AGNOSTIC FRONT

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Der Anfang vom Ende?

Die letzten Jahre hatten für Roger Miret so gut wie alles parat, wovon alle Musiker träumen. Erst veröffentlichte der auf Kuba geborene Hardcore-Frontmann seine Autobiografie, in der er sein abenteuerliches Leben niederschrieb. Kurze Zeit später kam dann der Film „The Godfathers Of Hardcore“ ins Kino, in dem er zuzsammen mit Gitarrist Vinnie Stigma porträtiert wurde. Ende letzten Jahres erschien dann mit „Get Loud!“ das zwölfte Studioalbum seiner Band AGNOSTIC FRONT. Deshalb fragten wir den zum Interviewzeitpunkt verschnupften und heiseren Frontmann, was in Zukunft überhaupt noch kommen soll oder ob man vielleicht über ein Karriereende nachdenken könnte.

Roger, du siehst etwas verändert aus, seit wann trägst du eine Glatze?


Hey, das ist natürlich, damit das Bandana besser aussieht, hahaha. Nein, eigentlich wollte ich meine Kopftattoos mal wieder zur Schau stellen und sie gegebenenfalls erweitern. Aber in meinem Alter ist die Schmerztoleranz nicht mehr so entwickelt wie als Jugendlicher. Ich bin schwer am überlegen, ob ich diese Tortur wirklich will.

Wo du gerade dein Alter ansprichst: Zur Zeit bist du mit AGNOSTIC FRONT im Rahmen der Persistence Tour unterwegs. Da gibt es ein paar ziemlich heftige Bilder, unter anderem habe ich gesehen, dass du und Vinnie noch immer Spaß am Stagediven und Crowdsurfing habt. Wie geht das mit Mitte fünfzig respektive Anfang sechzig?

Die Tour läuft super, vor allem in Osteuropa erlebst du Sachen, die glaubt man gar nicht. Da sind die Leute, was Hardcore angeht, noch richtig hungrig und stürzen sich auf jeden Fetzen. Was die Action auf der Bühne und im Publikum angeht, kann ich dich beruhigen. Richtig heftige Sachen, wie von Boxentürmen springen, mache ich schon lange nicht mehr. Das ist harmloser, als es auf den Bildern aussieht. Wir schmeißen Vinnie nur manchmal von der Bühne runter, damit wir mehr Platz haben, hahaha. Er macht uns zu viel Quatsch.

Von den Persönlichkeiten her sind Vinnie und du aber ziemlich unterschiedlich, oder?

Ja, sicher. Vinnie ist eigentlich der geborene Entertainer und würde bestimmt einen guten Frontmann abgeben. Er ist es ja auch bei AGNOSTIC FRONT mit mir zusammen. Nur dass er hauptamtlich Gitarre spielt, außer bei „Pauly the dog“ und seit der letzten Tour auch bei „Power“. Vinnie ist einfach immer gut gelaunt und würde auf der ganzen Welt kein Bier bezahlen müssen, so viele Freunde hat er. Auch jetzt auf Tour kommt er aus dem Späße machen nicht heraus, da glaubt keiner, dass der Mann schon über sechzig Jahre auf dem Buckel hat. Ich bin eher zurückhaltender und leise, außer wenn es auf die Bühne geht. Da bin ich voll da und gebe immer 100%.

Bereitest du dich speziell auf eine Tour vor, wie hältst du dich fit?

Vor einer Tour lade ich nur meine Akkus auf, mache viel mit meiner Familie, esse und schlafe gut. Meist starte ich auch mit mehr Gewicht, was natürlich durch die schweißtreibenden Shows schnell wieder runtergeht. Wir haben im letzten Jahr von April bis November nonstop getourt, was ganz schön an die Substanz geht. Während der Tour mache ich, wenn es geht, Jiu-Jitsu. Meine eigenen Matten kommen immer mit und wenn du wie auf der Persistence Tour so viele Mitfighter hast, wird die Garderobe schnell mal zum Dojo. Billy Graziadei von BILLYBIO und Mad Joe von WISDOM IN CHAINS machen dann auch mit, wobei uns Billy als Schwarzgurtträger natürlich ordentlich vermöbelt.

