AGNOSTIC FRONT

Foto© by Claudia Koetters

Kein Ende in Sicht

Das letzte Interview mit Roger Miret, dem Frontmann von AGNOSTIC FRONT, in Ox Nr. 147 trug den Titel „Der Anfang vom Ende?“. Zu diesem Zeitpunkt vor knapp zwei Jahren hatte Miret mit seiner NYHC-Band so ziemlich alles erreicht, was man sich nur erträumen kann: eine authentische Autobiografie, die Band-Doku „The Godfathers of Hardcore“, mit „Get Loud!“ ein tolles Album sowie ausverkaufte Hallen als Headliner der Persistence Tour. Mit der Corona-Pandemie fegte eine Welle von Schwierigkeiten über AGNOSTIC FRONT und vor allem über Roger Miret hinweg: Eine Krebserkrankung inklusive langwieriger Sekundärinfektion, gekoppelt mit erheblichen Behandlungskosten sowie fehlenden Einnahmen aufgrund der weltweiten Konzertverbote. Zudem schied Drummer Pokey Mo aus persönlichen Gründen aus und im Sommer 2022 starb der langjährige Freund und Tourmanager Eric „8-Ball“. Wir sprachen mit Roger vor der Show Ende Oktober in der Sputnikhalle in Münster, um mal nachzuhaken, wie er diese Schicksalsschläge verarbeitet hat.

Roger, ihr spielt gerade eure „Get Loud!“-Tour in Europa. Ist das nicht ein wenig spät? Das gleichnamige Album kam doch bereits 2019 raus.

Ja, was sollen wir machen?! Du bist vielleicht gut, kurz nach dem Release kam ja diese komische Sache mit einem Virus aus China, ich weiß nicht, ob du davon gehört hast. Immerhin konnten wir damals wenigstens noch die Persistence Tour spielen, aber auf so einer Festivaltour ist der Zeitslot ja immer viel kürzer, als wenn man allein unterwegs ist. Da kommen vielleicht ein, zwei neue Songs auf die Setlist, sonst bekommen die Leute schlechte Laune, weil man auf beliebte Klassiker verzichten muss. Und glaub mir, ich bin sehr unglücklich darüber, dass wir „Get Loud!“ damals nicht gebührend live vorstellen konnten, denn ich finde nach wie vor, dass es ein sehr gutes AGNOSTIC FRONT-Album ist. Wir wollten ja eine richtige Welttournee machen, die aber wegen der Seuche komplett gecancelt werden musste. Aber wie heißt es doch: Besser spät als nie. Trotz der Pause ist „Get Loud!“ aber offenbar viel gehört worden, denn es scheint den Leuten gut zu gefallen. Zu Songs wie „Urban decay“ oder „I remember“ wird gut abgegangen und das Publikum ist textsicher. Auch ein Set mit „AF stomp“ zu beginnen, fühlt sich gut an.

Wie läuft die Tour gerade? Immerhin habt ihr bereits vor knapp zwei Monaten auf vielen Festivals hier in Europa gespielt.
Die Tour startete Anfang Oktober in England und Frankreich und wir hatten viel Spaß da. Alle Konzerte auf französischem Boden waren richtig gut besucht. Hier in Deutschland war natürlich die Show im Berliner SO36 der Hammer, aber das war zu erwarten. Immerhin haben wir da vor einigen Jahren eine Live-EP im Zuge von „The Godfathers of Hardcore“ aufgenommen. Köln und Hamburg waren auch ziemlich gut und hier in Münster ist für einen Donnerstagabend auch einiges los. Keiner macht in der Woche die Buden immer komplett voll, aber insgesamt bin ich zufrieden. Vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Touren wegen mangelnder Besucherzahlen zuletzt im Vorfeld gecancelt werden müssen. Selbst große Bands wie ANTHRAX spielen ja hier ihre Jubiläumstour nicht, das muss man sich mal vorstellen. Diese Virus-Sache hat ganz schön reingehauen, und ich kann verstehen, dass Leute, die schon vier Karten für Konzerte in der Schublade haben, die nicht gelaufen sind, irgendwann ins Grübeln kommen.

