H2O

Wasser marsch!

Arbeit als Resozialisierungsmaßnahme – auch bei Punkrockmillionären funktioniert das: nachdem Epitaph-Boss Brett Gurewitz seine Drogenabhängigkeit überwunden hat, widmet er sich jetzt wieder der Tätigkeit, mit der er Anfang der Neunziger den Erfolg seines Labels begündete: er produziert wieder Bands.

Die Ersten, die dieser Tage von Gurewitz’ Studiogeschick profitieren, sind die Melodic-Hardcoreler H2O, mit deren Gitarrist Rusty Pistachio ich über das neue Album sprechen konnte. Der ist schon am frühen Morgen gestresst, als ich ihn in seiner New Yorker Wohnung erreiche: „Mann, ich bastle schon die ganze Zeit an unserem neuen Merchandise-Stand für die nächste Tour, aber irgendwie klappt das alles nicht so recht und ich bin ziemlich angepisst – sorry! Aber weißt du, wir sind mittlerweile acht Monate im Jahr auf Tour, da will ich einfach, dass alles perfekt ist.“ Acht Monate auf Tour? Bleibt da noch Zeit für’s Familienleben? „Was für ein Familienleben?“ fragt Rusty lachend zurück. „Die Band ist mehr oder weniger meine Familie, und ich rufe so oft wie möglich meine Freundin zuhause an, aber wenn du ständig unterwegs bist, leidet darunter natürlich jede Beziehung – extrem ... Und es klingt zwar etwas klischeehaft, aber die Band ist wirklich wie eine Familie und Sänger Toby und Gitarrist Todd sind für mich wie Brüder. Wir drei kennen uns seit Ewigkeiten, hingen damals schon ständig zusammen und früher hat mich ihre Mutter deshalb immer als ihren vierten Sohn bezeichnet.“
H2O kommen aus New York, waren, sind gute Freunde von SICK OF IT ALL (sowohl Rusty wie Toby verdingten sich früher als deren Roadies), und auf ihre Herkunft scheinen sie auch was zu geben – oder warum sonst ziert die Silhouette von Downtown Manhattan das Cover von „F.T.T.W.“? „Die Idee dazu hatten wir schon lange, und wir wollten schon längst mal ein Foto von New York City zumindest aufs Backcover setzen. Aber irgendwie hat das bisher nicht gepasst: beim ersten Album hatten wir das Pik-Symbol, die „333“, Flammen und ein Foto vom Publikum auf dem Cover, beim zweiten hatten wir das Heilige Herz auf einem dunklen Hintergrund, und irgendwie machte das mit dem NYC-Foto keinen Sinn. Jetzt, beim dritten Album, mussten wir endlich New York auf dem Cover haben, einfach aus dem Grund, weil wir uns immer, wenn wir auf Tour sind, darauf freuen zurückzukommen und schon aus der Entfernung die Silhouette der Stadt sehen. Es mag etwas klischeehaft wirken, ich weiß, aber dazu stehen wir.“ Vom allgemeinen Musikerexodus Richtung Brooklyn, der in Manhatten wegen permanent steigender Mieten mittlerweile eingesetzt hat, sind H20 übrigens noch nicht angesteckt worden: „Ich und Todd Friend, der Drummer, wohnen zwar direkt gegenüber von Manhatten in Jersey City, aber Toby und Todd leben in der Lower East Side und Adam Blake auf der 104th Street. Manhatten spielt in unserem Leben auf jeden Fall eine grosse Rolle, da sind die ganzen Clubs, da gehen wir aus und treffen unsere Freunde.“
