO Records kurz darauf den ersten Punk aus Zürich – Urs Steiger – kennen. Mit ihm, Terry und Iggie Wiederkehr wird das No Fun-Redaktionsteam gegründet. Kurz nach dem CLASH-Gig im Kaufleutensaal erscheint schon ihre erste Nummer (bis Juni 1980 sollten es 18 werden). Aktuelle und brandheiße News direkt aus London werden darin verarbeitet. Iggie lebt zu der Zeit sowieso vor Ort und tauscht sich mit FM Mürner („Musik aus London“) vom Schweizer Radio aus. Der sendet den heißen Scheiß direkt in die heimischen Stuben, genauer, in die Schlafzimmer der angehenden Punks. Peter und Urs reisen immer wieder mal für Gigs, Kicks und Interviews in die englische Hauptstadt. In diesem Zeitraum dreht sich vieles um die Band SHAM 69 und ihren charismatischen Sänger Jimmy Pursey. Sie wollen und sollen nach Zürich für ein Konzert kommen.

SHAM 69, THE SAINTS
(haben nicht gespielt, dafür die lokalen NO FUN)
14.04.1978 Zürich, Limmathaus

KROKUS 69

Man staune! Aufgrund ihrer sagenhaften Nr. 1-Platzierung in einem namhaften Fanzine (nämlich No Fun, wir dürfen doch wohl auch mal egotrippen, oder?), nahmen die vier Größten des Punk (SHAM 69) enorme Strapazen auf sich, nur um in Zürich zu spielen. Fu-ckin’ great! Es ist 12 Uhr mittags, die Anlage wird aufgebaut. Kommen wir zum Soundcheck: auf der Bühne steht ein KROKUS-Typ. Wie heißt er, das weiß ich nicht, aber er spielt Gitarre. Übrigens waren es die Krokusse, die ihre Anlage zur Verfügung und aufstellten. Fanx a lot, KROKUS! Jimmy begibt sich ne Runde ans Schlagzeug und startet mit dem Krokus ne Session. Yeah, that’s KROKUS 69.
Japs, es ist soweit. Heinz Meier, unser Heinz Meier, tigert auf die Bühne, räuspert sich und macht die Ansage (Heinz, we love you!). Dann Gejohle, wie es sich gehört. Da stehen sie nun tatsächlich auf der Bühne des Limmathauses. Sham! Sham! Sham! Und ab gehts! „I don’t wanna“ zum Auftakt. Wahnsinn! Dann „Red London“. Ich halt’s nicht mehr aus backstage. Also remple ich mich unters Pogo-Gewühl. Das ist Orgie. Dann „Rip off“, „Ulster boy“ – Olsta! Olsta! There ain’t no winner!, George Davis is innocent! Wir auch! They don’t understand! Ich versteh auch nichts mehr. Hey little rich boy! I’m a man I’m a boy! Tell us the truth! ... aber weiter: There’s gonna be a borstal breakout! Dann ist aber auch schon fertig! Nee, überhaupt nichts ist fertig, außer uns und die Band. Es wird gebrüllt. Es folgen also noch jene Zugaben und am Schluss „White riot“! Genau, das „White riot“ von den CLASH (Sorry, Jones von Ostrich, aber es war besser als euer Original!) Jetzt ist aber endgültig Schluss. Jimmy schüttelt noch ein paar Hände, doch Schutzengel Meier ist sofort rettend zur Stelle, als die Kids Jimmy in den Abgrund zu zerren drohen (Heinz rules!).
© 1978 Iggie Wiederkehr mit Zorzi und Anja (aus dem No Fun No. 7, stark gekürzt!)