Mit euren Supportbands CHARGER, SPIRIT WORLD und LAST HOPE habt ihr auf der „Get Loud!“-Tour einen richtig bunten Mix mit an Bord.
Meiner Meinung machen wir doch alle Rockmusik, oder? Mit CHARGER, die mit ihrem metallischen Punkrock alles kurz und klein hämmern und deren Album „Warhorse“ ein richtiger Killer ist, macht es einfach unglaublich viel Spaß, auf Tour zu sein. Ist es nicht so, dass man als Zuschauer auch mal überrascht werden will? Die Thrash-Metalcore-Band SPIRIT WORLD macht vielleicht keinen Oldschool-Hardcore, ist aber live ein richtiger Hingucker. Nicht nur wegen ihrer Südstaatenoptik. Mit LAST HOPE aus Sofia verbindet uns eine enge Freundschaft. Wir haben lange nicht mehr zusammen gespielt und die Jungs aus Bulgarien gehören schon fast zur Familie. Wir vertrauen uns gegenseitig, so dass Alex auch hin und wieder den Posten des Tourmanagers übernimmt.

Roger, es ist schön, dich mal wieder auf einer Bühne zu sehen. Das hätte man im September 2021 nicht unbedingt denken können, nachdem man die schrecklichen Bilder von dir aus dem Krankenhaus gesehen hat.
Ja, ich bin sehr froh, wieder Shows spielen zu können. 2021 gab es Phasen, da ging es mir so schlecht, dass ich glaubte, es nicht schaffen zu können. Da gab es Situationen, in denen ich nur mit mir selbst beschäftigt war und mein Umfeld komplett ausgeblendet habe. Wenn man alleine in so einem beschissenen Krankenzimmer liegt, gibt viele Nächte, in denen du wach bleibst und denkst und denkst und denkst und denkst. Wenn du Krebs hörst, kommt dir als Erstes in den Sinn, dass du morgen sterben wirst. Und dann stellst du dir deine Kids vor und wieder geht das Denken los. Ratter-ratter-ratter. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo du sagen musst: Junge, irgendwie wirst du da durchkommen. Du musst es durchziehen. Und das war die gleiche Situation wie Ende der Achtziger Jahre, als ich im Knast war. Genau das Gleiche: Du behältst deinen Kopf oben und ziehst das durch. Schon damals, als ich die Inhaftierung durchmachen musste, tat es mir gut, allein zu sein. Heute wie damals wollte ich oft niemanden sehen, ich wollte mit niemandem reden. Ich habe alleine viele Spaziergänge auf der Station gemacht. Und als meine Erkrankung öffentlich bekannt wurde, war ich dankbar, dass alle mir meinen Freiraum weiterhin gelassen haben. Denn ich kenne viele Leute weltweit, und alle waren besorgt, alle fragten: Was ist los? Klar, konnte ich sie verstehen, aber ich wollte wirklich über nichts reden. Ich wollte nur allein in meinem Raum sein. Die einzigen Personen, mit denen ich gesprochen habe, waren die Ärzte. Das ging mir richtig auf die Nerven: So viele verdammte Ärzte; so viele verdammte Injektionen, Operationen, Scans. Was die alles gemacht und in mich reingepumpt haben. Ich bin tatsächlich überrascht, dass ich noch am Leben bin. Aber es scheint ja geklappt zu haben, denn die Krebserkrankung ist komplett in Remission.

Merkst du denn deine Erkrankung jetzt noch physisch?
Mein Problem war ja zudem noch, dass ich mir in Folge der Krebsbehandlung eine Infektion zugezogen habe. Ich hatte fast zwei Wochen lang durchgehend hohes Fieber. Das hat richtig reingehauen und ich war völlig im Arsch. Mittlerweile geht es mir körperlich wieder ganz passabel, ich schaffe die Shows wirklich ganz gut, muss aber auf meinen Körper hören. Also ich war in manchen Lebensabschnitten schon fitter, aber für dich reicht es noch locker, hahaha.

Das glaube ich dir, du machst ja auch Jiu-Jitsu ...
Da ist es genauso. Auch hier muss ich Abstriche machen, da ich lange nicht trainieren konnte. Aber mittlerweile war ich schon wieder regelmäßig auf der Matte und habe auch schon wieder an Fitness zugelegt. Auf Tour habe ich immer schon Probleme mit dem Jetlag, deshalb müssen mir viele Powernaps über den Tag helfen. Mittlerweile kann ich überall schlafen: im Backstage, im Bus, auf den Monitorboxen und vor dem Mikro, hahaha.

