CREMATIONS

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Metallischer Motorradcrust

Wer in der letzten Ausgabe das Review vom Kollegen Jens Kirsch zur neuen Scheibe der seit 2016 aktiven und aus Hannover stammenden CREMATIONS gelesen hat, dem sind vielleicht noch die Zeilen „...macht allen Freunden des rabiaten Hardcore-Geprügels sicher sehr viel Spaß“ im Gedächtnis geblieben. Wir haben uns Sänger Michael und Drummer Hannes geschnappt, um zu klären, wie man einen derartigen Hassbrocken wie „Dissolution Of Balance“ veröffentlichen kann, und haben nebenbei noch ein wenig mehr über die niedersächsische Band herausgefunden.

Euer neues Album ist ein ziemlich harter Rundumschlag. Wie würdet ihr mit eigenen Worten euren Output bezeichnen?
Hannes:
Unser Sound wurde in einem Review mal als metallischer Motorradcrust bezeichnet. Das fand ich sehr amüsant und auch ein bisschen passend, abgesehen davon, dass niemand von uns ein harter Biker ist, haha. Ich glaube, müsste ich es mit einem Wort beschreiben, würde ich „brachial“ sagen. Zumindest ist das meine Auffassung und mein Anspruch. Ich glaube, die Einflüsse von uns ergeben da etwas, das doch teilweise ziemlich eigen und kompromissloser ist als auf unserer EP „1417“. Hoffe ich jedenfalls.
Michael: Metallischer Motorradcrust klingt geil. Mit dem Genre kann ich super leben.

Einen solchen Brocken wie „Dissolution Of Balance“ schüttelt man nicht einfach so aus dem Ärmel. Wie lange habt ihr vor CREMATIONS schon Musik gemacht und wie lief der Entstehungsprozess des neuen Albums ab? Klärt uns auf.
Hannes:
Nach ersten Gehversuchen mit anderen Musikern hatte ich ab Ende 2006 meine erste aktive und tourende Band namens IN A BLIND FURY, die ich mit Karl gründete, der auch öfter mal bei CREMATIONS am Bass aushilft. Abgesehen davon hat mir meine Zeit bei DOWNFALL OF GAIA und KING APATHY die meiste Songwriting-Erfahrung gebracht. Alan, unser Gitarrist, und ich haben 2013 angefangen, uns im Proberaum etwas auszutoben, und gemerkt, dass wir da ziemlich kompatibel sind. 2016 kam dann Michael dazu und es fing mit CREMATIONS an. Unser Songwriting findet die meiste Zeit spontan im Proberaum und aus dem Flow heraus statt. Dabei schreiben Alan und ich die Instrumentalparts und überlegen anschließend zusammen, auf welche konkreten Ideen und Parts wir Bock hätten. Da ist auch Michael noch mal als kritischer Part dabei. So fahren wir bisher ganz gut.
Michael: Beim Songwriting-Prozess bin ich dann immer derjenige, der hier und da noch mal einschreitet und dafür sorgt, dass die Songs am Ende nicht zu komplex klingen, haha ... Ansonsten bin ich noch für die Lyrics zuständig. Die schreibe ich in der Regel dann, wenn das musikalische Gerüst steht. Alan und ich kennen uns übrigens mittlerweile unser halbes Leben lang und haben damals auch schon bei EMPTY VISION zusammengespielt.

Michael, du brüllst dir auf dem Album die Seele aus dem Leib, wie ich es schon lang nicht mehr gehört habe. Wie schaffst du es so, ein ganzes Konzert durchzustehen? Kannst du danach nicht direkt zum HNO-Arzt durchmarschieren? Hast du eine bestimmte Technik oder ist das einfach Talent?
Michael:
Von Talent würde ich da nicht sprechen. Ich kenne eigentlich kaum jemanden, der so untalentiert am Mikrofon ist wie ich, haha ... Ich denke, ich habe im Laufe der Zeit eine gute Technik für mich gefunden, die es mir erlaubt, Vollgas zu geben, ohne dass am Ende meine Stimme komplett weg ist. Was mir dabei zugute kommt, ist wohl auch, dass ich viel Sport mache und versuche auf meine Gesundheit zu achten. So habe ich zum einen eine solide Ausdauer und zum anderen geschmeidige Stimmbänder. Hinzu kommt, dass wir in der Regel nicht länger als 25 Minuten spielen.

Als Vinylliebhaber muss ich an dieser Stelle natürlich die Frage loswerden, wie ihr auf die Idee gekommen seid, das neue Werk als dreifarbige Schallplatte zu veröffentlichen? Seid ihr selber Plattensammler?
Michael:
Vinyl ist auf jeden Fall unser Lieblingsformat, wenn es um das Gesamtwerk an sich geht. Für mich persönlich wirkt ein Release dadurch einfach hochwertiger. Was die Farbe der Schallplatte angeht, so gibt es vom aktuellen Album auch noch blau-goldenes Vinyl und eine durchsichtige Preorder-Variante mit goldenem Splatter. Die Idee zu den Farben kam hierbei von unserem Label, Isolation Records, und wir fanden die jeweiligen Varianten durchaus stimmig in Verbindung mit dem Artwork. Was das Sammeln angeht, betreibt das bei uns jeder für sich unterschiedlich intensiv. Ich bin aber wohl derjenige in der Band, der da am meisten hinterher ist und schon diverse Expedits mit Vinyl gefüllt hat.

