Bulgarien

Bulgarien, da denkt man vielleicht an Bomben, die im Kosovo-Krieg gelegentlich Abstecher dorthin machten, oder so Sachen wie Kriege generell, Fremdherrschaft, Stalinismus, Warschauer Pakt, Niedergang des Kommunismus, oder sonstiges, was mit Geschichte und dem Ostblock zu tun hat. Klar, die Historiker und Geographen da draussen wissen´s wieder besser und können die Liste fortführen, aber worum´s hier eigentlich geht, das ist Punkrock. Denn diesen und Musik im allgemeinen verbinden - obwohl es hier schon so etwas wie eine Szene, wenn auch eine relativ kleine, und viele gute Bands gibt - wohl die wenigsten mit diesem Land. Ein Mann der das ändern möchte und versucht Bands wie KOKOSHA GLAVA, FACE UP, CONFRONT oder DDT - letztere zwei gehören übrigens zu den ersten bulgarischen Punkbands überhaupt - einer breiteren Masse zugänglich zu machen, ist Ivailo Tonchev. Seit fünf Jahren veröffentlicht er auf seinem Label AON Records Platten , schreibt für diverse Zines , und hat sicherlich seinen Teil dazu beigetragen, dass bulgarische Punk- und Hardcore-Bands heutzutage auch in einigen gut sortierten "westlichen" Mailordern zu finden sind. Der gute Mann investiert dafür sehr viel Zeit und Geld, und weil es ihm gerade an letzterem mangelt, veröffentlichte Paranoia! Recordings ihm zugunsten ein Benefit-Tape (siehe dazu Demo-Reviews #38), das zumindest mein Interesse an der Sache weckte, und mich dazu inspirierte, Ivailo per Brief und Email ein paar Fragen zu stellen. Dieses Unternehmen sollte dann zwar erheblich länger dauern als erwartet, aber jetzt isses soweit ...

Ok, erzähl uns einfach mal ein bisschen über dich...


"Wow! Über mich? Also, ich bin 27 Jahre alt, männlich. Ich gründete 1995 eines der allerersten bulgarischen Underground-Labels, und soviel ich weiss ist AON momentan das einzige richtige Underground-Label - die anderen gaben auf oder wechselnden in den "Overground". Also ich lebe in Stara Zagora, einer staubigen, verschmutzten Industriestadt im Herzen Bulgariens, wo ich als Lehrer in einer "Technical School" tätig bin. Der Job ist scheisse und verdammt unterbezahlt mit ca. 140 DM monatlich. Ich habe zwar viel Freizeit, möchte den Job aber trotzdem bald an den Nagel hängen, zuviel Anstrengung für mein schwaches Hirn ... Ich liebe es zu lesen, zu reisen - ich war noch nie ausserhalb Bulgariens, und ich glaube kaum, dass ich es jemals sein werde -, mein Label zu betreiben, Platten zu sammeln und natürlich Stuff wie das hier! Ich bin ein Platten-Maniac und besitze eine gigantische Sammlung, die Scheiben aus der ganzen Welt enthält. Musik gibt mir ziemlich viel, was ich im sonstigen Leben vermisse. Ich möchte mich da jetzt aber nicht auf Punk alleine beschränken, da ich auch viel anderes Zeux wie 60´s Garage/Psych Rock, New Wave oder Industrial höre, aber es war Punk, der mein Leben veränderte. In den Achtzigern entdeckte ich zuerst die DEAD KENNEDYS und THE EXPLOITED, dann die SEX PISTOLS, und die haben mein Leben und meine Einstellung verdammt nochmal verändert. Und sie inspirieren mich auch heute noch, und ich denke jeder von uns braucht seine speziellen Kicks, und ich kriege diese Kicks eben durch Musik hören, Platten veröffentlichen, lesen, und auch dadurch, meine Ansichten mit anderen Menschen zu teilen. So bin ich und keiner kann das ändern."

Schön, und wie stehst du jetzt speziell zu Punkrock?