Auf der Tour präsentiert ihr auch erstmalig euer neues Album „Get Loud!“. Die Story zu dem Cover, das dem von „Cause For Alarm“ nachempfunden wurde, kennt man bereits. Aber warum habt ihr den Titel gewählt, steckt dahinter vielleicht auch eine politische Message?

Das würde auch passen, aber eigentlich geht es auf dem Album, genau wie beim Titeltrack, darum, dass man endlich mal aufwachen und seinem Ärger Luft machen sollte. Ich sehe so viele Leute, die unzufrieden durchs Leben gehen und den Spaß daran verloren haben. Die kotzt alles nur noch an, der Job, die Familie und alles andere auch. „Get Loud!“ appelliert daran, einfach mal die Stimme zu erheben und den ganzen Scheiß verbal rauszulassen, einfach mal laut werden eben. Was man aber sicherlich über viele politische Dinge heutzutage auch sagen könnte, da hast du recht.

Beim Hören des neuen Albums ist mir ebenfalls der härtere, metallische Sound aufgefallen. Ist das auch eine Rückbesinnung auf eure Alben „Cause For Alarm“ oder „One Voice“?

Definitiv. Wobei viele Leute damit immer auch ein Problem haben. Nimm die beiden von dir genannten Alben und betrachte sie mal aus der Perspektive ihres Erscheinungsdatums. Bei „Cause For Alarm“ haben wir viel mehr Metal-Anteile, als es zu dieser Zeit üblich war, und viele Leute haben sich aufgeregt. Später fanden sie die Songs aber klasse, weil sie immer eine Spur härter rüberkommen als gewohnt. Oder „One Voice“. Die Platte erschien in einer Zeit, in der auch MADBALL verstärkt aktiv wurden. Ersetz mal meinen Gesang durch den von Freddy und wir haben eine reine MADBALL-Platte. Umgekehrt erinnert auch „Set It Off“ an die Alben von uns zu dieser Zeit. Auch da gab es zuerst Schelte, aber später wollten auf unseren Konzerten alle den Titeltrack oder „Over the edge“ hören. Ich denke, die neuen Songs müssen erst mal ankommen, wobei viele Fans „Get Loud!“ schon abfeiern. Das sehen wir gerade auf dieser Tour, wie viele Leute beim neuen Material textsicher sind.

Der Song „I remember“ knüpft ein wenig an deine Autobiografie an, denn hier rollst du deine Anfangstage mit AGNOSTIC FRONT in New York zusammen mit Vinnie Stigma auf, oder?

Exakt. Viele Lyrics sind während des Schreibens meines Buches entstanden, denn unzählige Erlebnisse und Geschichten hatte ich einfach verdrängt. Dieser Song spricht besonders den Teamgedanken an, denn Vinnie und ich haben immer zusammengehalten. Genau dem Grundgedanken des Hardcore entsprechend: Unity. Das betrifft übrigens die gesamte Szene, früher wie heute. Wichtig ist der Zusammenhalt, gepaart mit der Freude an Musik. Da haben die ganzen „-ismen“ keinen Platz. Wenn wir früher in Manhattan in besetzten Häusern schliefen, musste man aufeinander aufpassen. Egal ob man Exilkubaner oder ein weißer Amerikaner mit italienischen Wurzeln ist.

Genau diese gefährlichen Situationen greifst du im Song „Urban decay“ auf. Allerdings gehört die Lower East Side, in der ihr aufgewachsen seid, nun mittlerweile zu den teuersten Vierteln von NYC.

Ja, dieser Song handelt von den schlimmen Dingen, die wir damals erlebt haben. Zum Glück wachsen die Kinder, die heute dort leben, nicht mehr mit so viel Scheiße auf. Ähnlich wie meine Kinder erleben sie keine Bandenkriminalität, sehen keine Schießereien oder erfahren keine Obdachlosigkeit. Das ist doch genau das, was alle Eltern wollen. Also kann man den Gentrifizierungsprozess in dieser Hinsicht als Erfolg werten, wobei früher natürlich das Leben in New York viel, viel bunter und durchmischter war. Dort in der LES zu wohnen, das können sich heute nur wenige Leute leisten. Deshalb bin ich – so wie viele andere aus der NYHC-Szene – von dort weggezogen.

