Falsche Prophet:innen

Foto

Punkhistorische Betrachtungen (Teil 4)

In diesem Text geht es um die Punk/Hardcore-Szene der Achtziger Jahre in (aber nicht nur) der schwäbischen Provinz, wo man aufgrund der vor Ort grassierenden Alternativlosigkeit äußerst mobil sein musste, wenn es darum ging, am gegenkulturellen Angebot teilnehmen zu können. Und es geht um den ideellen Überbau, der die Punk- und Hardcore-Szene der Achtziger und frühen Neunziger prägte.

In Ulm, um Ulm und um Ulm herum

Jedenfalls – um den Faden nicht zu verlieren – rissen OUT OF QUESTION (OoQ) oder TRUTH AGAINST TRAIDTIONI (TaT) damals einiges an Konzerten runter (sogar einen Support für GREEN DAY in der Villa Roller in Waiblingen am 28.11.1991); auch zur „Einstimmung“ auf ihre erste Single, die sie bereits als TRUTH AGAINST TRADITION signten. (Mein hardcorearchäologisch sehr gut aufgestellter Genosse Evil hat bei sich sogar noch das Demo-Tape von OoQ ausgegraben: „Face Of Faith“.) Und „in Ulm, um Ulm und um Ulm herum“ gab es – ebenfalls damals – einen Tom Schmitt, der von seinem Konzertbüro Useless Concerts aus jahrelang Gigs mit allen möglichen Bands an allen möglichen Orten in allen möglichen Jugendhäusern, Kulturzentren, Clubs, Kneipen veranstaltete. Sein erstes selbstorganisiertes Konzert war mit NONOYESNO aus München, CURSED aus Geislingen und SEVEN SIOUX aus Linz.

Useless Concerts
Useless Concerts holten FALSE PROPHETS am 27. September 1991 nach Langenau, zwischen HDH und Ulm gelegen. Also quasi in unser Szene-Wohnzimmer: Langenau lag geografisch sehr günstig; über gut ausgebaute Landstraßen waren es nicht einmal 25 Kilometer dorthin (von Langenau nach Ulm sind es dann nochmals etwa 23 Kilometer). Außerdem hatte ich die medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU), die mir aufgebürdet worden war, mit Bravour bestanden (ich war – zertifiziert – kein „chronischer Alkoholiker“), durfte also wieder einen PKW „führen“, in meinem Falle einen ziemlich zerschlissenen Polo, der im Winter nur jedes zweite Mal ansprang. Wahrscheinlich bin ich mit dieser Karre damals nach Langenau gefahren, Manu war bestimmt dabei, und bestimmt noch ein, zwei Leute aus der Hardcore/Punk-Klitsche. Am Jugendhaus Langenau haben wir uns dann bestimmt mit Denis, Lenni, Ingo, Tobi von den OoQs (und deren Anhang) getroffen. Denn: OoQ waren Vorband von FP. (Denis über Tom: „Großes Glück war auch, dass uns anfangs Useless-Tom unterstützt und uns mit zu den ersten Gigs verholfen hat.“) Tom, mit dem ich neulich telefoniert habe, hat immerhin den Flyer von damals und mehrere Fotos des Gigs ausgegraben. Ich bin ihm unglaublich dankbar dafür. Leider sind FALSE PROPHETS nur auf einem einzigen der Fotos zu sehen; ein Gruppenfoto beider Bands nach dem Konzert, bei dem ziemlich gewütet worden sein musste – was mensch unschwer am müllübersäten Boden zu erkennen vermöge. Laut Tom haben „die Bands damals grundsätzlich alle privat bei mir/uns in der WG beziehungsweise im Haus übernachtet; auch mal 18 Menschen mit Nightliner vorm WG-Haus mit Party ohne Ende“. Seine ganz persönlichen Highlights sind OFFSPRING, THE NOTWIST, RANCID, BEATSTEAKS (vor 35 Gästen!), FUGAZI, S.O.I.A., CHUMBAWAMBA, SNAPCASE, REFUSED, SNUFF, S.N.F.U., GORILLA BISCUITS und NOFX. Und FALSE PROPHETS sind damals sogar noch vier Tage dageblieben (in Ulm). Tom klingt heute noch begeistert, wenn er davon erzählt ...

