NOTHING

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Existence hurts existence

Domenic Palermo ist ein Grübelnder, ein Zweifelnder. Mit der Welt uneins, gibt es nur einen Grund, weiterhin ein Teil von ihr zu sein – die Musik. Im Gespräch, das nur sehr mühselig zu moderieren ist, zermartert er sich den Kopf und lässt Pausen entstehen, weil ihm an Antworten mit Substanz gelegen ist, die allerdings immer wieder den Rahmen sprengen. „Wenn ich zu sehr abschweife, musst du mich wieder zurückholen“, sagt er, als es ihm selbst bewusst wird.

Laut einem Text zum neuen Album „The Great Dismal“, den die Band aus Philadelphia zusammen mit einem recht surrealen Foto – die Musiker in Schutzanzügen vor einem Fastfood-Laden – veröffentlicht hat, wird geschildert, dass als Inspiration zum neuen Werk das erste Foto eines Schwarzen Lochs aus dem Jahr 2019 und die simple Textzeile „Existence hurts existence“ gedient haben. Wie auf dieser Basis ein ganzes Album entstehen kann? „Also ihr Deutschen kommt wirklich ohne Umschweife zum Punkt“, amüsiert sich Palermo. „Die Zeile schwirrte mir schon eine ganze Weile durch den Kopf und es gelang mir, sie in einem Song für die neue Platte unterzubringen, ‚Famine asylum‘. Er beschäftigt sich mit den drei Stufen, die unweigerlich zur Apokalypse führen: Der Mensch kämpft zunächst gegen sich selbst, dann gegen die Dinge, die er selbst erschaffen hat, und zuletzt gegen die Angriffe der Erde und des Universums. Es geht darum, dass man seinen Frieden mit der Tatsache macht, dass alles zu Ende geht. In der letzten Szene des Films ‚Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben‘ reitet der General wie ein Cowboy auf der Atombombe in Richtung Erde. Diesem Charakter habe ich mich sehr verbunden gefühlt, nicht weil ich möchte, dass die Menschen leiden und sterben, sondern dass der Schmerz endlich ein Ende hat. Die Zeile ‚Existence hurts existence‘ fasst das zusammen: Der Grund, warum Schmerz existiert, ist, dass Leben existiert. Bis auf diese Basis lässt sich alles herunterbrechen.“

Gerade mal zwei Jahre nach dem letzten Werk „Dance On The Blacktop“ erscheint nun „The Great Dismal“, mit dem NOTHING ein gelungenes Update erfahren haben. Zwar schwebt die Band noch immer mindestens ein paar Zentimeter über dem Boden, trotzdem wirken die neuen Kompositionen allesamt druckvoller und eingängiger. Das kann einerseits an der Zusammenarbeit mit Produzentenwunder Will Yip liegen, der auch an den diesjährigen Veröffentlichungen von CODE ORANGE, THE MENZINGERS und BOUNCING SOULS beteiligt war, oder an der Situation, in der die Aufnahmen im März und April dieses Jahres stattfanden. „Circa zwei Wochen bevor die Pandemie sich in den USA richtig ausbreitete, begannen wir mit der Arbeit in Wills Studio. Am 25. März wurden die Nachrichten, die wir im Fernsehen sahen, schließlich ernst und speziell New York, wo ich und meine Familie wohnen, entwickelte sich zum Epizentrum. Damit war es nicht mehr möglich, nach Hause zu fahren oder sonst irgendwohin, und wir waren für insgesamt fünf Wochen im Studio eingeschlossen. Währenddessen hatte ich mehr als einen Nervenzusammenbruch, weil ich mich sehr um meine Angehörigen sorgte. Wir versuchten uns also noch mehr durch die Arbeit abzulenken, hatten die Ereignisse und unsere Telefone aber stets im Blick. Eine eigenartige Situation, die für den Hörer nun vielleicht nicht erkennbar ist, für mich aber umso mehr. Für mich sind die Angst, die Enge und auch die Selbstvorwürfe, weil ich nicht bei meiner Familie war, untrennbar mit der Platte verbunden“, resümiert Palermo.

Seit Beginn ihrer Karriere zelebrierten NOTHING mit ihrer Musik und ihrem Auftreten die ultimative Hoffnungslosigkeit und ein zutiefst sarkastisches Weltbild. Dass 2020 aber nun das Jahr ist, in dem NOTHING recht behalten hätten, möchte Palermo keinesfalls geltend machen: „Ich habe jetzt schon ein paar Interviews zu diesem Album geführt und jeder möchte mir bestätigen, dass wir das alles, was gerade passiert, schon immer gepredigt haben. Was ich aber dazu sagen möchte: Natürlich scheint dieses Jahr einem absurden Humor zu entspringen, aber ich kann absolut nichts Lustiges daran finden. Und in diesem Zusammenhang möchte ich auch nicht der Typ sein, der allen entgegenruft: Ich hab’s euch ja gesagt! Alle Probleme, die es aktuell gibt, haben wir uns selbst zuzuschreiben und trotzdem kann man manche Leute noch nicht mal dazu bewegen, eine Alltagsmaske zu tragen. Egal, ob Masken funktionieren und uns alle retten oder nicht, die Möglichkeit, dass sie es tun könnten, sollte doch schon ausreichen. Wenn mir also jemand erklären möchte, wie die Menschheit auf diesem Planeten überleben wird, dann erscheint mir das lächerlich. Unser eigenes langfristiges Überleben zu schützen, liegt doch gar nicht in unserer Natur.“

Nicht nur NOTHING, nicht nur Musiker, beinahe die gesamte Kunst- oder Kulturbranche blickt mittlerweile in den Abgrund. Sucht man sich jetzt also besser eine „anständige“ Arbeit, so wie manche Stimmen immer häufiger vorschlagen? Für Palermo eine völlig undenkbare Alternative, da die Kunst, im wahrsten Sinne des Wortes, das Einzige ist, was ihn am Leben hält: „Ohne meine Musik wäre ich nicht hier. Sie hat mir einen Weg gezeigt und auch die Bedeutung gegeben, nach der ich gesucht habe. Jemand, der Probleme damit hat, sich in eine Reihe zu stellen, hat durch die Kunst die Chance bekommen, sich nicht einreihen zu müssen. Die Chance, so leben zu können, weiß ich wirklich zu würdigen.“ Trotzdem ist Palermo mit den Voraussetzungen, unter denen er und seine Kollegen diesen Job ausüben, nicht unbedingt einverstanden: „Es lastet sehr viel Druck auf Musikern, denn es hat sich durchgesetzt, dass sie nur durch konstantes Touren überleben können und nicht durch Verkäufe, Streaming oder solche Sachen. Es ist mir nicht wirklich klar, warum das in der Breite so akzeptiert wird. Und jetzt, da Touren nicht möglich ist, fällt das Augenmerk nur auf diesen Umstand, aber das Problem, dass Künstler nicht gerecht behandelt werden, fällt immer noch unter den Tisch.“