Nach Berlin, oder? Du kannst es ruhig zugeben, dass du in Deutschland lebst, so oft wie ihr hier Auftritte habt. Die DVD/Blu-ray-Version von „The Godfathers Of Hardcore“ kommt schließlich mit einer 7“, auf der einige Live-Stücke aus dem SO36 aus Kreuzberg zu hören sind.

Hahaha, das wäre mal eine Überlegung wert, dann müsste man nicht mehr so viel Zeit im Flugzeug verbringen. Und genug Freunde, wie unseren langjährigen Tourmanager Schlumpf, habe ich auch dort. Nein, ich lebe seit einiger Zeit mit meiner Familie in Arizona. Dort ist es auch schön, vor allem das Wetter. Und die Mieten sind bezahlbar, was in Berlin ja auch nicht immer so einfach ist. Deutschland war immer gut zu uns, wir haben eine große Fanbase hier, kennen viele Leute und kommen gerne hierhin. Ihr habt das Privileg, dass euer Land so klein ist. In Amerika ist alles größer, so dass man schnell die kleinen Dinge aus dem Auge verliert. Wenn man hier eine Band gut findet, bleibt man ihr in der Regel treu. In den USA ist alles viel schnelllebiger und die Ost- und Westküste sind fast andere Klimazonen. Da muss man viel unterwegs sein, um bei den Leuten im Kopf zu bleiben.

Kommen wir nun zur Frage der Fragen: In den letzten Jahren habt ihr so gut wie alles erreicht, was man sich als Musiker wünschen kann: großartigen Erfolg auf Tour, dann deine Autobiografie als Buch und als Sahnehäubchen noch ein Kinofilm über dich und Vinnie. Was kann da in Zukunft noch kommen? Ist das womöglich der Anfang vom Ende?

Wir arbeiten gerade an einem Videospiel, in der man meine Person durch gefährliche Level steuern muss. Das Ding kommt auch als App auf dem Smartphone raus. Hahaha, nein, Quatsch. Die letzten Jahre waren schon echt heftig, was das angeht. Das alles war unglaublich stressig, erst das Schreiben mit unzähligen Treffen mit dem Lektorat und so weiter, dann der Film und schließlich noch die Arbeit an „Get Loud!“. Zudem waren wir im Rahmen der „Victim In Pain“-Jubiläumstour unglaublich lange unterwegs. Das ging schon ganz schön an die Substanz. Aber dann gibt es Tage, da wachst du auf und denkst, dass das alles ein Traum ist. Ans Aufhören denke ich noch lange nicht, aber alles ein bisschen runterfahren will ich in Zukunft schon.

Was meinst du damit genau?

Du hast mich am Anfang gefragt, wie ich mich fit halte. Selbst wenn du eine solide Fitness aufweist, wirst du irgendwann an den Punkt kommen, an dem der Körper beginnt zu streiken. Touren kann einen echt fertig machen. Hör mich doch mal an, ich habe mir mal wieder eine Erkältung eingefangen. Die zähle ich schon gar nicht mehr, es ist aber ein Unterschied, ob man jeden Abend sechzig Minuten damit herumbrüllen oder nur Gitarre spielen muss. Ruckzuck hast du dann zusätzlich eine Bronchitis, mit der du wochenlang herumhustest. Dadurch mussten wir im letzten Jahr einige Shows am Ende unserer US-Tour canceln, weil ich Herzrhythmusstörungen bekommen habe. Das soll mir so schnell nicht mehr passieren. Deshalb werde ich jetzt nach der Persistence Tour auch erst mal zwei Monate lang Urlaub machen. Wenn ich dann wieder fit bin, teilen wir wieder voll aus. New-York-Style halt. Das ist das Einzige, was ich richtig gut kann, oder kannst du dir mich in einem Anzug als Büroangestellter in einem normalen Nine-to-five-Job vorstellen? Ich mich überhaupt nicht.