Welche Songs gefallen euch selbst am besten auf „Dissolution Of Balance“ und warum?
Michael:
Meine Lieblingssongs sind „Dehumanized“ und „Dissolution of balance“. Der D-Beat ballert beide Male richtig schön durch und ich finde, insbesondere die Gitarren klingen bei den Songs ziemlich erfrischend. Außerdem sind mir die Vocals für meine Verhältnisse bei beiden Songs ganz gut gelungen, finde ich.
Hannes: Bei mir sind es „Nothing“ und „Broken shell“. Die beiden Songs könnten sowohl vom Tempo als auch vom spielerischen Anspruch her nicht unterschiedlicher sein. „Nothing“ macht sehr viel Druck und hat frickelige Fills und Details und ich würde ihn, was das Schlagzeug angeht, als anspruchsvollsten Song der Platte bezeichnen. „Broken shell“ wiederum ist relaxter zu spielen. Wir haben ihn immer liebevoll die Midtempo-Walze genannt. Die Hälfte des Songs ist ja auch genau das und die andere ergänzt das durch die Breakdowns, die ein bisschen Finesse untermischen. Ich glaube, so eine Stimmung habe ich bis jetzt nirgends anders gehört und doch erscheint es mir alles ziemlich rund.

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Jessica von SWOON, die auf dem Album einen krassen Gesangspart beisteuert?
Michael:
Als ich die Lyrics zu „Secure and safe“ geschrieben habe, kam mir die Idee, dass ihre Stimme richtig gut zu dem Part mit dem Blastbeat passen würde und zudem auch für ein bisschen Abwechslung auf dem Album sorgen könnte. Wir haben sie gefragt, ob sie Bock darauf hätte, und sie war sofort einverstanden. Wie es der Zufall wollte, spielten SWOON ein paar Tage nach unserer Anfrage in Hannover, so dass Jessica vor der Show kurz im Studio vorbeigeschaut und kurz und schmerzlos abgeliefert hat. Wir sind super zufrieden mit dem Ergebnis und ich finde, dass ihr Part den Song noch mal richtig aufwertet.

Versteht ihr euch als politische Band? Welche Themenbereiche sind euch wichtig beziehungsweise bräuchten mehr Aufmerksamkeit?
Hannes:
Wir leben in Zeiten, in denen es wichtig ist, politisch zu sein. Dies ist ein wichtiger Punkt für uns. Wir haben oft, ob im Proberaum, auf unseren Fahrten, im Privaten oder auch auf Shows, politische Diskussionen. Dabei vereint uns neben unserer Ablehnung von exkludierendem Gedankengut wie Rassismus, Homophobie oder Sexismus vor allem auch Feminismus. Wir sind ein gutes Beispiel dafür, wie ein Großteil der aktiven Bands aussieht. Es gibt selbst innerhalb einer progressiven oder linken Szene immer noch wenige weibliche Rolemodels auf der Bühne. Ich glaube, als Mann ist es nach wie vor einfacher, einen Einstieg und sein Standing als Musiker zu finden. Dies ist ein Thema, das uns allen nicht nur wichtig ist, sondern bei dem wir uns auch wünschen, dass es mehr Aufmerksamkeit erhält. Aus diesem Grund ist es schön, dass es seinen Weg in ein Interview findet.
Michael: Ja, egal ob auf der Bühne oder vor der Bühne: Häufig ist die Musikszene immer noch sehr männerdominiert. Es wäre schön, wenn die Strukturen und die Szene als solche heterogener wäre oder werden würde. Fernab von irgendwelchen Quoten, einfach aus einem natürlichen Prozess heraus und weil es unserer Meinung nach selbstverständlich sein sollte.

Wie vertreibt ihr euch die Zeit in der aktuellen durch den Corona-Virus geprägten Situation?
Hannes:
Was gerade passiert, ist fürchterlich und schlimm für alle Personen, die schwer erkranken oder sterben, sowie deren Angehörige. Wenn ich mich in dieser Situation nur auf mich beziehe, genieße ich jedoch diesen Break in einer so schnelllebigen Welt gerade sehr. Es ist toll, momentan meiner Liebe zu Videospiel-Klassikern wie „Final Fantasy“ oder „Silent Hill“ nachkommen zu können. Außerdem koche ich derzeit viel, habe mit Jogging und Yoga angefangen und versuche, auf vielen Ebenen kreativ zu sein.
Michael: Für mich bedeutet die derzeitige Situation bisher glücklicherweise noch keine große Umstellung. Ich gehe gern laufen, höre Musik, lese Bücher und habe jetzt seit langem mal wieder meine Playstation entstaubt. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass das alles bald wieder vorbei ist. Insbesondere für diejenigen, die direkt und indirekt von dem Virus betroffen sind.