ALL ABOARD!

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Ein Herzensprojekt

Mit „The Rules Of Distraction“ haben die Mönchengladbacher ein Album veröffentlicht, das es ohne Pandemie vielleicht gar nicht gegeben hätte und das die Aufmerksamkeit auf wichtige Themen fernab all des Lärms richtet. Schlagzeuger Marius berichtet von politischem Engagement und was die Nähe zu HOT WATER MUSIC für eine Band bedeutet.

Vielen deutschen Punkrock-Bands bekommt ihre Liebe zu HOT WATER MUSIC oder ALKALINE TRIO nicht ganz so gut. Oft hören sie sich sehr nach ihren Vorbildern an. Bei euch habe ich eher Ähnlichkeiten zu SMILE AND BURN festgemacht und dazu ganz viel Eigenständigkeit.

Witzig, dass du gerade die Berliner erwähnst. Wir haben damals Demos mit denen ausgetauscht und sind eigentlich immer noch in gutem Kontakt. Vielleicht hängt das mit der Eigenständigkeit auch einfach damit zusammen, dass wir schon unglaublich lange zusammen sind. In unserer Zeit als Band haben wir Phasen durchlaufen, in denen wir Teile von anderen, bereits existierenden Songs schon gerne auch mal so bei uns verwendet hätten. Wir waren aber einfach nicht gut genug. Wenn man aber nach über zehn Jahren gemeinsamen Musikmachens nicht über den Status hinwegkommt, andere kopieren zu wollen, läuft etwas verkehrt. Klar nehmen wir immer noch eine Menge Referenzen von überall her. Das entwickelt aber eine Eigendynamik, die am Ende dann unseren Sound ausmacht. Dass HWM oder ALK-3 zu unseren Lieblingsbands gehören, ist aber absolut richtig.

Ich habe gelesen, dass ihr den Lockdown 2020 zur Selbstreflexion genutzt habt und es euch ja schon fast gar nicht mehr geben sollte.
Wir haben eigentlich die letzten Jahre nur noch herumgedümpelt und uns mehr um die Entwicklungen in unserem Privatleben gekümmert. Alle haben Familien gegründet und irgendwie auch bessere Jobs angefangen, wie das eben so ist mit Mitte dreißig. Da aber drei von uns in der Veranstaltungsbranche und einer als Lehrer arbeiten, hat uns der Lockdown mit voller Wucht erwischt. Wir hatten auf einmal so viel Zeit und haben überlegt, was wir damit anfangen könnten. Als die Schulen zum ersten Mal zugemacht haben, saßen wir gerade im Bus nach Hamburg, um dort ein paar Demos aufzunehmen. Dann haben wir uns vorgenommen, statt nur noch joggen zu gehen und sich mit der Bespaßung unserer Kids zu beschäftigen, auch noch dieses Album in Angriff zu nehmen. Ich habe in der Zeit gemerkt, dass ich den ganzen geistigen Input auch irgendwie loswerden musste. Da kamen also die neuen Songs gerade recht.

Was steckt hinter dem Albumtitel „The Rules Of Distraction“?
„Distraction“ kann man auf zweierlei Arten lesen. Zum einen ist es natürlich die Ablenkung vom Wesentlichen, und wer davon profitieren könnte, wenn wir unsere Aufmerksamkeit schnell auf immer neue Dinge richten. Zum anderen kann man es aber auch als Verstörtheit lesen. Es geht um persönliche Probleme, mit denen du gerade vielleicht nicht fertig wirst. Du lenkst dich irgendwie ab, um nicht die ganze Zeit getriggert zu sein. Wir sind eine klar politische Band, jedoch finden sich auf dieser Platte viele sehr persönliche Themen. Und wie krass ist es eigentlich, dass wir als Punkrocker während der Pandemie die Regierung in Schutz nehmen?

Lass uns über „The mouth of the shark (All aboard?)“ sprechen, einen Song, in dem ihr zwei Gedichte von Geflüchteten zitiert. Wie seid ihr auf die Texte gestoßen?
Ich habe die Texte beim Recherchieren im Internet gefunden. Ich meine, das war auf der Sea-Watch-Seite. Wir wollten den beiden dann durch unsere Musik eine Plattform geben, was definitiv besser funktioniert, als wenn wir uns in ihre Situation versetzen würden. Was willst du als dicker Mitteleuropäer schon über das Flüchtlingsthema schreiben? Es geht zunächst einmal darum zuzuhören.

Wie seid ihr über die Band hinaus politisch aktiv?
Wir supporten die hiesige Antifa und das Bündnis „Mönchengladbach stellt sich quer“. Sich zu positionieren und die Ideen dahinter zu vertreten, gehört zu meinem Selbstverständnis als Punkrocker. Und selbst wenn du die Themen in deiner Bubble schon zum tausendsten Mal hörst, irgendjemand hat sich vielleicht noch nicht so intensiv damit beschäftigt. Wir haben jetzt mit Stefan von der Booze Cruise eine Aktion gestartet. Ein neues Schiff der Mission Lifeline wird bald in See stechen. Wir haben ein Tape aufgenommen, bei dem wir die Einnahmen an Sea Punks e.V. spenden.