Falsche Prophet:innen

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Punkhistorische Betrachtungen (Teil 3)

In diesem Text geht es um die Punk/Hardcore-Szene der Achtziger Jahre in (aber nicht nur) der schwäbischen Provinz, wo man aufgrund der vor Ort grassierenden Alternativlosigkeit äußerst mobil sein musste, wenn es darum ging, am gegenkulturellen Angebot teilnehmen zu können. Und es geht um den ideellen Überbau, der die Punk- und Hardcore-Stene der Achtziger und frühen Neunziger prägte.

Krishna sucks!

Wenn ich gerade von einem „nicht unbeträchtlichen Teil“ des NYHC gesprochen habe, der im spirituellen Fahr-Wasser der Krishna-Sekte unterging und schwulen Sex und das Selbstbestimmungsrecht der Frau als das absolut Verdammenswerteste erachtete, dann bedeutet dies, dass es immer auch schon einen anderen Teil in New York gegeben hat oder geben wird (nach 1984). Zu nennen sind hier vor allem HEART ATTACK (ab 1980), NAUSEA (ab 1985), STICKS AND STONES (erstes Demo 1987), GO! (ab 1989), BORN AGAINST (ab 1989) – und eben REAGAN YOUTH (ab 1980) und FALSE PROPHETS (ab 1980). Die beiden letztgenannten Gruppen sind ja auch auf der P.E.A.C.E.-Compilation vertreten, hier geht es mir – wie bereits erwähnt – zur Veranschaulichung aber nur um das Gegensatz-Paar CAUSE FOR ALARM und FALSE PROPHETS.

FALSE PROPHETS
FALSE PROPHETS also. Ein Gegenentwurf zu CAUSE FOR ALARM. Im Übrigen dann doch in jeder Hinsicht: Ihr P.E.A.C.E.-Compilation-Beitrag geht über vier Minuten! Und ist damit nach dem „Kinky sex“ der DEAD KENNEDYS der längste Track auf den vier Vinylseiten. Tatsächlich von der stark schlagzeuglastigen, pumpenden Strukturierung an HEART ATTACK erinnernd, kommt „Banana split republic“ in seiner doch erstaunlichen Komplexität äußerst druckvoll daher, wird dann im Hinblick auf seinen spielzeitverschleißenden Abwechslungsreichtum mehrfach durchschnitten; einmal in einen hiphoppigen, von Rap begleiteten Part führend, ein anderes Mal in eine lyrische, flamencoartige Instrumentierung übergehend. Teilweise wurden bei FALSE PROPHETS sogar Klavier und Synthesizer eingesetzt. Ein nachhaltig beeindruckendes Stück Musik. Und textlich? Ein richtig guter, durchdachter, antimilitaristischer Protest-Song, der die Innen- und Außen-Politiken der US-amerikanischen „Bananenrepublik“ radikal auseinandernimmt. So wie es später PROPAGANDHI wagen sollten, die USA als „failed state“ zu bezeichnen, so verleihen ihnen FALSE PROPHETS einen Titel, der eigentlich für andere Nationalstaaten oder Regimes reserviert ist, „in denen Korruption und Bestechlichkeit vorherrschen, deren Rechtssystem nicht funktioniert, in denen die wirtschaftlichen oder politisch-moralischen Verhältnisse von Ineffizienz und Instabilität geprägt sind oder in denen staatliche Willkür“ dominiere.