Lurker Grand
Schon zwei Wochen nach dem SHAM 69-Gig gastierten XTC mit den lokalen KLEENEX im Limmathaus. Laut Peter Preissle gehörte dies noch zum SHAM 69-Deal – wenn ihr die angesagte Band wollt, müsst ihr auch eine neue, noch nicht so angesagte Band buchen. Nun, es kamen dann auch nicht so viele Besucher wie erhofft. Weitere Punk- und New Wave-Konzerte wurden von Free & Virgin für das Jahr angesagt. Das erste, EDDIE & THE HOT RODS, am 21. Mai im Volkshaus. Zwei Tage vor dem Gig verkündigte Heinz Meier, dass ganze 63 (?!) Tickets verkauft wurden und sie das der Band nicht antun wollen. Eine Woche später hätten WAYNE COUNTY & THE ELECTRIC CHAIRS ebenfalls im Volkshaus spielen sollen. Hätten ... und am 24. Juni nochmals die TALKING HEADS für all die, die sie im Jahr davor verpasst hatten, was ja fast alle waren. Jetzt waren BLONDIE auf ihrer Europa-August-September-1978-Tour. Über die Agentur der Konzertveranstalter-Legende Rainer Hänsel wurde ein Konzert für den 24. September im Volkshaus klargemacht. Als Vorgruppe auch die ehemaligen NASAL BOYS unter ihrem CBS-Namen EXPO.

BLONDIE, THE BOYFRIENDS, EXPO
24.09.1978 Zürich, Volkshaus

Heinz, fahr den Wagen vor ...

Ein Erlebnis der sehr speziellen Art hatte ich mit Sängerin Debbie Harry von der New Yorker Band BLONDIE nach der sehr erfolgreichen Show im Volkshaus. Ob im TV oder auf Fotos machte mir diese Dame immer einen ziemlich „abwesenden Eindruck“. Ich hatte bei ihr einfach das Gefühl, als wenn sie ständig irgendwelches Zeugs einnehmen würde.
Kurz nach der Show wollte Debbie Harry aus irgendeinem Grund unbedingt und schnell zurück ins Hotel Nova Park. Der Tourbus sollte beim Volkshaus auf die restlichen Mitglieder der Band warten. Ich wurde gefragt, ob ich die Dame, lediglich begleitet von ihrem Tourmanager, mit meinem Privatauto vorab schnellstmöglich ins Hotel Nova Park bringen könne. Dies, weil die Band für den Transfer noch nicht bereit wäre. Nichtsahnend sagte ich zu, weil das Hotel Nova Park vor allem am späten Abend mit dem Auto in zehn Minuten zu erreichen war. Mein Wagen stand bei den Konzerten jeweils immer in der Nähe vom Volkshaus beim Backstage-Eingang und so sagte ich gerne zu. Miss Harry machte mir auf der kurzen Distanz vom Backstage-Eingang zu meinem Auto nicht den sichersten Eindruck, und ich sorgte mich schon um die Polster in meinem Wagen. Während der kurzen Fahrt zum Hotel war alles in Ordnung. Das Aussteigen aus meinem Auto bedeutete für die Dame dann jedoch schon eine Herausforderung und so beschloss ich, Debbie und ihren Tourmanager in die Lobby zu begleiten. Was sich kurz darauf als großer Fehler entpuppen sollte.
Als wir im Foyer ankamen, standen eine Menge Leute mit Champagner-Gläsern in der Hand herum. Die Damen in schicken Abendkleidern und die Herren im feinen Anzug oder Smoking. Da war eine gediegene Party im Gange. Und wir mussten mitten durch diese gut gelaunte Menge Richtung Lift gehen. Es kam mal wieder, wie es nicht hätte kommen sollen. Plötzlich stolperte Miss Harry und gleichzeitig hörte ich ein widerliches Geräusch. Sie kotzte doch mitten in dieser Partymenge auf den Boden. Ehrlich, ich hätte vor Scham im Boden versinken können. Die elegant gekleidete Menge brachte sich mit einigen spitzen Schreien und sportlichen Sprüngen eiligst in Sicherheit vor dieser sich heftig übergebenden Dame. Miss Harry erntet auch entsprechend missbilligende Blicke. Der Tourmanager schnappte sich seinen Schützling und verschwand eiligst im Lift. Da stand ich dann allein vor der ganzen Sauerei auf dem Boden, und alle schauten mich vorwurfsvoll an.
Das Hotel Nova Park hatte sich im Laufe der Jahre zu einer gediegenen Absteige für alle möglichen Musikgruppen gemausert und so war das Hotelmanagement solche oder ähnliche Szenen gewohnt. Es tauchte dann sehr schnell eine Putzequipe auf. Und ich, ich machte mich schnellstens aus dem Staub.
© 2021 Heinz Meier