"Punkrock?... Hm, ich liebe ihn! Das klingt jetzt sicherlich romantisch, haha. Ja du kannst mich den ersten Punkrock-Romantiker nennen. Ich liebe Punk als Lebensstil, als Musik und als Bewegung, und ich versuche mir was vom Punk für mein tägliches Leben herauszunehmen und das finde ich wichtig. Punk ist nicht einfach nur Mode und Lärm, du kannst dich nicht ständig über das Töten von Tieren aufregen, und dann trotzdem Fleisch essen oder einen Hund auf der Strasse treten. Das ist nicht meine Vorstellung davon! Punk macht dich nicht besser als den Durschnittsbürger, das liegt an dir, du musst dich selbst verbessern. Ich dachte immer Punk macht mich anders, was für ein Witz! Ich merkte irgendwann, dass du aus dir heraus anders werden musst. Die Musik gibt dir lediglich die Kraft dazu, der Rest liegt an dir selbst!"

Kannst du jetzt bitte ein bisschen über Bulgarien erzählen?

"Bulgarien? Mein Heimatland. Gegründet 681 existierten wir fast dreizehn Jahrhunderte als "Nation". Früher einmal war Bulgarien ein grosses Reich, ein starkes Land, aber die geschichtliche Entwicklung belehrte uns eines besseren: Fünf dieser dreizehn Jahrhunderte unter türkischer Herrschaft, zwei unter römischer, das machte aus uns einen Staat lahmer Arschlöcher. Rußland half uns etwas unabhängig zu werden, und zu Beginn dieses Jahrhunderts war Bulgarien das dann auch fast, aber zwei Kriege - Balkankrieg (hier sind nicht die Konflikte der 90er Jahre, sondern die Balkankriege von 1912, wo zuerst Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland siegreich gegen die Vormachtstellung der Osmanen kämpften, und es anschliessend zu Kampfhandlungen zwischen den Siegerstaaten kam. hc) und Erster Weltkrieg machten das wieder zunichte. Dann haben wir uns einige Jahre erholt, bis der Zweite Weltkrieg kam und uns erneut in den Arsch trat. Wir hatten nicht nur die Stellung von Sklaven, sondern auch das "Glück" ständig auf der falschen Seite zu stehen. Das Heer hat zwar nie wirklich verloren, aber unsere Politiker versagten dafür komplett. Nach der Revolution 1944 wurde Bulgarien sozialistisch und die verrückteste Phase der Geschichte begann. Wir wollten die dreizehnte Sowjetische Republik werden, ruinierten die Natur, bauten eine Schwermetallindustrie auf und die strenge Staatskontrolle setzte ein, wo jeder fünfte seine Finger drin hatte, und da waren immer zwei andere die ihn beobachteten ... Dann wollten wir den Frieden, organisierten pompöse Friedensfeste, obwohl wir eine weltweit führende Waffenindustrie hatten. Man hat uns immer eingeredet wie gut wir leben - so gut, dass wir es nicht einmal bemerkt haben.

Ich wurde 1973 geboren, und hab so von all dem ein wenig mitbekommen, ich lebte immerhin sechzehn Jahre in der "glorreichen sozialistischen Gesellschaft". 1989 kamen dann die Demokraten. Die erste Welle der "wahren Dissidenten" - diese Dissidenten waren Dissidenten innerhalb der Partei, und keine wirkliche Opposition wie in anderen Ländern - versuchte die Fehler des alten kommunistischen Regimes wieder gut zumachen. Das geschah aber nie, wir waren die gleichen lahmen Sklaven wie zuvor, und ich sehe da echt keinen Unterschied zwischen 1982 und 1992, die selben alten Lügen. Heute sagen wir wie gut es uns geht, während wir unsere ganze Energie mit dämlicher Propaganda und Lügen verschwenden. Aber ich liebe Bulgarien und die Absurdität dieses Landes."

Wie sieht´s mit der Szene bei euch aus, gibt´s Punx, besetzte Häuser, autonome Gruppierungen oder so?

