STATUES ON FIRE

Foto© by Biano

Hoffnungslos optimistisch

Mit ihrem neuen Album „IV“ haben die vier „angry older men“ (siehe Ox Nr. 144) um Mastermind Andre eine mächtige Kampfansage an den Start gebracht. Souveräner Sound zwischen Punk, Rock und Metal auf technisch hohem Niveau mit bissigen Texten. Fokussiert, schonungslos ehrlich und strictly antifascist! Ein präziser Rundumschlag gegen korrupte Politiker:innen, religiöse Fanatiker:innen und den allgemeinen Wahnsinn! STATUES ON FIRE aus Brasilien rechnen und liefern schonungslos ab, vor allem mit Lula da Silvas Vorgänger ...

Andre, „IV“ ist ein wuchtiges, rasantes Ding. Gibt es Lieblingssongs, wichtigste Songs?

Danke, das bedeutet mir viel! Ich habe keinen Lieblingssong an sich, alle sind Teil einer großen Sache, am wichtigsten sind vielleicht „Tear you apart“, „Refuse to die“ und „Only you stand“.

Du hast und nutzt die Möglichkeit, Land und Kontinent zu verlassen – wie nimmst du Brasilien dann wahr? Wichtigste Botschaft für uns hier?
Wir machen Musik, Musik ist universell, Musik ist eine Botschaft und auch ein Gefühl. Wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich nicht nur Brasilianer, ich bin ein Weltbürger. Für eine Stunde gehöre ich einer anderen Sphäre an. Natürlich erzählen unsere Texte eine Menge aus unserem Land, aber einige Dinge, die in unserem Land passieren, passieren auch in Deutschland, Großbritannien, der Ukraine oder wo auch immer. Ich denke, das regt die Leute zum Nachdenken an, zum Hinterfragen, was da los ist, warum das so funktioniert und so weiter.

Bolsonaro ist Geschichte. Jetzt ist Lula da Silva wieder Präsident. Macht das irgendetwas besser? Wie ist der brasilianische Blick auf das Weltgeschehen?
Ja, jetzt ist Lula wieder Präsident. Natürlich ist vieles besser, seit wir keine Angst mehr haben, ein faschistisches Regime könnte sich manifestieren. Aber Bolsonaro hat eine Sache geschaffen, die man Bolsonarismus nennt, viel gefährlicher als er selbst, seine ganze Dummheit wird zu 100% von seinen Anhängern verstärkt. Jeder Scheiß, den er denkt oder sagt – seine Anhänger sind viel dümmer als er. Dass Bolsonaro ein gruseliges altes Arschloch ist, geschenkt, seine Anhänger machen die Drecksarbeit. Er ist also immer noch da, die Tatsache, dass er nicht mehr Präsident ist, bedeutet nicht viel, abgesehen von allem, was er angeregt hat. Die Stärkung des rechtsextremen Flügels, die Bewaffnung der Bevölkerung, Faschismus, sogar Nazismus, oder Quertreiberei durch korrupte Politiker, Agro-Unternehmen und dubiose Medien – total beschissen! Wir sind keine isolierte Insel, natürlich geht es um die Weltpolitik, Brasilien ist eine der größten Volkswirtschaften, die ganze Welt schaut auf uns. Alle Waren, die wir exportieren, und alle Ressourcen, die wir haben, sind Teil des überglobalisierten Wirtschaftskreislaufs. Ja, und hier gibt es echt abgefuckte Orte mit abgefuckten Menschen. Lula ist ein großartiger Mensch, aber die Hälfte des Kongresses sind reine Arschlöcher. Die Geschichte Lateinamerikas zu verstehen und wie die Dinge hier manchmal funktionieren, liegt tief in unserer kolonialistischen Vergangenheit begründet, auch in Kombination mit dem amerikanischen Einfluss vor dem Zweiten Weltkrieg und der Angst vor dem Kommunismus.

