ENSLAVED

Foto© by Roy Bjørge

Der tanzende Riese

In eine musikalische Schublade kann man die Norweger von ENSLAVED schon lange nicht mehr pressen. Als Black-Metal-Act gestartet, hat man sich über die Jahre für alle progressiven Strömungen geöffnet. Wir sprechen mit Sänger und Bassist Kjetil Tvedte Grutle über „Utgard“, das mittlerweile 15. Album der Band.

Grutle, wenn man euch in Behind-the-Scenes-Videos oder in Interviews sieht, seid ihr immer relativ lustige Gesellen. In eurer Musik spiegelt sich dies jedoch zu keiner Sekunde wider. Woran liegt das?

Wir alle kommen aus dem westlichen Teil Norwegens. Ich denke, das ist der Grund. Humor und Selbstironie sind hier mehr oder weniger eine Waffe. Es regnet 250 Tage im Jahr und der Wind weht unentwegt. Das mit Humor zu nehmen, hilft dabei, um in diesen Regionen zu überleben. Das war schon immer so und unterscheidet sich auch sehr stark von der Gegend um Oslo zum Beispiel. Das hier ist die Küste. Die Musik dagegen gehen wir absolut ernsthaft an. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns selbst die komplette Zeit über ernst nehmen. Humor ist auch sehr stark mit Kreativität verbunden. Wenn du also in der Lage bist, über dich selbst zu lachen, ist es dir auch möglich, Kreativität daraus zu schöpfen. Humor ist darüber hinaus auch mit Chaos verbunden, manchmal kann man ihn nicht kontrollieren. Und dieses ist dann wieder Teil des Themas von „Utgard“. Es ist also immer da, ein natürlicher Teil von uns.

Dann lass uns doch gleich bei diesem Konzept bleiben oder besser gesagt, wie ihr heutzutage neue Inhalte für eure Alben entdeckt.
Mythologie besteht aus Geschichten. Diese sind aber auch immer offen für Interpretationen. Das Feld hier ist weit. Es bedarf dann eigentlich nur eines Funken und plötzlich entwickelst du eine Idee. Dieses Mal fing das Ganze an Weihnachten 2018 an. Ivar war alleine und nahm ein paar Gläser mit alkoholischer Substanz zu sich und er schrieb mir. Ich saß zu diesem Zeitpunkt in meiner Hütte und hatte auch schon ein paar Gläser intus. So kam alles ins Laufen. Das komplette Grundgerüst, das Skelett für das Konzept wurde an diesem Abend fertig. Danach mussten wir quasi nur noch Muskeln, Fleisch und Haare hinzufügen. Das Album war schon fast komplett fertig, noch bevor überhaupt ein Lied geschrieben war. Es war dann sehr inspirierend, das Konzept im Hintergrund zu haben, während wir an neuen Stücken arbeiteten. Das hatten wir so vorher noch nicht gemacht.

Und ist es einfacher ein Konzept aus Liedern abzuleiten oder eher anders herum?
Normalerweise schreibe ich meine Texte, während ich mir das Demo eines Liedes anhöre. Dieses Mal stand also alles auf dem Kopf. Man musste die Tracks um die Ideen, die Texte herum arrangieren. Wo es nicht gepasst hat, haben wir die Texte auch noch mal geändert. Das war irgendwie auch sehr wohltuend. Es hat eine gewisse Sicherheit gegeben, weil wir wussten, in welche Richtung es gehen soll.

Für mich gibt es ein paar neue Ideen und Facetten auf dem Album, die ich vorher so noch nie in einem ENSLAVED-Song gehört habe. Das beste Beispiel dafür ist wohl der Siebziger-Jahre-Krautrock-Einfluss bei „Urjotun“ und „Sequence“.
Absolut, richtig! Du bist der erste Journalist, dem das aufgefallen ist. Besonders „Urjotun“ ist total inspiriert von KRAFTWERK. Es ist wohl die altmodischste Nummer, die wir auf dem Album haben. Ein Sequenzer, der einen Loop abspielt. Eine Art Tribut an KRAFTWERK und HAWKWIND.

Wie schwer ist es, solche Einflüsse in einen ENSLAVED-Track zu übersetzen?
Es war einfach. Ich hatte für „Urjotun“ schon einen Text geschrieben. Ivar hat mir den Song geschickt und ich habe ihn auf dem Weg zu meinem Briefkasten gehört. Ich bin dann zurück in die Wohnung gerannt und habe die Lyrics in den Computer getippt. Diese Inspiration hatte ich gebraucht. Was man in dem Song hören kann, ist ein urzeitlicher Gigant, der das Chaos tanzt. Du darfst dir den Tanz des Riesen natürlich nicht so vorstellen wie einen menschlichen Tanz.

Sind alle Mitglieder immer zufrieden und glücklich damit, dass ihr euch punktuell so weiterentwickelt und externe Einflüsse mit in die Musik einbindet?
Besonders unser neuer Schlagzeuger Iver, Ivar und ich können uns sehr für diese Siebziger-Jahre-Krautrock-Sachen wie von KRAFTWERK oder Klaus Schulze begeistern. Wir hören das schon eine sehr lange Zeit und waren sehr enthusiastisch, diese Elemente in unsere Musik einbauen zu können. Die beiden anderen sind Musiker mit einem offenen Geist. Es gab über nichts Diskussionen.

ENSLAVED entwickeln sich für mich Stück für Stück. Ihr nehmt immer mal wieder neue Elemente auf, vermengt diese dann aber mit alten, die man vielleicht schon seit vielen Alben nicht mehr in euerer Musik gehört hat. Wie fühlt sich das innerhalb der Band an?
Die Philosophie war schon immer, dass wir unsere liebste aktuelle Musik schreiben möchten. Ein Album zu schreiben, das man selbst gerne auflegt. Komplexer ist es nicht. Natürlich hassen wir dabei die Vorstellung, wir könnten uns immer und immer wieder wiederholen – wir sind nicht AC/DC oder MOTÖRHEAD. Wir müssen immer voranschreiten und etwas Neues schaffen. Diese Bürde haben wir uns selbst auferlegt. Das ist, glaube ich, ein gesunder Weg. Es wäre nicht wahrhaftig, wenn wir Musik für ein bestimmtes Publikum und nicht für uns schreiben würden. Dann wäre es nicht mehr unsere Musik. Das wäre falsch und unsere Fans würden es auch nicht mögen. Bei ENSLAVED geht es um Evolution.

Bist du davon überrascht, dass es, anders als bei anderen Bands, nie einen großen Aufschrei gibt, wenn ihr ein neues Album veröffentlicht, sondern die Fans euren Weg mitgehen?
Wir sind mit unseren Fans zusammengewachsen. Sie erwarten, dass ein neues Werk herausfordernd ist und sich vom vorherigen unterscheidet. Darum geht es. Natürlich haben wir über die Zeit ein paar Zuhörer verloren, aber bei welcher Band gibt es nicht Fans, die nur die ersten Aufnahmen im Proberaum wertschätzen?