All dies traf auf die Reagan-Administration sicherlich in erhöhtem Maße zu; die USA waren zu Zeiten von FALSE PROPHETS zu einem sehr gefährlichen globalen Akteur mit großem Atomwaffenarsenal geworden. (Ich habe mich der Plastizität wegen für diese eine Auslegung des mit Wörtern, Begriffskombinationen spielenden Liedtitels entschieden, wohl wissend, dass er interpretatorisch triptychonal aufklappbar ist: Die nicht-monarchische Staatsform [„Republik“], die hier charakterisiert werden solle, ist entweder a) eine aus der US-amerikanischen Küche stammende Eisspeise namens Bananensplit [„gespaltene Banane“] oder b) eine Banane [wenn das Gespaltene in optionalisierende Klammern gesetzt werden würde] oder c) eine „zersplitterte“, eine „gespaltene“, eine „brüchige“, eine „fragile“ [wenn die Banane in optionalisierende Klammern gesetzt werden würde].) Der Text arbeitet mit kräftigen Termini, fragt in den Rezeptionsraum hinein, wie denn einer „Nation [USA] die Treue“ geschwört werden könne, „die Massenausrottung verursacht, die Hoffnung und Entschlossenheit zerschlägt, die Arme auf permanent niedrige Rationen setzt“, und stellt dann desillusioniert fest, dass in den USA „immer aufs falsche Pferd“ gewettet, gesetzt werde in Erwartung, damit „das [geopolitische] Rennen zu gewinnen“. Dann wird mit der „Menschenrechtskriegsheuchelei“ aufgeräumt, indem darauf hingewiesen wird, dass das erhoffte „Wahren unseres Gesichtes“ immer damit zusammengebracht werden müsse, „die Zahl der Toten zu eskalieren“. Als nächstes kommt eine Abrechnung mit „Vietnam“, das viel zu viele Opfer gefordert und viel zu viele „desillusionierte Veteranen“ zurückgebracht habe, die nun ruhiggestellt werden müssten (mit drastischen Maßnahmen).

Schließlich wird der Sprung vollzogen nach El Salvador, was weltweit (auch in der westdeutschen Polit-Szene) ein überaus wichtiges Thema war (mindestens die ganzen Achtziger Jahre hindurch), und wo die USA eine wichtige, dreckige Rolle spielten – „in diesem schmutzigen Krieg, in dem ... viele kirchlich, politisch oder gewerkschaftlich organisierte Menschen Opfer der Todesschwadronen“ wurden (FALSE PROPHETS sprechen im Lied von 40.000 Toten in vier Jahren). Diesen Punkt verknüpfen sie dann geschickt mit der Thematisierung der Lebensentwürfe ihrer cis-männlichen „Mitbürger“: „Endlich bist du aus der Highschool raus. Hängst rum und hast nichts zu tun. Ein Auto kaufen, das/ein Mädchen beeindrucken. Der Armee beitreten und die Welt sehen. Sei/Werde alles, was du sein kannst/willst. Du kannst es schaffen! In der Armee! (...) Sie schicken dich [dann aber] in ihren Krieg. Nächster Halt: El Salvador ... Warum müssen wir [müsst ihr] für die Lüge eines Politikers sterben?!“ Mit dem Politiker ist der damalige Präsident der Bananenrepublik USA gemeint: Ronald Reagan (1981 bis 1989). (Von diesem Track führt übrigens ein 20-jähriger, von der Ost- zur Westküste gezogener Kontinuitätsstrang zu einem beeindruckenden Anti-Kriegs-Protest-Song einer ebenfalls 1980 gegründeten Hardcore-Kapelle namens BAD RELIGION, wo aus dem Politiker ein Prophet wird – sonst hat er inhaltlich die exakt gleiche Stoßrichtung. In „Let them eat war“ (2004) heißt es in unübertroffener Klar- und Direktheit: „Lasst sie den Krieg fressen! Das ist es [die Methode], wie [oder womit oder wodurch] die Armen „rationiert“ [im übertragenen Sinne: was den Armen vom zwanghaft kriegführenden Herrschaftssystem an „Lebensmitteln“, an „Fraß“ zugeteilt wird] werden ... Alles, was sie euch jemals [zum Fressen] gaben, war ein Krieg [waren Kriege]“.)