Harry, fahr den Wagen vor ...
Am Sonntag 24. Sept 1978 spielte die New Wave-Band BLONDIE ein denkwürdiges Konzert im Volkshaus Zürich. Davor gab es einen „Startreff“ im Hotel Nova Park, wo die Band einquartiert wurde. Da sich niemand Geeigneter auf den Wettbewerb gemeldet hatte, erhielt der zwölfjährige Arnold Meyer einen Anruf von Harry Sprenger von Free & Virgin. Noldi war der Herausgeber des kleinsten (A6) Punk-Fanzines, das die Welt bis dahin gesehen hatte, das SHIT. Die Sängerin Debbie Harry war total hingerissen von Noldi und ihr Gitarrist Chris Stein schoss dieses Foto, das in der hiesigen Punk-Szene bis heute Kultstatus genießt. Obwohl sich Noldi ein exklusives Interview nach dem Konzert mit der Band ergattern konnte, kam es leider nicht dazu, musste er doch am nächsten Tag um acht Uhr wieder die Schulbank drücken.

Zitate aus dem Konzertbericht von Noldi im SHIT No. 4 vom Dez 78/Jan. 79
* Was vorher geschah, ist für euch nicht unbedingt so interessant.
* Es ist merkwürdig, dass Debbie, die Leadsängerin, so klein ist, das merkt man überhaupt nicht bei den Fotos. Sie ist etwa 1.50 bis 1.60 Meter lang.
* Gleich jedoch trat der Veranstalter auf die Bühne. Dieser hielt am Anfang (vor EXPO) den „Vortrag“ über rauflustige Italo-Teds, die nicht hinein dürfen. Er erklärte im Gejubel der Powerpopper, dass drei Bands spielen und dass jetzt THE BOYFRIENDS spielen werden.
* Doch plötzlich waren fast alle geschockt, als alles zitterte und bebte. Ich dachte da an einen Elektroschock und dass es jetzt aus wäre für die Band, aber zum guten Glück war dies nur die Bühnenshow.
* Kurze Zeit später flitzte ein Junge über die Bühne: Wiederum Bühnenshow? Was aber nicht Bühnenshow war, ist, dass solche (es waren Roadies) jeden wegstellten, der anfing zu pogen.
* Debbie Harry und Co. gingen eben nachher hinter die Bühne in die Garderobe mit der Aufschrift „Selig sind die Hässlichen“.
* An jedem von den drei Tischen waren ein paar BLONDIE-Mitglieder verteilt. Und alle mampften zuerst, denn erst nachher gab es Autogramme. Und exklusive (nicht von Fotografen) Fotos.
* Ich konnte leider kein Interview machen, da dies noch später werden würde (bis um 24h, ich musste ja um halb acht bereits wieder in die Schule).
© 1979 Arnold Meier (Herausgeber SHIT-Fanzine)

Lurker Grand
Im Monat darauf zwei umstrittene Herren in der Szene, als Hauptakt: Plastic Bertrand (Roger Jouret) und seine Band, als Vorgruppe Dieter Meier und seine Band, sprich FRESH COLOR. 1979/80 gilt hierzulande als die umtriebigste Zeit von Punk und New Wave. Klar, in England war Punk irgendwie schon durch, scheinbar auch bei Free & Virgin. Für das Jahr 1979 gab es von ihnen kein einziges Konzert mehr in dieser Richtung. Im Jahr 1980 eines, am 9. Mai mit Lene Lovich und im Vorprogramm Dominique Alioths THE WONDERGIRLS. Zwei weitere Konzerte wurden schon davor im März ersatzlos gestrichen, jene von den UNDERTONES und Gary Numan. Am 1. Februar 1980 war dann noch das unsägliche Konzert mit den PLASMATICS, das für uns ja nicht wirklich Punk, sondern Stunk war.

