Archiv der Jugendkulturen

Foto

Auf ein Wort mit Gabriele Rohmann

„Archiv der Jugendkulturen“, das klingt formal, amtlich. Dabei ist die als Verein organisierte Berliner Institution alles andere als eine Behörde, sondern kümmert sich seit bald 20 Jahren darum, Jugend- und Altenativkulturen zu dokumentieren, deren Artefakte zu archivieren. Gerade Punk stand und steht immer wieder im Mittelpunkt des nach wissenschaftlichen Standards betriebenen Archivs, das über eine der wohl größten Fanzinesammlungen hierzulande verfügt. Auch ein Verlag gehört(e) zum AdJ, der allerdings seit einiger Zeit schon als eigenständige Firma „abgespalten“ wurde. Ich stellte Gabriele Rohmann, der Leiterin, einige Fragen.

Gabriele, wie ging das einst los mit dem Archiv der Jugendkulturen?


Das Archiv der Jugendkulturen e.V. gibt es seit 1997. Damals haben wir zu siebt den gleichnamigen Verein, der auch bis heute Träger des Archivs ist, gegründet. 1998 haben wir das Archiv in Kreuzberg in der Fidicinstraße 3 eröffnet. Das Archiv ist ein Forschungs-, Informations-, Vernetzungs- und Bildungszentrum zum Thema Jugend und Jugendkulturen. Wir sammeln Medien wie Fanzines, Flyer, DVDs, CDs, Vinyl, Aufkleber, Bücher, wissenschaftliche Arbeiten oder Plakate und forschen und publizieren auch selbst zum Thema. Wir nehmen Sammlungen von anderen Archiven und Szene-Angehörigen entgegen, so haben wir zum Beispiel den Punk-Nachlass von Karin Dreier aus Düsseldorf, den Nachlass der PlanetCom, der Firma, die die Berliner Love Parade ausgerichtet hat, das Kasseler Graffiti-Archiv von Axel Thiel und das Berliner Rock- und Poparchiv übernommen. Aktuell sind wir dabei, diese Nachlässe sowie die Punk-Fanzine-Sammlung des Archivs professionell aufzubereiten und in einer Datenbank für Recherchen, später auch online, zur Verfügung zu stellen. Weitere Sammlungen nehmen wir übrigens sehr gern entgegen. In einem interdisziplinären Forschungsverbundprojekt, an dem vier Hochschulen und das Archiv beteiligt sind, werden bis 2017 außerdem unter anderem Fanzines, darunter auch das Ox, analysiert. Seit dem Jahr 2001 haben wir außerdem ein inzwischen sehr umfangreiches Bildungsprogramm, Culture on the Road, entwickelt, in welchem wir Jugendkulturen und politische Bildung miteinander verbinden, zum Beispiel in einem von einem Punk oder einer Rapperin geleiteten Workshop zu Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Homo- und Transfeindlichkeit oder zu Sexismus. Unser Ansatz ist dabei stets kooperativ, kreativ und auf direkte Begegnung und Partizipation ausgerichtet. Wir waren die ersten in Deutschland, die diesen Ansatz in die politische Jugend- und Erwachsenenbildung eingebracht haben. Und dann gibt es noch den Ausstellungsbereich. Seit 2003 haben wir rund zwanzig Ausstellungen realisiert, darunter zu Fanzines, „50 Jahre Bravo“, „30 Jahre Punk in Deutschland“, zusammen mit Jugendlichen zu Migration, Immigration, zu Antisemitismus und zu Diskriminierung in Jugendkulturen.

Du erwähntest eben euer Fanzine-Archiv. Wie viele Hefte findet man in euren Regalen und Kisten, und warum dokumentiert ihr dieses Medium?

Zur Zeit haben wir circa 15.000 Fanzines, hinzu kommen circa 10.000 SchülerInnenzeitungen, 3.000 Ausgaben der Bravo, circa 18.000 weitere popkulturelle Zeitschriften wie Spex, Rolling Stone, De:Bug, Metal Hammer oder Juice. Wir sammeln Fanzines, weil sie wichtige und sehr authentische Kommunikationsmedien der Szenen sind – jenseits kommerzieller Interessen und nicht für bessere Verkaufbarkeit redaktionell aufbereitet. Sie geben einen wichtigen Einblick in das Leben der Szenen und ihrer AkteurInnen, sind spannend zu betrachten, zu lesen und zu analysieren. Fanzines sind ein Fundus individueller und freier Kreativität, gelebte Do-It-Yourself-Kultur. Sie haben lange Zeit in der Wahrnehmung öffentlich geförderter Archive und Bibliotheken ein Schattendasein gefristet und drohten verloren zu gehen. Eine der Motivationen der Gründung des Archivs der Jugendkulturen war es, Fanzines zu erhalten und der Öffentlichkeit für differenzierte Recherchen über Jugendszenen zur Verfügung zu stellen – gerade, um Halbwissen oder einseitigen Beschreibungen von Szenen entgegenzuwirken.