Die falschen Propheten und der New York Thrash
FALSE PROPHETS, die völlig zu Recht auf diesem „äußerst einflussreichen anarchistischen Sampler“ gelandet waren, interessierten mich also! Als Gesamtkonzept, als Gegenentwurf zum Krishnacore anderer NYHC-Bands, als Band, die auf Jello Biafras Alternative Tentacles ihre LPs veröffentlichte (1986 VIRUS 48 und 1987 VIRUS 58), und als Band, die noch ein paar Jahre zu existieren schien. Apropos Gegenentwurf: Obwohl sie zusammen mit THE MAD, KRAUT, HEART ATTACK, THE UNDEAD, ADRENALIN O.D., EVEN WORSE, THE FIENDS, NIHILISTICS, BAD BRAINS und BEASTIE BOYS auf dem legendären, als wegweisende Dokumentation des Übergangs vom Punk zum NYHC in die Geschichte eingegangenen Kassetten-Sampler „New York Thrash“ (1982 auf ROIR alias ReachoutInternationalRecords) vertreten waren mit „Taxidermist“ und „Scorched earth“, trafen sie bei einem bestimmten Teil der NYHC-Szene auf (offene) Ablehnung. H.R. von den BAD BRAINS soll bei einem Konzert in New York Stephan Ielpi, den sehr punkig daherkommenden, mit ultralangen Fingernägeln ausgestatteten, charismatischen Sänger von FALSE PROPHETS, mit einer Mülltonne beworfen haben. Fürs AGNOSTIC FRONT-Sympathisant*innenumfeld waren sie einfach nur „nutzlose linke Hippies“. Zur Enthüllung dieser kurzen, knackigen, fundamentalen Diskreditierung aus der blubbernden AF-Sauce Hegelsche Dialektik in Anschlag zu bringen, wäre tatsächlich nutz- oder besser sinnlos. Hier genügt es vollkommen, auf niedrigstem diskurstheoretischen Niveau jede der drei Begriffssäulen der billigen Beleidigungsarchitektur in ihre jeweiligen, aus AFs Perspektive positiv besetzten und ideologisch vorzuziehenden Opponentinnen zu verwandeln, um zum wahren point of view der Diskreditierer*innen zu gelangen:
1. Säule: „Nutzlosigkeit“ – Opponentinnen: Das „Ertrag-Reiche“, das (kapitalistisch oder lohnarbeitstechnisch) „Verwertbare“, das „Waren-Produzierende“
2. Säule: „Linke“ – Opponentinnen: „Un-Politische“ „Reaktionär-Konservative“, „Rechte“
3. Säule: „Hippies“ – Opponentinnen: „NYHC-Punx“ („männlich“, heteronormativ, glatzköpfig)
Und CAUSE FOR ALARM? Nun, auch sie mokierten sich selbstverständlich über diese dezidiert politische Gruppe, die vor Publikum immer langwierige politische Ansprachen hielt: Für CAUSE FOR ALARM waren FALSE PROPHETS einfach nur „die DEAD KENNEDYS des NYHC“! Das war selbstverständlich negativ intendiert, sollte eine Beleidigung sein.

Network of friends
Ich aber wollte FALSE PROPHETS live sehen. Mit ihnen zusammen das globale „Network of friends“ (Helge Schreiber) weiterknüpfen. Mich jenen anschließen, die sie wegen ihrer Kreativität und Unangepasstheit mit CRASS verglichen haben. Und damit mit jenem Dial-House-Kollektiv, das über die Fluxus-Bewegung, die Situationistische Internationale, die Angry Brigade, den „UK Miners’ Strike 1974“ zum Punk gekommen war und hierüber der CND, der Campaign for Nuclear Disarmament, zu ihrer historisch größten Wirksamkeit verhelfen konnte (In der „Feeding of the 5000“-Textbeilage zum Antikriegs(bewegungs)song „They’ve got a bomb“ war sogar das CND-Logo abgebildet). Womit wir wieder bei der „P.E.A.C.E. Benefit Compilation“ wären, deren Erlös ganz im Sinne der CND an Organisationen gespendet wurde, die die Weitergabe oder den Handel von oder mit Atomwaffen bekämpfen oder die Zurverfügungstellung von Mitteln zu deren Herstellung zu unterbinden versuchen. (Auf dem Sampler stellen CRASS das 14. und FALSE PROPHETS das 16. Lied; sie stehen also ganz eng beisammen ...) Ich habe dann in meinem bisherigen Leben 14 der 55 P.E.A.C.E.-Bands live erleben dürfen, also fast genau ein Viertel davon. Das ist nicht viel, wenn mensch bedenkt, dass ich mir in den Achtziger Jahren hunderte Gigs reingezogen habe, über die ich auch „Buch führte“. Andererseits ...