Lene Lovich, THE WONDERGIRLS
09.05.1980 Zürich, Volkshaus
(verschoben auf den 10.05.1980)

Bis heute ihr einziges Schweizer Konzert ...

Ich traf Lene Lovich mit ihrem Gitarristen/Begleiter Les Chappell zum ersten Mal im Herbst 1978 während der „Be Stiff“-UK-Tour. Neben Lene Lovich waren weitere Stiff Acts wie Wreckless Eric, Jona Lewie, Mickey Jupp und Rachel Sweet Teil des Festival-Line-ups. Ich besuchte dort Freunde, die in den Bands von Mickey Jupp und Wreckless Eric spielten. Wir alle verbrachten nach der Show einen denkwürdigen Abend zusammen und sangen endlos „Stand by me“ von Ben E. King in der Hotelbar.
Zwei Jahre danach, ich lebte jetzt in Genf, beschloss ich am 9. Mai, zu Lenes Show ins Volkshaus nach Zürich zu fahren, um Hallo zu sagen. Als ich am Nachmittag im Inneren des Volkshauses ankam, hörte ich viel Geschrei. Lene und ihr Tourmanager Bruce Kirkland stritten sich heftig darüber, ob die Show ohne ihre Ausrüstung stattfinden sollte, die an der schweizerisch-italienischen Grenze blockiert wurde. Lene wollte auf dem Equipment der Support-Band THE WONDERGIRLS spielen. Bruce wollte die Show auf Kosten eines Auftrittes in Frankreich auf den nächsten Abend verschieben. Es gab da auch ein weiteres Problem mit der Mitnahme von zu viel ausländischer Währung über die Grenze. Am Ende setzte sich Bruce durch und die Show wurde auf den folgenden Abend, Samstag, den 10. Mai verschoben. Wir übernachteten alle im Hotel Stoller an der Badenerstrasse. Bruce trank die ganze Nacht Cognac, um sich zu beruhigen. Der Aufritt am folgenden Abend war ein voller Erfolg und ich wurde danach mit dem Tourbus nach Genf mitgenommen, da sie auf dem Weg zum nächsten Konzert im Palais d’Hiver in Lyon ja über Genf fahren mussten.
Danach sah ich noch etliche Konzerte von Lene Lovich in Europa und den USA. Das letzte Mal war wahrscheinlich, als sie Mata Hari in einem Londoner Theater porträtierte. Aber ich habe sie oder Bruce Kirkland nie wieder so außer Kontrolle erlebt wie damals in Zürich!
© 2022 Victoria Strommer (Music Business Consultant)

PLASMATICS, THE BUCKS
01.02.1981 Zürich, Volkshaus

NO HOPE FOR THE WRETCHED

Vorgeschichte

Am 19. Januar 1981 wurde Wendy O. Williams, die Sängerin der US-Punk-Metal-Trash-Band PLASMATICS, in Milwaukee nach einem Auftritt im Palms Nightclub von den Bullen zuerst brutal zusammengeschlagen und dann wegen Obszönität verhaftet. Die angebliche Simulation eines Sexualakts mit einem Vorschlaghammer musste dafür herhalten. Auch ihr Manager Rod Swenson wurde hinter dem Club bewusstlos geschlagen.
In den kommenden zwölf Tagen erholte sie sich von einer gebrochenen Nase, gebrochenen Nebenhöhlen und weiteren Verletzungen. Daraufhin stand eine dreiwöchige Europatour für ihr erstes Album auf dem Programm. „New Hope For The Wretched“ (waren wir damit gemeint?) wurde im Herbst 1980 auf Stiff Records rausgebracht. Zuerst fand ein ausverkaufter Gig in Mailand statt (die stehen ja dort immer so auf Fake-Zeugs). Tags darauf, am 1. Februar 1981, dann das Konzert im Volkshaus Zürich. Dort wurde den PLASMATICS von einem Teil des Publikums eine heiße Reaktion auf ihren Auftritt geboten.