"In dieser Hinsicht ist Bulgarien ein armseliger Fleck, du kannst es mir glauben oder selbst herkommen um dich zu überzeugen. Keine Squats, keine linken Gruppierungen, nichts. Das war aber nicht immer so, früher gab es eine sehr lebendige Szene, aber dann wurde Punk plötzlich zum Trend. In den 80ern gab es massig Punks, eine riesige Untergrundbewegung, zwar vom Staat unterdrückt, aber sie war da, und es machte echt Spass auf kleine Gigs - meist illegal - zu gehen und durchs ganze Land zu reisen und neue Menschen kennenzulernen. Der Höhepunkt war Anfang der Neunziger erreicht, als die Errichtung der Demokratie begann. Aber dann 92/93 war plötzlich alles anders. Keine neuen Bands mehr, viele der alten lösten sich auf, und die Leute der Bewegung verpissten sich sonst wohin. Sie verloren einfach das Interesse an der Sache, das war wirklich eine harte Zeit für uns verbliebene Punks. Dann nach einigen Jahren der Stille kehrte der Punk zurück. Das war dann aber diese GREEN DAY/NOFX/MTV-Welle. Die Strassen füllten sich mit Mode-Punks, die ein von MTV gesteuertes Leben führten, und gerade diese jungen Menschen machen auch heute immer noch denn grössten Teil derer, die sich Punk nennen, aus. Ich glaube aber, dass die Punkszene derzeit wieder Aufwind bekommt, viele neue Menschen kommen dazu, einige von ihnen bleiben auch nach ihrer Teenagerzeit dabei. Aber alte Säcke wie ich sind dennoch rar in der Szene, das Durchschnittsalter beträgt 14-16. Es gibt aber schon wirklich alte Gestalten, so zwischen 30 und 45, aber das ist eine andere Geschichte ..."

So, sprechen wir jetzt über Musik, erzähl mal, gibt´s Bands und kennt die - ich meine jetzt vor allem im Ausland - auch wer?

"Das beantwortete ich teilweise schon mit der vorigen Frage. Ich nenn dir jetzt einfach mal ein paar Namen von echt guten Bands, die´s immer noch gibt, wie z.B. SCROLETICS, LAST HOPE, FACE UP, EVERYTHING IS GRASS, KOKOSHA GLAVA (auschecken! hc), FACE UP oder BFH. Es gibt natürlich mehr Bands als diese, mehr Veröffentlichungen, aber die genannten sind die besten! Seit 1995 arbeite ich daran, diese Bands im Westen bekannt zu machen, und bis jetzt sind die Ergebnisse ganz gut. So habe ich versucht, heimische Bands auf ausländische Compilations zu bringen und in einigen Fällen konnte ich durchaus Erfolg verbuchen. Ich schrieb auch viele "Scene Reports" für Zines auf der ganzen Welt, etwa das MRR, veröffentlichte und vertrieb viel bulgarischen Stuff. Trauriger Weise kümmert sich kaum jemand um Bands von hier, die Leute sind einfach auf diese "Klischee-Bands" fixiert und geben einer unbekannten Szene keine Chance. Ausserdem gibt´s fast keine CD und Vinyl-Veröffentlichungen, der Schwerpunkt liegt auf Tapes, und es gibt eben grosse Abneigung gegenüber Tapes, warum auch immer. Es gibt wohl keine billigere Möglichkeit Musik unters Volk zu bringen, vor allem von so einem armseligen Fleck aus wie Bulgarien. Es gibt massig Bands die man kennen sollte, also checkt unsere Szene. Ihr werdet überrascht sein!"

Und der Markt im Inland?

"Also für Punk-Stuff ist der nicht so gut. Von den alten Sachen wirst du in grösseren Läden schwer was finden. Das liegt nicht unwesentlich an den dämlichen Copyrightregelungen und strengen Gesetzen. Für eine einfache Tape-Veröffentlichung brauchst du schon haufenweise Dokumente, nicht zu sprechen von einer Platte oder CD. Es gibt aber schon einige Punk-Tapes/CDs auf dem Markt, und ich mach immer noch Kopien einiger Vinylsachen. Ich vertreib mein Zeux über verschiedene Companies und Distros weltweit. Am besten verkauft sich mein zweites Tape, KOKOSHA GLAVA´s "Punk Anarchy Nihilism 89-95" Ich betreibe auch Mailorder, falls jemand meine Liste checken möchte. Ich versuche meine Preise, vor allem für die bulgarischen Käufer, niedrig zu halten."

