Ox Sportstudio

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Fahrradkuriere, Subkultur und Straßenkampf

Wo der Verkehr tobt, Stahlkolosse gnadenlos Gummiabrieb produzieren und die grün-gelb-roten Augen der Straßenverkehrsordnung wachen, da ist kaum Platz für Freiräume und Dissidententum. Denkste! Seien es selbstorganisierte DIY-Fahrradrennen (sog. Alleycats), Fahrradkurier-Meisterschaften oder der als „mess-life“ bezeichnete Arbeitsalltag der Fahrradkurier*innen: Kaum eine Dienstleistungssparte ist in ihren Ursprüngen dermaßen im DIY-Spirit und (Punk-)Subkultur verwurzelt und schafft sich so konsequent Freiräume, wo kaum Platz für 1,5 Meter Überholabstand ist. Höchste Zeit, die Szene im Ox-Sportstudio mal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Der Wind pfeift mir in den Ohren und der Kies knirscht unter meinen Reifen, die über die unbefestigten Wege eines Stadtparks in Szczecin (sprich: Schtetschin), Polen, rollen. Eine scharfe Linkskurve, dann an der nächsten Kreuzung rechts halten und von da aus sollten es nur noch wenige Meter bis zum nächsten Checkpoint sein. Vor mir taucht eine Straßenbarrikade auf, verdammt, die Grenzkontrolle, ganz vergessen. Ein bulliger Typ mit Iro, Zigarette, Bier und fettem Grinsen versperrt mir den Weg, um mir die entscheidende Frage zu stellen, deren Beantwortung nicht unerheblich für meine Weiterfahrt sein wird: „What’s your destination, Sir?“

Lieber Öl im Gesicht als Schweiß auf der Kette


Wir befinden uns nämlich im August 2018, es ist schwül und ich bin auf den European Cycle Messenger Championships in der polnischen Metropole, die für ihre Flussinseln und Hafenkräne bekannt ist. Fast eine Woche lang trifft sich hier die europäische Kurier-Community, um sich auszutauschen, sich in verschiedenen Wettbewerben zu messen und natürlich dem Hedonismus des mess-life zu frönen. Ihren offiziellen Höhepunkt erreicht die Veranstaltung mit dem Hauptrennen, in welchem aus dem über 300 Fahrer*innen schließlich eine/n Europameister*in gekürt werden.

Die kleinen und größeren Wettbewerbe zwischen Fahrradkurier*innen sind mit Sicherheit so alt wie das Gewerbe selbst. Bevor sich die ersten (mehr oder weniger) professionell organisierten Meisterschaften etablierten, gab es schon die sogenannten Alleycats. Laut Überlieferung wurden die Rennen von New Yorker Kurier*innen in den Achtziger Jahren erfunden, um in einer Art „Kurieralltag-Simulation“ herauszufinden, wer am schnellsten kuriert. Die illegalen Straßenrennen lassen sich heute in jeder Großstadt finden und sind ebenfalls feste (inoffizielle) Programmpunkte bei den großen Wettbewerben. Die meist von Privatpersonen, Kollektiven oder Kurierbuden organisierten Schnitzeljagden durch den Straßenverkehr sind schnell erklärt: Am Beginn steht ein „Manifest“ (Aufgabenzettel), das unter den Teilnehmern verteilt wird. Es gilt fortan, alle hier ausgewiesenen Stationen anzufahren und möglichst schnell ein (im Optimalfall) vollständiges Manifest am Ziel abzugeben, in dem all diese Stationen (etwa durch Stempel) bestätigt sind.

Soweit die Theorie – die Praxis kennt viele Variationen. Meist müssen an den Checkpoints kleinere Aufgaben erledigt werden (Auswahl: Rätsel lösen, Singen, Tanzen, Jonglieren. Highlight bei einem Alleycat in Wien: das eigene Gesicht wie ein Schnitzel panieren), so dass nicht nur Schnelligkeit und Ortskenntnis, sondern auch Geschicklichkeit und Raffinesse ausschlaggebend sind. Nicht zu unterschätzen ist auch der Anspruch an die Fitness: je nach Verteilung der Checkpoints können schnell zwischen 40 und 70 Kilometern zusammenkommen. In New York, der sagenumwobenen Wiege der Fahrradkuriere, hat sich mit dem „MonsterTrack“ ein Alleycat den Ruf in der Szene erworben, besonders hart und anspruchsvoll zu sein.

Mit der Weltmeisterschaft in Berlin fand 1993 das erste Mal ein organisiertes Kräftemessen statt. Seitdem werden in den verschiedensten Ländern nationale Wettbewerbe ausgetragen, und einmal pro Jahr pilgern viele in eine europäische beziehungsweise internationale Großstadt, um eine/n Europa- und Weltmeister*in zu küren. Wer also dieses Jahr motiviert war, setzte nach der Europameisterschaft in Stettin, Polen, direkt ins lettische Riga zur Weltmeisterschaft über, um anschließend noch die Fähre nach Greifswald zu erwischen, wo die Deutschen Meisterschaft ausgetragen wurden.