Ein „Blick“ zurück
Ich und viele meiner Punk-Kumpels (CHAOS und F.D.P.-Fraktion, viele LU- und Züri-Punks) waren ja so richtig heiß auf diese US-Truppe. Es sollte ja angeblich laut und brachial werden. Wir zahlten sogar die 25 Stutz Eintritt (Vorverkauf 20), damit Fernseher, Stereoanlage und Auto mit einem Vorschlaghammer zertrümmert oder mit Kettensäge zerstört würden. Alles in der Annahme, dass damit ein Statement gegen die Konsumscheiße und die TV-Glotze gemacht wird. Ist ja eigentlich voll okay, wenn es dann auch wirklich ernst gemeint ist. Alle diese Bühnenutensilien wurden somit vom Management per Rider im Vorfeld angefordert und der Veranstalter organisierte diese für die Band.
Auch ihre sooo „harte“ Musik, gepaart mit dem sooo „provokativen“ Look, absolut lächerlich. Der eine Gitarrist sah aus wie ein Storch in Strapsen, der andere wie ein läppischer Graf Dracula, der Bassist in weißer Schale kopierte den Mr. T-Haarschnitt und noch ein Hallodri am Schlagzeug, der so aussah, als hätten sie ihn von der Band YMCA ausgeborgt. Das war doch nichts mehr als ein billiger Las Vegas-Act oder eine Theäterli-Truppe à la „Rocky Horror Picture Show“. Hinzu kam noch die Frontfrau, das Ex-Porno-Sternchen Wendy O. Williams (Queen of fucking Shock Rock) mit ihrem spärlichen Klebeband-Look, der aus „Mad Max“ hätte sein können. Was für eine Farce! Halt alles so Ami-mäßig inszeniertes Gehabe, um ihr Album zu promoten. Entsprechend wollten wir im Publikum sehen, was sie „wirklich“ so draufhatten. Ganz nach dem Motto: „Entweder sie oder wir! Hey Ho Let’s Go oder eben nicht.“
Der Sonntag, 1. Februar war ein kalter und trüber Tag. Türöffnung hätte um 17:30 Uhr sein sollen. Doch die PLASMATICS waren unpünktlich angekommen und trödelten dann noch ewig rum. Der Veranstalter Free & Virgin brachte am Eingang einige Plakate an, um auf den verspäteten Konzertbeginn hinzuweisen. Somit hatten die Besucher genug Zeit, sich in den umliegenden Kneipen einzuglühen. Als die Türen endlich geöffnet wurden, standen da zwei läppische Securitas am Eingang, die dem Ansturm natürlich nie und nimmer gewachsen waren. Als Vorgruppe spielten die lokalen THE BUCKS ...
Als die PLASMATICS darauf auf der Bühne auftauchten, wurden sie von vielen im Publikum schon mal mit dem Hitler-Gruß empfangen. Auch wurden sie mit allerlei Zeugs beworfen. Da gab es Punks, die sogar ihre geliebten Badges (Buttons) als Wurfgeschosse verwendeten. Und nach knappen 20 Minuten ballerte Wendy mit Platzpatronen aus einer Schrotflinte ins Publikum, was als total aggro rüberkam. Danach hat sie mit dem Vorschlaghammer noch einen TV zertrümmert und dessen Einzelteile in Siegerpose triumphierend präsentiert. Jetzt war aber eindeutig genug Theäterli gespielt und wir waren an der Reihe. Was am nächsten Tag im Blick mit der idiotischen Schlagzeile beschrieben wurde: „Sexy Rocklady schockte das Publikum: Flaschen und Eier flogen – Konzert wurde abgebrochen ...“ Ja, genau!
Als es von unserer Seite losging, flüchteten die Musiker umgehend hinter die Bühne. Das Saallicht ging an und Heinz Meier, der Veranstalter von Free & Virgin, trat kurz ans Mikrofon, um uns wissen zu lassen: „Falls das Publikum sich nicht beruhigt, werden die PLASMATICS nicht weiterspielen.“ Darauf brach die Hölle erst recht los. Die hatten es echt immer noch nicht gecheckt. Wir wollten ja überhaupt nicht, dass sie weiterspielen! Dies traf aber nicht ganz überall zu, denn ein paar Jahre später wurde ich von Welschschweizer Punks gefragt, was damals eigentlich abging, sie hätten das Ganze überhaupt nicht gerafft. Laut eigener Aussage wurde Heinz von einer Bierflasche am Kopf getroffen, nur sein Brillengestell schützte ihn vor Gröberem. Gezielt knallte jetzt Flasche um Flasche auf Verstärker, Instrumente und Beleuchtung, dies unter lautem Gejohle vom Publikum, besonders nach sehr „gelungenen“ Treffern, wie auf die Becken vom Schlagzeug, die dann herunterfielen. Es wurden sogar Mollis gebastelt. Gadler, ein Voralberger Punk, ging hierfür auf die Straße und füllte leere Bierflaschen mit Moped-Benzin ab. Laut Pat von F.D.P. soff er später sogar fälschlicherweise aus einer dieser Flaschen. Ein zerborstener Molotowcocktail verursachte dann einen kleinen Brand auf der Bühne. Babs von den F.D.P. stieg bewaffnet mit einem weiteren Molli in der Hand auf diese und wurde von einem Roadie mit weißem Helm und Feuerlöscher von der Bühne gespritzt. Sie verletzte sich dabei ziemlich arg. Auf einem Foto von Bruno Stettler ist auch Werni von den LU-Punks zu erkennen (siehe sein Buch: „Als wär’s das letzte Mal“), wie er einer Person den Feuerlöscher entwendet. Mich dünkt auch, dass es Killer war, der einen Feuerlöscher durch den halben Saal bis auf die Bühne geworfen hat.
Ein Teil des Publikums war wegen des so kurzen Auftritts total angepisst und wollte das Eintrittsgeld zurück. Andere dachten an Bullen und Tränengas (es war ja Zürich 1981), somit nichts wie raus. Als letzter Akt wurden dann alle Vorhänge im Saal, die sich auf der Seite zur Straße hin befanden, angezündet oder hinuntergerissen und bei den Eingangstüren im Foyer alle Scheiben zertrümmert. Draußen vor dem Eingang gingen auch alle Aushangkästen zu Bruch. Hätten wir Dynamit dabeigehabt, hätten wir das Volkshaus vermutlich in die Luft gesprengt! „Die hatten nochmals Glück, oder?“