Wie eingangs bereits erwähnt, wurde das neue Album, H2Os drittes, unter Aufsicht von Epitaph-Boss Brett Gurewitz. „Wir sind die erste Band, die Brett Gurewitz produziert hat, seit er wieder clean ist. Brett hatte ja längere Zeit Drogenprobleme und er brauchte ein Jahr, um wieder clean zu werden. Jetzt ist er seit einigen Monaten wieder fit und arbeitet auch wieder. Wir waren für ihn jetzt der Anfang, um, wieder ins Produzieren reinzukommen.“ Ob dahinter eine besondere Verbindung zwischen Brett und H2O stecke, frage ich nach. Rusty: „Ja, denn er hat uns damals unter Vertrag genommen und mit ihm haben wir damals alles klargemacht. Brett ist echt ein erstaunlicher Typ: anfangs haben wir gar nicht gemerkt, dass er ein Drogenproblem hat, wir dachten halt, das sei seine Art, so ein bisschen grossspurig rumzutun. Als wir dann für „F.T.T.W.“ ins Studio gehen wollten, fragten wir ihn – er war da bereits clean -, ob er uns nicht helfen könne, und in der Tat, er hatte Lust. Abgesehen davon wäre das vorher auch nicht gegangen, denn wir nahmen hier in Brooklyn auf und er war bis kurz zuvor auf Bewährung, hätte Kalifornien gar nicht verlassen können. Nach uns hat er übrigens mit den PIETASTERS gearbeitet.“
Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger, als Gurewitz sein Label nach dem Erfolg von BAD RELIGIONS „Suffer“-Album immer weiter ausbaute, nahmen nicht nur Epitaph-Bands, sondern auch viele andere Kalifornier mit Gurewitz im Westbeach Recorders-Studio auf und Gurewitz prägte damals mit seiner Art zu produzieren jenen melodischen Punk-Sound, der die Neunziger bestimmen sollte. „Ich denke, Bretts Motivation, sich jetzt wieder dem Produzieren zu widmen, hängt damit zusammen, dass er sich wieder verstärkt um den kreativen Teil der Labelarbeit kümmern will, denn es war wohl die stressige Business-Seite, die ständige Sorge um die finanzielle Basis von Epitaph, die ihn in die Drogensucht trieb. Wie ich das mitbekommen habe ist es bei Epitaph heute so, dass die Leute, die dort arbeiten, Brett sehr dankbar sind, dass er ihnen so einen coolen Job ermöglicht hat – und jetzt sagen sie, soll er sich lieber um den spaßigen, kreativen Teil der Labelarbeit kümmern und das anstrengende Alltagsbusiness anderen überlassen.“ Aber was ist der „Trick“ von Gurewitz beim Produzieren, wie bringt er sich in die Aufnahmeprozedur ein? „Er hat einfach das Gehör für die Art von Musik, wie wir sie spielen. Er hat uns geholfen, erstmals ein Album aufzunehmen, mit dessen Produktion wir zufrieden sind, weil es uns so rüberbringt wie live. So oft haben uns Leute gesagt, dass wir live zehnmal besser seien als auf Platte, und diesmal gibt’s diese Diskrepanz nicht mehr. Brett hat es geschafft, unsere Live-Energie auf Band zu kriegen, und du kannst jedes Instrument klar raushören, was früher auch nicht der Fall war.“
Auf dem neuen Album taucht mehrfach das Kürzel „F.T.T.W.“ auf: zum einen im Albumtitel, zum anderen sind es die Anfangsbuchstaben von drei der Songs: „Faster Than The World“, „Found The Truth Within“ und „Follow The Three Way“ finden sich unter den 18 Tracks. Was es damit auf sich hat, will ich von Rusty wissen. Der lacht und erzählt: „Ein Teil davon ist eine Wortspielerei, ein Teil unsere Unschlüssigkeit und Unfähigkeit, uns für einen Titel zu entscheiden. Wir hatten eine ganze Liste von Sachen, für die F.T.T.W. als Abkürzung in Frage kommt und dachten uns, wir überlassen es einfach jedem selbst, sich eine Version auszusuchen. Nicht zu vergessen die Möglichkeit, in jedem Interview einen anderen „richtigen“ Albumtitel anzugeben ... “
Nun denn, ich denke, mit dem Ratschlag „Finally Taste The Water“ an alle, die H2O bislang noch nicht kennen, habe zumindest ich zum Abschluss dieses Interviews eine sinnvolle Bedeutung aufgetan ...