Also kriege ich bulgarisches Zeux auch ausserhalb Bulgariens?

"Wie schon erwähnt, einige Vertriebe haben weltweit bulgarische Musik. Du kannst dich also an mich wenden oder an Ya Basta: Ya Basta, c/o K. Schmitz Rheinhauser Str. 172, 47053 Duisburg, Email: post@ya-basta.de, Internet: www.ya-basta.de"

Wie steht's mit ausländischen Releases, bekommt man in Bulgarien Sachen von Labels wie Fat Wreck oder Epitaph?

"Vor einigen Jahren hast du gar nix bekommen, heute kriegst du fast alles. Die beiden von dir genannten Labels werden von One Point Records vertrieben, aber ich glaube kaum, dass du eine anständige Scheibe in ihren neuen Katalogen finden wirst ... Die haben beide hunderte von Veröffentlichungen, die alle nach diesem Klischee-Pop-Punk klingen. Aber gerade nach diesem Sound besteht die Nachfrage, oder auch nach so Stuff wie PANTERA, KORN oder BIOHAZARD. Aber alles auf CD, versuch eine 7" zu verkaufen, Vinyl ist tot! CDs sind ziemlich teuer, so zwischen 15 DM und 40 DM, das ist ganz vom Laden abhängig, aber überlege mal, ein Lehrer wie ich verdient 140 DM monatlich! Aber einige Kids haben reiche Eltern, und wir kriegen hier auch die neuesten Trends relativ rasch. Aber wenn du was Anständiges willst - vergiss es!"

Sprechen wir jetzt über deinen Platz in der Szene.

"Mein Platz? Also, AON hatte die erste bulgarische 7" Veröffentlichung in Sachen Punk - "Bulgarian Archives" -, die ersten DIY-CDs - CONFRONT und DDT - und über 20 Tapes mit lokalen aber auch ausländischen Bands. Ich glaube, ich habe meinen Platz in der bulgarischen Punk-Geschichte, haha. Meine letzten Veröffentlichungen waren Tapes von THE DIRTY SCUM und BARIS MANCO. Ausserdem habe ich einige Sublabels, wo ich Bootlegs weltweiter Raritäten veröffentliche. Ich liebe Bootlegs sowieso und auch die Idee, gewissen Klassikern neues Leben einzuhauchen. Ich schreibe auch für diverse Zines, bin generell ziemlich aktiv in der Szene und versuch meinen Teil zum Wachstum dieser beizutragen. Hey, ihr da draussen, auch eure Unterstützung wäre gefordert!"

1999 wurde auf dem Wiener Label Paranoia! Recordings das Benefit-Tape "Even if we can´t change anything, we won´t stop trying" für AON Records veröffentlicht. Nimm bitte kurz Stellung dazu.

"Hallo Marco! Ich bin ihm und allen anderen, die diese Benefit-Compilation möglich gemacht haben, grossen Dank schuldig. Es kam etwas Geld rein, das in AON gesteckt wurde. Du kannst damit klarerweise nicht Millionen von Tapes veröffentlichen, aber es ist schon eine tolle Erfahrung mit Freunden weltweit zu kooperieren, ganz im Sinne von Unity und DIY-Ethik! Es war auch nicht der Gewinn, der am meisten zählte, sondern die Tatsache, dass dir Leute, die hunderte von Kilometern entfernt sind, sich dazu entscheiden dir zu helfen! Cheers Friends!"

Das wars eigentlich, noch Abschlussworte von deiner Seite?

"Gut, ich muss gestehen das war erst mein zweites Interview bisher. Gruss an die Ox-Leser! Wenn ihr mehr über Bulgarien wissen wollt, kontaktiert mich einfach, für $1 Rückporto gibt´s meine Liste, oder ich schick sie euch per Email. Dank dir, H.C."

Danke fürs Interview, Gruss nach Bulgarien!