Wie fühlt sich „der brasilianische Patient“, gibt es trotz allem Anzeichen für einen Neuanfang und ein positives Gemeinschaftsgefühl?
Wir vom linken Flügel sind sehr optimistisch, aber das Land ist jetzt total gespalten, die Menschen haben ihre Gefühle und ihre Gedanken auf der Grundlage ihres Einkommens und Besitzes. Der normale Bürger will Geld in der Tasche haben, er will Arbeit und Stabilität. Wir haben hier zwei grundverschiedene Gesellschaftsschichten, Reich und Arm. Die Armen denken, dass sie reich sind, wenn sie etwas mehr bekommen, aber sie sind es nicht, die Reichen wollen noch reicher werden und wollen die Armen nicht auf ihrem Platz haben. Lula als Präsident ist sehr provokant für die Reichen, die mit ihren Dienstmädchen herumreisen und in Luxusgütern schwelgen. Die Reichen wollen auch nicht, dass Arbeiter mehr Rechte bekommen. Eine total schwierige Situation.

Und die Underground-Szene, ist die optimistisch oder dystopisch drauf?
Ich denke, die Szene hat sich überall verändert und verändert sich ständig, zum Guten und eben auch zum Schlechten. Die Corona-Pandemie hat da einigen Schaden angerichtet. Die Art, wie die Leute Musik hören und abends ausgehen, um Spaß zu haben, hat sich dramatisch verändert. Ich denke, es gibt zu viel Musik auf Spotify, YouTube etc., als dass die Leute es aufnehmen können. Millionen von neuen Sachen jeden Tag und es hält dich in einem seltsamen Algorithmus, der es dir nicht erlaubt, neue Sachen von jeder Art von Musikgenre kennen zu lernen. Die Leute sind heutzutage satt und faul und haben kein großes Interesse daran, einfach so rauszugehen und nach neuen Sachen zu suchen. Das spiegelt sich leider in jeder Musikszene wider. Hier in Brasilien, in Südamerika, überall. Es gibt zu viel belanglose Musik, um Klicks auf digitalen Plattformen zu verkaufen, aber Punk ist an sich eine andere Art von Musik, sollte es zumindest sein. Es muss Protest sein, muss Themen an die Oberfläche bringen, muss die Leute zum Nachdenken bringen, natürlich ist hier deutlich mehr los, nachdem vier Jahre Neofaschismus-Regime vorbei sind. Im Untergrund brodelt es gewaltig! Ich würde sagen, ich bin zu 50% Optimist und zu 50% Pessimist, was die Szene hier angeht.

Lass uns mal in euren Proberaum blicken, wie entstehen eure Songs?
Zusammen im Proberaum an Songs zu schrauben, ist für mich immer die beste Zeit während der Woche. Meistens bringe ich ganze Songs mit, aber wir bauen am Ende alles Stück für Stück gemeinsam zusammen. Lalo, unser Bassist, ist der „Maestro“ und entscheidet. Wir probieren alle möglichen Rhythmen aus, verschiedene Grundstimmungen, es ist immer ein dynamischer, kreativer und auch lustiger Prozess. Manchmal taucht das Riff zuerst auf, manchmal der Text. Diese verrückte Pandemie gab uns eine Menge Material und Zeit, um die Songs auch zu Ende schreiben zu können; wir haben 24 Songs innerhalb von drei Jahren geschrieben.

Nutzt ihr Loops und andere technische Spielereien, um live möglichst gut zu klingen?
Wir sind von der alten Schule. Ich habe mit zehn Jahren – jetzt bin ich fünfzig – angefangen, Gitarre zu spielen, und das Einzige, was ich hatte, war ein Kassettendeck. Das war das beste Training für meine rechte Hand und meine Ohren, ich lernte Songs von deutschen Bands wie DESTRUCTION, VENDETTA, TANKARD oder US-Combos wie METALLICA und NUCLEAR ASSAULT. Wir benutzen keine Tricks oder Kemper Amps oder In-Ear-Systeme mit Backtracks, bei uns ist alles Oldschool-AC/DC-Stil, Röhrenverstärker mit geringer Verzerrung – alles hängt von unseren Händen und vor allem Liebe und Hingabe ab – und versuchen, tighter als je zuvor zu sein. Die Leute sagen, wir sind es ...

Gibt es bei euch coole Frauen-Bands, die wir hier unbedingt kennen sollten?
Die Frauen organisieren sich immer mehr – und das ist gut! Es gibt zig Bands, in denen Girls den Ton angeben. PORNO MASSAKER etwa sind mit ihrer Trans-Sängerin sehr cool. MERCENARIAS waren ab 1982 die ersten Rock-Girls überhaupt hier. Solltet ihr kennen! ANTI CORPOS sind wichtig, CRYPTA und NERVOSA dürften vielleicht schon bekannt sein.