Im Zuge deiner Erkrankung gab es einen weltweiten Spendenaufruf auf der Plattform gofundme.com mit dem Titel „Roger Miret needs our help“. Es war sehr bemerkenswert zu lesen, dass mittlerweile knapp Zweidrittel der Behandlungskosten über diesen Aufruf getilgt worden sind.
Definitiv. Was dahingehend für eine Teilnahme und Engagement von Menschen aus aller Welt gekommen ist, war unfassbar. Obwohl man das Internet und auch die sozialen Netzwerke oft verteufelt, hier hat es super geklappt. Wie viele Menschen die Seite geteilt haben oder auch nur kleine Beträge spendeten, kann ich gar nicht aufzählen. Ein großes finanzielles Loch hat natürlich noch mal die anschließende Infektion gerissen, aber auch ohne sie war es unfassbar teuer. Wir sprechen hier von mehreren Hunderttausend Dollar. Das ist eben Amerika, da existiert ein anderes Bezahl- und Versicherungssystem im medizinischen Bereich. Manchmal wünschte ich mir, dass ich in Europa leben könnte, denn da seid ihr hier wirklich besser abgesichert. Trotzdem möchte ich allen, die mir bei diesem Aufruf geholfen haben – auch wenn sie nur die Spendenseite weiter verlinkt oder gepostet haben –, meinen tiefsten Dank aussprechen. Das ist doch genau das, was Hardcore ausmacht.

Als ich euch im Sommer das letzte Mal hier in Münster auf dem Vainstream Festival gesehen habe, war bereits euer neuer Drummer Danny mit am Start. Er reiht sich in eine lange Schlange von Trommlern bei AGNOSTIC FRONT ein, oder?
Ja, wir haben einen hohen Verschleiß an diesen Musikern, hahaha. Liegt vielleicht daran, dass es so anstrengend ist. Nein, Scherz beiseite. Pokey hatte ja bereits vor zwei Jahren aufgrund persönlicher Prioritäten die Band verlassen und so ist Danny eigentlich schon viel länger bei uns. Er hat schon bei anderen Bands aus New York wie BIOHAZARD oder CROWN OF THORNZ gespielt und wir kennen ihn gut. Wir hoffen, dass er uns lange erhalten bleibt, hahaha. Nicht dass wir uns das nächste Mal wieder über einen neuen Drummer unterhalten müssen.

An dem Tag des Vainstream Festivals erreichte euch eine traurige Botschaft: Euer langjähriger Freund und Toumanager Eric „8-Ball“ Woskowiak wurde in den frühen Morgenstunden leblos in seiner Berliner Wohnung gefunden. Die schlechten Nachrichten reißen nicht ab, oder?
Ja, das war schon eine harte Nummer und ich musste auch eben wieder daran denken. Im Sommer erreichte uns die Nachricht über Schlumpf, dass Eric wohl nicht mehr am Leben sei. Da waren wir gerade auf dem Weg hierher, denn wir waren ja die letzte Band auf dem Vainstream. Das war für uns alle ein richtiger Schock, denn er war ja ein sehr guter Freund von uns allen. Jeder, der sich mit der Geschichte von AGNOSTIC FRONT hier in Europa auskennt, weiß, dass Berlin und die M.A.D.-Crew, zu der Eric gehörte, einen großen Anteil daran hat. Mike hat an dem Tag hier draußen an der Halle noch ein großes Graffiti für ihn gestaltet, das haben wir uns eben auch noch mal angesehen.

Nach diesen ganzen negativen Schlagzeilen kann man festhalten, dass es dir besser geht, ihr einen tollen Typen an den Drums gefunden habt und derzeit eine erfolgreiche Tour spielt. Was steht zudem in Zukunft an?
Nachdem die letzten Jahre wirklich beschissen waren, sehe ich frohen Mutes dem Jahr 2023 entgegen: Wir wollen mit AGNOSTIC FRONT ein neues Album aufnehmen und auch mit ROGER MIRET AND THE DISASTERS ist was Neues geplant. Wir haben schon Songs für eine komplette Scheibe fertig und wollen auch auf Tour gehen. Hört sich doch nach der ganzen Kacke wieder richtig gut an, oder?