Prekär, prekärer, Fahrradkurier

Trotz all der mess-life-Romantik: für einen Großteil der Fahrradkuriere bedeutet ihr Job ein prekäres Beschäftigungsverhältnis. Als die ersten deutschen Radkurierdienste werden die „Rote Radler“ genannt, die schon 1910 (u.a. in München) auf Dreirädern Sendungen im Stadtgebiet auslieferten. Die Fahrradkurier-Betriebe, wie wir sie heute kennen, verbreiteten sich im Zuge der Globalisierung rasant in den westlichen Großstädten. Am Beginn standen die ersten Bike-Messenger im New York der Siebziger, danach schossen durch eine immer schnelllebigere Welt nach dem Vorbild der ersten (neueren) Fahrradkurier-Buden zuerst 1985 in München und dann in nahezu jeder deutschen Großstadt Fahrradkurier-Betriebe aus dem Boden.

Als tendenziell kleinere Unternehmen beschäftigen Fahrradkuriere meist keine Angestellten, sondern setzen bei ihren Fahrer*innen auf Selbstständige. Die fahren im klassischen Kuriergeschäft nach Leistungsprinzip und werden dementsprechend anteilig für jede gefahrene Sendung bezahlt (ca. 60% des Sendungspreises). Somit sind alle Kuriere auf ihre Dispatcher angewiesen, die in der Zentrale Aufträge entgegennehmen und möglichst effizient an die Fahrer*innen verteilen. Denn nur wer Aufträge „kombinieren“ kann, also mit mehreren Sendungen in der Tasche fährt, kommt auf einen ordentlichen Stundenlohn. Bei einer 30-Stunden Woche auf dem Fahrrad bleiben so selten mehr als 1.000 Euro brutto, bevor die gesetzliche Krankenkasse an die Tür klopft. Die hatten bis vor kurzem nämlich besonders absurde Einkommensvorstellungen (und dementsprechend hohe Mindestbeiträge) für Selbstständige, was hauptberuflich arbeitende Fahrradkurier*innen zu Überlebenskünstler*innen macht oder in die Arme des ALG II treibt. Und bloß keinen Unfall bauen oder krank werden! Als Reaktion auf schlechte Arbeitsbedingungen und prekäre Beschäftigungsverhältnisse fanden einige Betriebe neue Geschäftsformen als Kollektiv oder Unternehmergesellschaft und versuchen, etwa über Stundenlohn-Modelle die Arbeitszeit fairer zu entlohnen.

Zwischen Männlichkeitsriten und queerer Community

„Ballern“ ist ein (zumindest in der deutschen) Community geflügeltes Wort, welchem Leipziger Fahrrad-Enthusiast*innen mit einer kreativen Sticker-Serie seit 2014 ein Denkmal setzen. Ganz konkret könnte „Ballern“ hier einen besonders waghalsigen Fahrstil oder, auf der Metaebene, ein Lebensgefühl meinen, das keine Kompromisse zulässt – oder erst durch eben diese entsteht. Wie auch immer, geballert wird in der Szene gerne mal, und vor allem, so scheint es mir, von knallharten Typen mit Sonnenbrille, Kettenschloss und lautem Organ. Einige, meist männliche Kuriere machen es sich leider zur Aufgabe, den harten Berufsalltag zu personifizieren und bei jeder Gelegenheit nach außen zu tragen. Das äußert sich dann während den Wettbewerben in Saufriten, dem Ballern sämtlicher Betäubungsmittel und einem Habitus wie auf Klassenfahrt.

Obwohl die männlichen Fahrradkuriere seit jeher das Berufsbild prägen, wird die Szene glücklicherweise immer heterogener. Mit verschiedenen Projekten, einem weltweiten Netzwerk und einem offenen Forum bei den großen Wettbewerben kämpft so die *BMA (früher WBMA, Women’s Bicycle Messenger Association), für all diejenigen, die als Fahrradkurier*innen nicht von männlichen Privilegien profitieren. Für eine offene und tolerante Community wirbt auch das von schottischen Kurier*innen gegründete „Gay’s-Okay – Ride with Pride“-Projekt, deren bunte Caps inzwischen schon so was wie Kultstatus in der Szene erlangt haben.

Punks auf Rädern?

Es wird also nicht besser für Fahrradkurier*innen. Aber machen wir uns nichts vor, rosig waren die Zeiten wohl noch nie. Doch für fahrradbegeisterte Menschen auf der ganzen Welt bedeutet der Job die ultimative Freiheit im Großstadtdschungel – ob als Glücksritter, Weltverbesserer, Orientierungslose, Überlebenskünster*innen, Idealist*innen. Oder eben als Punks.