Wie sieht es mit Gleichberechtigung, LGBTQ+ etc. bei euch aus?
In der Gesellschaft ist es absolut nicht gleichberechtigt, Brasilien ist ein sehr paternalistisches, sexistisches Land und Frauen haben immer noch zu kämpfen. Aber ich kann sagen, es ist jetzt viel besser als Jahre zuvor unter Bolsonaro, der förderte auch den Hass auf LGBTQ+ und generell Frauen, machte sich über sie lustig. Fürchterlich! So absurd es klingt, letztlich war es gut, denn jetzt haben wir in der Breite der Gesellschaft viel größeres Bewusstsein für Gleichberechtigung, auch im Kongress sitzen einige Vertreter:innen mit Bezug zu LGBTQ+ und sorgen für wichtige Impulse. Es braucht noch viel Zeit und einige Generationen, aber es ist spürbar etwas ins Rollen gekommen.

Wie viel von der Vorgängerband NITROMINDS steckt noch in STATUES ON FIRE?
Ich denke, die schnellen Riffs, aber STATUES ON FIRE sind viel melodischer, die Songs sind komplexer. Lalo und ich sind die einzigen Überbleibsel von NITROMINDS und hatten in der Vergangenheit eine schöne Zeit in der Szene, wir haben letztes Jahr einige ausverkaufte Shows nur für Fans gespielt und das war’s auch. STATUES ON FIRE sind jetzt unsere Band!

„Refuse to die“ sollte ursprünglich „eine antifaschistische Hymne“ heißen, warum ein anderer Titel?
Für unser Album „Living In Darkness“ haben wir einen Song namens „Marielle“ aufgenommen, wir haben ein Lyric-Video gemacht und es war ein Knaller, mit mehr als 30.000 Views in der ersten Woche. Aber unter Bolsonaro war es verboten, über das Attentat auf die linke Politikerin Marielle Franco zu sprechen und die Polizei hat den Mord an ihr vor fünf Jahren nie richtig untersucht. Es war ein Tabu! Wenn man hier in Brasilien nach STATUES ON FIRE googlet, ist dieses Video bei YouTube versteckt, man muss den Bandnamen + Marielle eingeben und es taucht auch nicht in der Suche auf, nur der Link über Rookie Records funktioniert. Und wenn man es schließlich auf unserem Kanal findet, sind die Kommentare alle gelöscht. Was ist da los? Warum? In „Refuse to die“ kommt der Name Marielle im Text vor und es ist explizit antifaschistisch. Also dachten wir, wir müssen mehr auf die Worte achten, die wir benutzen, sonst wird ein Teil unserer Absicht ins Leere laufen. YouTube ist leider keine freie digitale Plattform mehr.

Nicht gut und trotzdem spielt sich ja fast alles digital ab. Antifaschismus ist wichtiger denn je, angesichts der allgemeinen Weltlage und des immer aggressiver werdenden Populismus.
Ich denke, es gibt keine besseren Zeiten, wir müssen die Augen immer offenhalten und bereit sein, zurückzuschlagen, wenn die Zeit – wenn unsere Zeit gekommen ist. Das ist es, was mich dazu bewegt, zu schreiben und genau zu studieren, wie die Dinge funktionieren, denn die Regierungen denken nur an Macht und Land, und während wir gelangweilt auf unseren Handys herumtippen, haben tausende Menschen auf der Welt nichts zu essen.

Wo spielt ihr am liebsten?
Ich spiele überall gerne, ich habe keinen Ort, den ich am liebsten mag oder wo das Publikum uns lieber mag, denn sie sind ja alle gekommen, um unsere Show zu sehen, da ist es egal, ob es fünf Leute oder 5.000 sind. Deutschland hat mich vor zwanzig Jahren gepackt und ich freue mich immer wieder da zu sein und ein paar hotte Shows zu spielen, wir haben bei euch viele Freunde gefunden!

Letzte Worte?
Danke, ich bin sehr froh, das Ox ist für mich eines der besten Fanzines überhaupt! Großes Danke an Rookie Records, die so viel für uns möglich gemacht haben, und besonders an unsere Freunde in Deutschland. „IV“ ist eine großartige Platte, sie kommt von Herzen, ich hoffe, die Leute mögen sie.