„Sounds“, Gewalt und Rock’n’Roll
Drei Tage später, am Mittwoch, dem 4. Februar, sendete das nationale Radio in der „Sounds“-Sendung einen Beitrag mit dem Titel: „Gewalt und Rock’n’Roll“. Eingeladen von Moderator Christoph Schwegler waren Peter Preissle (der Mann mit der Übersicht), Sylvia Holenstein (Sängerin von MOTHER’S RUIN), Heinz Meier (Free & Virgin), Markus Kenner (Low Budget) sowie Dieter Kühne und Philip Mangi (zwei Flaschenwerfer). Zusätzlich in der Runde war Renata Münzel anwesend, die im Auftrag vom Radio SRF mit Wendy O. Williams vor dem Konzert ein Interview geführt und sich noch kurz mit Rams von THE BUCKS nach seinem Gig unterhalten hatte. Ihre Erkenntnis war, dass mehrere Faktoren zum Chaos führten. Zum einen der verspätete Einlass, nur zwei Securitas am Eingang und dann all die Bierflaschen im Saal. Zum anderen aber auch, dass eine Schweizer Vorgruppe mit läppischen 200 Stutz Gage abserviert wurde (was man das Publikum wissen ließ). Dazu muss gesagt werden, dass es generell im internationalen Rockzirkus üblich war, dass eine Vorband, die auf eine Tour mitgenommen wird, dafür bezahlt, sprich: ihr Management oder Label zahlt dafür in der Regel. Was meiner Meinung nach hier nicht zum Tragen kommt, da PLASMATICS ohne Vorband auf Tour gingen und die BUCKS ja auch Publikum brachten. Sie durften ja auch keinen richtigen Soundcheck machen und, wie generell üblich für Schweizer Bands, wurden THE BUCKS vom Tontechniker der ausländischen Hauptband auch noch total scheiße abgemischt. Ihr Schlussfazit war, dass die PLASMATICS mit ihrer Show die Gewalt geradezu herausgefordert hatten und dieses Konzert zu guter Letzt halt auch in einer Zeit passierte, wo es in Zürich immer wieder Auseinandersetzungen auf Konzerten gab.

