VEGAS

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Komplettsammler-Albtraum

Es gibt nur wenige Bands, die in ihrem 18-jährigen Bestehen zwar vier Longplayer, ein Tape, mehr als ein Dutzend 7“s und eine Handvoll weiterer Formate vorweisen kann, über die auf der anderen Seite aber derart wenig bekannt ist, wie VEGAS. Die meisten dürften schon daran scheitern, wenn es um die treffsichere Zuordnung der Bandheimat geht. Im Übrigen ein überflüssiges Unterfangen, wenn man in der Welt zu Hause ist und dank mobiler Technologie und Filesharing heute mühelos die Puzzelteile zusammensetzen kann.

Mit „T“ als einziger Konstante über die ganzen Jahre gab es zwar etliche Besetzungswechsel, allerdings auch immerhin knapp zwanzig Auftritte, die sich auf mehrere Kontinente verteilen. Frühe Konzerte in Deutschland, ein halbes Dutzend in den USA, eine Japantour zusammen mit INTEGRITY (nachzuhören auf der „Never To Wake“-LP) und jüngst ein Konzert in Helsinki anlässlich der LP-Veröffentlichung von „Digital Affairs Neurotic“ (siehe Review). Neues Material ist ohnehin immer in Arbeit, wie auch weitere Auftritte, darunter wird auch ein bisher unberührter Kontinent sein. VEGAS sind keine Band im herkömmlichen Sinne, vielmehr eine mehr oder minder stringente Fortführung von Kollaborationen, bei denen manche Protagonisten je nach DNA des Materials periodisch wieder auftauchen, oder wenn es sich gerade anbietet, weil „T“ zufällig in ihrem Winkel dieser Erde unterwegs ist oder eine Live-Band im Rücken benötigt. Immerhin ist seit 2015 der Brasilianer Ogirdor Zul ein regelmäßiger Partner in Crime, mit dem die Grundstrukturen für neues Material gelegt werden, das bei Bedarf um die richtigen Musiker ergänzt wird.

Eine klassische Stammbesetzung ist ebensowenig ein Thema wie der „Bandstandort“, festgefahrene Strukturen, ausgefeilte Releasepläne oder die üblichen Promotionspiele bei einer weiteren Veröffentlichung. Sie erscheinen einfach, sind auf mehr als einem Dutzend verschiedener Labels rausgekommen und der Alptraum eines jeden Komplettsammlers. „Verschiedene Herangehensweisen sind der Reiz der Sache“, mobiles Equipment vs. sich bietender Gelegenheit. Aufgenommen wird, wenn es sich anbietet und der Moment passt, also gibt es unter anderem Aufnahmen aus herkömmlichen Aufnahmekaschemmen, dem Studio des Sydney Opera House, Klöstern in Tibet, Zügen in Japan, Zelten in der Mongolei und welche, die am Strand von Island entstanden.

„Machen“ ist die Devise, ohne Kompromisse schließen zu müssen, und so wundert es nicht, wenn zu den Einflüssen ausdrücklich die Veröffentlichungen auf Pusheads Fan Club-Label, sowie das Werk von Junge/EA80 gezählt werden. Kleine, aber feine Releases, die liebevoll aufgemacht sind, ohne viel Marktschreierei davor und danach. Wenn weg, dann weg, weil eine Veröffentlichung in der Regel nur den Moment dokumentiert, und wenn dieser vorbei ist, spielt das physische Element nur noch eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz dazu stehen die „größeren Releases“ zum Beispiel die Split-7“ mit INTEGRITY sowie die meisten Longplayer, die man ohne größere Kopfschmerzen finden kann. Wer dennoch alles hören will, bemüht eben die Bandcamp-Seite und hat über Jahre Freude an seiner wachsenden Suchliste, die so um wunderbare Nichtformate wie 3“, Lathe-Cuts, USB-Sticks und allerlei Dinge mit wunderlichen Beigaben (Bücher, Aufnäher, Hundemarken, ...) bereichert wird.

Im Gegensatz zu vielen offenen Büchern ist VEGAS stets im Fluss, auch wenn folgende Einflüsse von „T“ als „dauerhaft“ festgehalten werden wollen: „Protagonisten hinter Bands wie G.I.S.M., EA80, BIG BOYS, ABC DIABOLO, BORN AGAINST, HAMMERHEAD B.T., ACME, VKJ, BUTTOCKS, LIFE’S BLOOD, FISCHMOB, VOID, INTEGRITY, RITES OF SPRING, THROBBING GRISTLE, DEEP WOUND, DEPECHE MODE, NEGATIVE APPROACH, ROLLINS BAND und deren Herangehensweise haben einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch nicht unbedingt hörbaren Einfluss auf die Arbeitsweise. Was den geistigen Überbau angeht, finden sich rote Fäden in der Literatur, unter anderem bei Max Goldt, Marcel Proust, Haruki Murakami, Christian Kracht, Albert Hoffmann, Oscar Wilde, in Fanzines wie Speedshit und Think?! oder in Kunstwerken von Anselm Kiefer, Francis Bacon, Gerhard Richter, Sakevi Beast Arts/StlTH, Jörg Immendorff und meinem spirit animal David Walsh, samt seiner mannigfaltigen Operationen.“ Gefallen ist nicht das Ziel, Dystopie lediglich der Weg zu einem unbekannten Ende. Wer nicht nach alltäglicher Kost, sondern etwas abseits sucht, etwas, das nicht tausendfach verwässert wurde, sollte eine Nase riskieren.