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RAISED FIST

Anthems

Ich gebe es unumwunden zu: Als ich „Anthems“ zum ersten Mal hörte, dachte ich: Himmel! Das sind MOTÖRHEAD’sche AC/DC für Arme. Klar, ein wenig überspitzt ausgedrückt. Aber RAISED FIST klangen bislang einfach anders.

Ganz anders. RAISED FIST waren immer Hardcore – mal im klassischen Stil (früher), mal im New Yorker Stil (zuletzt) –, trotz der einen oder anderen Modifikation, die sie gerne mal an ihrer musikalischen Ausrichtung vornahmen, etwa wenn sie nicht mehr ausschließlich auf Tempo setzten.

Aber dies hier? Schweinerock. Breitbeinrock. Diese Art von „Männer mit zu viel Testosteron im Körper stehen beim Konzert am Tresen und halten grölend die Faust mit dem Bierglas darin hoch“-Rock.

Übel. Kurzum, ich war geschockt. Enttäuscht. Also hörte ich „Anthems“ noch mal. Schließlich muss das Bild, das sich der Rezensent von der zu rezensierenden Musik machen will, umfassend sein.

Das setzt ausgiebiges Hören und Bewerten voraus. Und auf einmal sah die Sache ganz anders aus. Ein bisschen am Lautstärkeregler gedreht (in Richtung lauter) – und „Anthems“ entwickelte Charme.

Wumms. Groove. Vor allem aber: Qualität. Vielleicht war ich beim ersten Durchgang nicht konzentriert genug? Hielt mich zu sehr an einzelnen schwächeren Momenten auf? Und die hat diese Platte nach wie vor.

Auf jeden Fall aber schälten sich nun Riffs aus diesen zehn Arrangements heraus, die punktgenau saßen, sich ins Hirn frästen und dort eine Schneise der rockmusikalischen Verwüstung schlugen, wo zuvor noch Fragezeichen aufgepoppt waren und in der Gegend rumgestanden hatten.

Ich weiß jetzt, „Anthems“, das siebte Album dieser schwedischen Band um Frontmann Alexander Hagman, ist ein Brett, das rockt und rollt, als würde morgen die Welt untergehen, weswegen sich alle noch mal die Seele aus dem Leib tanzen und schreien müssen.

Songs wie „Venomous“, „Murder“ oder „Into this world“ haben tatsächlich eine Qualität, die man dieser Band bislang gar nicht zugetraut hatte und die erst jetzt, ohne das rasende Tempo drumherum und ohne das sattsam bekannte Auf-Teufel-komm-raus-Geballer, ihre Wirkung entfalten: Es ist die Qualität des Riffs, der dröhnenden Basslinie, des fetten Schlagzeugsounds, die die reine Physis transportiert, die einem durch Mark und Bein fährt und hier einmal nicht im Soundgeballer untergeht.

Ja, ein Song wie „Oblivious“ ist ob seiner arg aufgetragenen und dem Original weit unterlegenen Lemmy-Kopie zumindest dezent peinlich. Und mit einer, nun ja, Ballade wie „Unsinkable II“ tun sich RAISED FIST schwer.

Sehr schwer. So etwas ist verzichtbar. So etwas ist alles, nur keine „Anthem“, keine Hymne. Aber der Rest? Wow! Ja: Wow! Diese Band hat mich überzeugt, auch den neuen Weg mitzugehen und zumindest mal zu schauen, was in Zukunft noch daraus werden könnte.