Das Fazit
Heinz Meier erlaubte Ueli Frey aka Dr. Jazz, vom Balkon aus zu fotografieren, da er offenbar ahnte, dass es zu Ausschreitungen kommen könnte. Für den Blick-Artikel (die „Bild“ der Schweiz) war auch er verantwortlich. Da er zum ersten Mal Zeuge von Ausschreitungen und Aufruhr wurde, rief er am nächsten Tag die Blick-Redaktion an und bot ihnen die Fotos an. Da sie niemanden vor Ort gehabt hatten, forderten sie ihn auf, doch auch ein paar Zeilen zu schreiben. Als er am nächsten Tag den Blick erstand, traute er seinen Augen nicht: Erstens waren seine Fotos beinahe seitengroß (W.O.W’s Boobs zum Dank) und zweitens was er geschrieben hatte, war unglaublich aufgebauscht und mit einem Fake-Interview ergänzt worden! „Plötzlich wurde ich mit Gegenständen beworfen und meine Nase ist jetzt gebrochen.“ Schon wieder?!
Herr Wirz, der Hallenmanager, saß wie üblich während der Dauer des Konzerts nebenan im Restaurant Volkshaus. Dort wurde er auch informiert, dass ein Brand auf der Bühne entstanden sei, und er rief umgehend die Feuerwehr. Diese konnte aber kurz nach Eintreffen wieder abziehen, da ja es sich ja nicht wirklich um einen Brand handelte, der außer Kontrolle geriet. Er und seine Helfer hatten aber noch bis Mitternacht alle Hände voll zu tun, um das Innere des Saales, vor allem auch die vielen zerbrochenen Flaschen und Gläser wegzuräumen. Am nächsten Tag war der Saal schon wieder an eine externe Veranstaltung vermietet. Es gelang ihm sogar, die Vorhänge in der kurzen Zeit zu ersetzen. Der Sachschaden wurde später auf 16.000 Franken beziffert. Laut Wirz hat das Volkshaus die Hälfte des Betrags übernommen. Die andere Hälfte die beiden Inhaber des Konzertveranstalters Free & Virgin. O-Ton Wirz: „Die hatten ja gar nicht das nötige Geld!“ Auch gab es im Konzertsaal von da an nur noch Bier abgefüllt in Plastikbechern. Free & Virgin setzte THE BUCKS nie mehr als Vorgruppe ein und ebenso keine weiteren Schweizer Punkbands. Es hält sich zudem auch das hartnäckige Gerücht, dass unser Wirken beim PLASMATICS-Konzert schlussendlich dann das CLASH-Konzert, welches (vermutlich am 7. Mai) im Volkshaus hätte stattfinden sollen, gekostet hat. Denn kein Züricher Promoter wollte sich mit weiteren Punk-Acts die Finger verbrennen. Entsprechend spielten Strummer und Co. auf ihrer „Mission Impossible“-Tour nur den einen Gig am 6. Mai im Palais de Beaulieu in Lausanne.

Und was meinte Wendy O. Williams im Nachhinein zu der ganzen Sache?
Im November 2020 erschien das Buch „Eve of Destruction: The Wild Life of Wendy O. Williams“. Darin sagt sie: „THE PLASMATICS arrived in Zurich anticipating a good time. The Alps so tranquil, I thought. But we were unaware that there had been several days of violence when a local youth club had been closed down by a reactionary regime. They set fire to the club and started to trash it. I didn’t want to go. I didn’t want to stop the show. I felt if I left the stage, it would get worse. When I learned the story of what was going on, I sympathized with their point of view, but I feel there’s always a better way to work things out than by violence to people or property in any event.“
Aha!?
„The next day THE PLASMATICS were on their way to Belgium and Hamburg. But,“ sagt Wendy. „I’ll never forget that cowardly promoter in Zurich.“