FP / JH / LNGN
Das Jugendhaus in Langenau war damals eine richtig gute Adresse, auch wenn es im eigentlichen politischen Sinne nicht „selbstverwaltet“ oder gar „autonom“ war. Es war offiziell eine städtische „Jugendbegegnungsstätte“, mit der Gemeinde gegenüber verantwortungspflichtigen Sozialarbeiter*innen, die sich programmatisch, organisatorisch, pädagogisch, angebotstechnisch, gestalterisch innerhalb des rigiden Jugendschutzgesetzes zu bewegen hatten. Aber in genau solchen Jugendhäusern, die keinen autonomen Zentrumsbewegungsbackground hatten, also nicht sozial(revolutionär) erkämpft worden waren (mit massenhaftem Druck auf der Straße), genossen Menschen wie Tom, die durch unentgeltliches, ehrenamtliches Engagement eigenverantwortet und selbstverwaltet und empowernd konzert- und festivalkonfigurierende Strukturen aufbauten, die diese Häuser temporär belebten und in gegenkulturelle Hotspots verwandelten, bisweilen alle Freiheiten. Tom gibt an, bei den fettesten Konzerten im JuHa Langenau fast 500 Leute reingequetscht zu haben; heute liege dort die maximale, nicht überschreitbare Obergrenze bei 150 Gästen! Vor allem dann, wenn es genau bei ihren Veranstaltungen und Events zu keinen gewalttätigen Auseinandersetzungen, zu keinen sexistischen Grenzüberschreitungen, zu keinen rassistischen Entgleisungen, zu keinen „behinderten“feindlichen Attacken auf Andersfähige gekommen war. Es war der 27. September 1991. Die Achtziger Jahre waren komplett durch, die BRD war viel zu groß, zu mächtig geworden – anstatt auseinanderzufallen.

Abschiedskonzert
Vor dreißig Jahren also. Mein Abschiedskonzert, auch wenn es damals nicht als solches deklariert wurde ... OoQ legten los und bretterten ihr Set runter. Meine Fresse, waren die fresh. Evil hat ihren Sound treffend (und prinzipiell) als „Hardcore mit Mitt- bis Spätachtziger-Ami-Einschlag“ bezeichnet, der aber „deutlich näher an dem frühen Revelation-Zeugs [dran sei] als ich [Evil] es in Erinnerung hatte“. Bei Denis klingt das so: „Wir [wurden] über die Zeit [von fünf Jahren] musikalisch immer krasser und kompromissloser. Anfangs noch Bock auf Melodie und „Verspieltheit“, dann eigentlich nur noch „Brett und Knüppel“. Textlich und lebensentwurfmäßig sehr politisch mit einem Hang zu Emo.“ Und dann kamen die New Yorker*innen FALSE PROPHETS. Ja, das war schon beeindruckend, mitreißend, voller Power, aber auch voller Durchdachtheit, Konzeptionierung, Kampferfahrung, Zielgerichtetheit. Und Sänger Stephan Ielpi war selbstverständlich unglaublich. Okkassionell neigte mensch dazu, die Wahl des Adjektivs „falsche“ in ihrem grandiosen Bandnamen FALSE PROPHETS für einen unbewussten Fehltritt zu halten; hätten sie stattdessen das Indefinitpronomen „andere“ verwendet, dann hätte sich nämlich auch niemand echauffiert. Ielpi konnte schon „prophetisch“ wirken, „anders-prophetisch“ eben, „konkret-utopisch“ eben. Aber schon klar: Bei Anarchist*innen gibt es keine Prophet*innen, auch keine „andersartigen“ ...