Die falschen Propheten und Süddeutschland
Aber das lässt vielleicht nachvollziehen, was es für mich bedeutete, wenn irgendeine der P.E.A.C.E.-Bands, von denen viele Mitte oder Ende der Achtziger schon gar nicht mehr existierten, ihren Weg nach Süddeutschland finden und dort ein selbstverwaltetes Jugendzentrum oder ein besetztes Haus oder eine TAZ (Temporäre Autonome Zone) rocken sollte. Da musste ich hin. Aber eben nicht, um mir lechzend Autogramme meiner Held*innen abzugreifen, sondern Erfahrungen auszutauschen, zu networken, politische Infos zu erhalten/eigene politische Infos weiterzuvermitteln, zu kämpfen, Häuser/Plätze (temporär) zu besetzen, zu feiern, zu pogen, stagezudiven, mitzuhelfen, Arschlöcher draußen zu halten und so weiter. Und dann wurde bekannt, dass FALSE PROPHETS kommen würde. Sie hat es offiziell immerhin fast 13 Jahre gegeben, von 1980 bis 1993. Ich muss hier zunächst etwas vorausschicken: Ich habe nochmals meine „Konzert-Bücher“ konsultiert und festgestellt, dass ich FALSE PROPHETS (FP) bereits 1989 schon einmal gesehen hatte (haben musste!), und zwar im Mai im Club Remise in – anschnallen! festhalten! – Göppingen. (Kalle Stille, kannst du das vielleicht noch aus deiner Mnestik ausbuddeln?) Nein, das war ganz bestimmt ein Klaustrophobietest-Arschkarten-Trauma-freier Tag; sonst könnte ich mich ja daran erinnern. Aber, da ist nichts! Gar nichts! (Kann auch an körperfunktionsbeeinträchtigenden Substanzen liegen ...)

Es sollten nochmals zweieindrittel Jahre ins Land ziehen, bis ich sie erinnerungsfestsetzend genießen durfte. Und das kam so: Ich hing zu der Zeit – nennen wir sie das Ende meiner letzten, abschließenden Hardcore/Punk-Phase auf der östlichen Schwäbischen Alb (Sommer 1990 bis Sommer 1991) – mit sehr vielen Leuten aus der Szene ab, und innerhalb derer dann nochmals sehr viel mit den Mitgliedern (und deren persönlichem Umfeld) der Hardcore-Band OUT OF QUESTION (OoQ) aus Giengen an der Brenz. Deren Gitarrist Denis hat mir neulich nochmal einiges an Material zu OoQ beziehungsweise TRUTH AGAINST TRADITION zukommen lassen; unglaubliches Material, das ich hier nur in seinen auffälligsten Konturen „auslesen“ kann: OUT OF QUESTION gründeten sich Anfang 1990, veröffentlichten im selben Jahr ihr Demotape und spielten am 8. Mai 1991 – dem Tag der Befreiung vom NS-Faschismus – ihren allerersten Gig im Jugendhaus Giengen, der von den Cops beendet wurde (wahrscheinlich wegen Lärmbelästigung). Irgendwann im Herbst 1992 nannten sie sich dann (ohne Besetzungswechsel) in TRUTH AGAINST TRADITION (TaT) um (https://www.youtube.com/watch?v=Gw8uuu8bTWI - Live im Blockhaus 1992). Als TaT warfen sie Ende 1992 ihre erste EP „DiscrimiNations“ auf den Markt, auf Equality Records), 1993 folgte die zweite Single „You’re nobody’s slave but your own“ auf Common Cause. 1995 dann die Auflösung. Ihre 60 Gigs beinhaltende, mir vorliegende Konzertografie beginnt offensichtlich im Mai 1991 und endet am 11. März 1995 in Konstanz. Es ist tatsächlich unverzeihlich, dass ich diese coole Truppe in Folge 2 des Ox-Podcasts nicht anführe, obwohl sie zweifelsohne zur Hardcore-Historie des ostwürttembergischen Landkreises Heidenheim gezählt werden muss. Und das obwohl sie meine ganz dicken Homies waren ... (Habe im Interview übrigens noch eine andere Combo aus der Gegend ungenannt gelassen: Die ebenfalls aus Giengen stammende Anarch@-Crust-Band DEKADENT, die von 1988 bis 2000 existierte.)

(Der abschließende 4. Teil folgt im nächsten Ox)