CARCASS

Foto© by Ester Segarra

Verzerrte Realitäten

Acht Jahre haben sich die Liverpooler für ihr neues, siebtes Album Zeit gelassen. Inhaltlich geht es darauf, wie von der Band gewohnt, um Blut, Gedärme und Gore, musikalisch haben sie sich erneut ein Stück weiterentwickelt. Wir sprechen mit Gitarrist Bill Steer über Veränderungen, fehlgeleitete Erwartungen und Nostalgie.

Nach all den Jahren, überrascht es dich da, dass die Leute bei einem neuen Song immer noch über die leichten Stiländerungen überrascht sind?

Eine Band mit unserer Geschichte könnte es sonst nicht rechtfertigen, ein neues Album aufzunehmen. Es muss neue musikalische Elemente enthalten. Ich glaube, das ist gut für uns. Du kannst nicht einfach über die Schulter schauen und dich selbst kopieren. Das merken die Leute, wenn du nicht Vollgas gibst. Wir drei waren uns auch von Anfang an einig, als wir begonnen hatten, neues Material zu schreiben.

Ich kam auf den Gedanken, als ihr „Dance of Ixtab“ veröffentlicht habt und einige sich nicht mit der Nummer anfreunden konnten. Ich meine, was erwarten sie, eure Alben haben sich immer voneinander unterschieden. Möchten manche „Heartwork II“ oder „Surgical Steel II“? Ich verstehe es nicht.
Da machst du einen guten Punkt, mit jedem Album haben wir uns ein paar Schritte nach vorne bewegt. Ich weiß, dass es Bands gibt, die sich strikt an die Limitierungen halten, die sich sich zu Beginn ihrer Karriere gesteckt haben. Sie veröffentlichen quasi immer wieder neue Versionen des gleichen Albums. Daran ist nichts Verkehrtes, solange es ihrer Zielgruppe gefällt. Außerdem ist es wahrscheinlich ein Statement dazu, wo sie sich musikalisch gerade befinden. Aber das sind eben nicht wir. Ich selbst bin nicht in den Social-Media-Diensten unterwegs, manchmal schickt mir jemand aber mal einen Screenshot. Solche Kommentare kommen meistens von Menschen, die gar keine allzu großen Fans sind. Die mögen dann vielleicht eine Ära oder ein Album von uns. Wenn du aber mittlerweile schon schockiert bist, wenn wir ein anderes Werk als „Surgical Steel“ geschrieben haben, dann hast du vielleicht die Band nicht verstanden. Ein Aspekt sticht für mich hier raus. Wir alle wissen, dass Menschen mit negativen Meinungen das Internet dominieren. Wenn jemand mit seinem Leben im Reinen ist, wird er so etwas nicht posten. Das Ganze ist also eine verzerrte Version der Realität.

Am Ende ist auch die Kunst, die ihr der Außenwelt präsentiert. Sollte es mir nicht gefallen, bleiben mir ja „Symphonies Of Sickness“ oder „Necroticism“ oder ich suche mir eben eine ganz andere Band. Diese Werke nimmt mir ja niemand durch das neue Album.
Vor allem in dieser Nische. Die ist doch wirklich gesättigt. Wenn dein Geschmack superschnelle Musik mit Blastbeats ist, dann sind wir wohl die falsche Band für dich. Das kannst du nicht mehr von uns erwarten. Es wäre nicht ehrlich. Jeff und ich sind nicht mehr in diesem Alter und haben ein ganz anderes Mindset.

Ihr wart jedoch mal diese Band, die Speerspitze des Genres. Wann habt ihr dieses Mindset aufgegeben, immer extremer werden zu wollen?
Das passierte graduell würde ich sagen. Wir diskutieren oder analysieren unsere Ausrichtung eigentlich nie. Wenn wir im Proberaum sind und an neuer Musik arbeiten, dann gibt es ein Verständnis untereinander. Jeder weiß, in welche Richtung das Material gehen wird. Es wäre auch seltsam, wenn du heute immer noch die gleichen Gefühle bezüglich bestimmter Musik hättest, die du mit 17 oder 18 gehabt hast. Natürlich gibt es hier Ausnahmen.

Dennoch, mit der Referenz an ein Mixtape namens „Torn Arteries“ eures alten Schlagzeugers Ken Owen, mit den Tracks „Flesh ripping sonic torment“, benannt nach dem ersten Demo, und „Wake up and smell the carcass“, benannt nach einer Video-Compilation, gibt es gleich drei Nummern, in denen ihr euch zumindest textlich auf eure Vergangenheit bezieht. Seid ihr nostalgisch?
Ich weiß, dass Jeff, der für diese Seite der Band zuständig ist, wesentlich nostalgischer ist als ich. Ich selbst finde es ganz cool, immer mal wieder ein paar alte Fotos, ein altes Fanzine zu sehen oder einen in der Vergangenheit aufgenommenen Song zu hören. Insgesamt bin ich aber nicht der größte Nostalgiker. Oder anders gesagt: Ich werde eher nostalgisch, wenn ich in die Sache nicht direkt involviert war. Wenn es etwas mit einer Band, in der ich war, oder einem Event, an dem ich teilgenommen habe, zu tun hat, wird mir unwohl. Ich kann das ganz schlecht erklären. Lieber widme ich mich dem Hier und Jetzt. Meiner Meinung nach ist es heute mindestens genauso gut, wenn nicht sogar besser als in der Vergangenheit. Ich weiß nicht, was es einem bringt, sich in Nostalgie zu laben. Jeff ist hier etwas sentimentaler. Deshalb verwendet er auch sehr gerne diese Referenzen. Es bedeutet ihm sehr viel, diesen roten Faden durch unsere Diskografie zu weben.

Euer Album war bereits für Mitte 2020 angekündigt, schon 2019 habt ihr den Titel „Torn Arteries“ genannt. Gab es einen Punkt, an dem die Vorfreude auf die Veröffentlichung des neuen Materials in Resignation umgeschlagen ist, weil es immer und immer wieder verschoben wird?
Anfangs war die Enttäuschung groß, wir haben verschobene Release-Dates schon mehrfach mitgemacht. Dann hat sich plötzlich, im März 2020, die Welt komplett verändert. Wir wussten, dass wir aber wahrscheinlich nicht die einzige Gruppe sind, die sich diesem Problem stellen müssen. Es war also Geduld angesagt. Du kannst nichts übers Knie brechen und Plattenfirmen haben auch immer ihre Gründe, wenn sie verschiedene Dinge so angehen, wie sie es tun. Wenn wir sie jetzt zu sehr bedrängt hätten, hätten sie ihren Job nicht richtig gemacht.