Ich gehe diesbezüglich davon aus, dass die radikal anti-religiösen FALSE PROPHETS-Members sich selbst als „falsche Prophet*innen“ einstuften, durchaus in bibel-exegetischer Konnotation: „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen; inwendig aber sind sie reißende Wölfe.“ Wölfe, die „den Herrn verleugnen“, die die Menschen davon abhalten, an etwas zu glauben, das es nicht gibt. Die ultralangen Fingernägel Ielpis verwiesen genau hierauf. FALSE PROPHETS haben ihre Konzerte immer ausgiebig dafür genutzt, von der Bühne herunter zu agitieren und zu propagieren, die Leute davor zu bewegen, sie dazu zu bringen, ihr Leben im emanzipatorischen Sinne zu verändern; alle zusammen, sozialrevolutionär. Ihr Auftritt in Langenau vor über 30 Jahren ist mir unvergessen geblieben; ich wurde heftigst mitgerissen. Und dann kam das eigentlich Spektakuläre, das Sich-Abhebende, das Sich-Eingravierende: Stephan kam plötzlich von der Bühne herunter, machte sich in einem Akt des Abbaus von konsumierbarer Frontalität mit dem Publikum gleich und setzte sich mitten im Saal – dabei ständig die Imperative „Kneel down“ und „Sit down“ ins Mikro kläffend – auf den von Unrat jeglicher Art verklebten Boden.

Mit der linken, permanent geschüttelten Hand „bewegte“ er seine Zuhörer*innenschaft dazu, es ihm gleich zu tun. Alle „Teilnehmer*innen“ gingen nun – einen sehr großen, mehrreihigen Kreis um ihn bildend – ebenfalls in die Hocke oder setzten sich ganz hin, mucksmäuschenstill, gebannt seinen verstärkten Versprachlichungen lauschend. Diese steigerten sich nun von leisem, fast geflüstertem Rezitieren über ausdrucksstarkes Intonieren zu einer verbalisierten Explosion, die mit dem gleichzeitigen Aufspringen aller Anwesenden symbolisch (mit)vollzogen wurde. Wir, der Zunder, das „leicht brennbare Material“, „explodierten“ mit ihm. Es war aber eher ein „Über-Springen“, das da dann gemeinsam, kollektiv vollbracht wurde; wir „über-sprangen“ gemeinsam, kollektiv, die um uns aufgebauten, uns einhegenden, uns einzwängenden Herrschaftsbarrieren – mit einem Satz, in einem mitreißenden Moment. Und Stephan sprang wieder auf die Bühne und setzte das Konzert fort – als Sänger einer genialen Band, die in Langenau im Alb-Donau-Kreis gelandet war. So sollte, so musste ein politisches Hardcore-Konzert sein, so sollte, so musste es „mitgenommen“ werden können.

HDH(ardcore) ade
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt mit HDH bereits abgeschlossen, war schon sehr aktiv im Autonomen Zentrum in Heidelberg. Das OoQ/FP-Konzert in Langenau setzte nur nochmals einen bedeutenden, unvergesslichen Schlusspunkt meiner ersten 23 Lebensjahre. Und hat mich – sozusagen als ausfüllende Entschädigung – die restlichen Dreiviertel der P.E.A.C.E.-Benefit-Compilation-Bands vergessen lassen, die ich nicht live sehen durfte. Obwohl, jetzt, ganz am Schluss meines (sozialgeschichtlichen) Abrisses, kann ich es ja zugeben: Ich hätte für mein Leben gerne UNWARRANTED TRUST, DECLINO, CRASS, OFFENDERS, VICIOUS CIRCLE, THE ICONOCLAST oder DEAD KENNEDYS live erleben oder auf deren Touren begleiten dürfen. Oder CHRIST ON PARADE oder CRUCIFIX. Leerstellen in meiner an Daten reichen konzerthistorischen Biografie, die nimmermehr zu füllen sein werden ...