Wie schätzt ihr die Entwicklung der Fanzinelandschaft ein? Meiner Beobachtung nach gibt es jedes Jahr weniger Hefte – und tut sich jenseits von Punk und Co. überhaupt noch was?

Die Anzahl der Fanzines geht auch nach unserer Beobachtung zurück. Das hat vermutlich etwas mit dem Internet und Web-2.0-Angeboten zu tun. Viele veröffentlichen heute lieber auf Portalen, Homepages oder Blogs oder kommunizieren auf Facebook oder anderen Internet-Plattformen. Trotzdem gibt es aber noch FanzinemacherInnen, vor allem im Comic- und Kunstbereich, Queer, Punk, Fußball und Hardcore. Vielleicht wird es auch in Zukunft eine Wiederbelebung von Fanzines als D.I.Y.-Bedürfnis geben, beim Vinyl gibt es das ja auch.

Du erwähntest eben schon eure Bildungsarbeit. Was kann man sich darunter vorstellen?

Die Bildungsarbeit ist ein zentraler Bereich des Archivs der Jugendkulturen. Seit 2001 haben wir ein umfangreiches Bildungsprogramm entwickelt. Wir bieten mehr als sechzig Workshops, Vorträge und Fortbildungen an, zu sämtlichen Jugendszenen, Medienworkshops wie Video, journalistisches oder kreatives Schreiben, Fotografie, Multimedia, Theater oder Public Intervention. Das Kernangebot ist Culture on the Road, ein mobiles Angebot, mit dem wir im gesamten deutschsprachigen Raum touren. Das Besondere ist, dass wir ein Team mit mehr als sechzig Menschen aus den Szenen, dem Theater- oder Medienbereich haben, das sehr reflektiert zu Jugendkulturen und politischer Bildung arbeitet, mit Jugendlichen und Erwachsenen. Im Ergebnis können Videoclips, Ausstellungen, Comics, Rap-Songs etc. stehen, in denen sich Jugendliche und/oder Erwachsene kreativ und reflektiert zum Beispiel mit Rechtsextremismus, Flucht, Asyl, Antisemitismus oder Sexismus auseinandersetzen. Außerdem tourt unsere Ausstellung „Der z/weite Blick“ zu Diskriminierungen in Jugendkulturen durch die Republik. Die Ausstellung soll Wissen über problematische Aspekte in Jugendkulturen, aber auch über Szeneinitiativen, die sich für Gleichwertigkeit einsetzen, vermitteln und dazu motivieren, sich mit Diskrimierung generell auseinanderzusetzen und dagegen aktiv zu werden. Uns ist es sehr wichtig, nicht nur zu Jugendkulturen zu sammeln und das Material aufzubereiten, sondern Jugendkulturen auch differenziert zu vermitteln, am besten über Menschen, die selbst in den Szenen aktiv sind, als ExpertInnen in eigener Sache. Das ist authentischer und außerdem ein Türöffner für Jugendliche und Erwachsene.

Was ist überhaupt „Jugendkultur“? Früher hätte man darauf sicher geantwortet „Musik/Kunst/Literatur/etc. von Menschen unter zwanzig“, doch wenn ich mit 47 ein Fanzine mache, wenn Männer jenseits der fünfzig auf der Bühne „Teenage kicks“ singen, dann scheint das nur noch bedingt etwas mit dem Alter zu tun zu haben.

Jugendkultur ist als Begriff schwer zu fassen. Es hängt davon ab, aus welcher Perspektive ich agiere. Juristisch definiert sich Jugend im Rahmen des Jugendstrafrechts und endet in der Regel bei 21 Jahren. Die Jugendforschung beginnt und endet unterschiedlich, manche bei 13 Jahren bis 24 Jahren, andere zwischen 13 und 18 Jahren, also U18, oder ab 18 Jahren bis 27 Jahren, Ü18, andere von 13 bis 29 Jahren. Und dann gibt es noch die ganz allgemeine Sichtweise: Ich bin so alt, wie ich mich fühle. Für uns ist eine Jugendkultur ein informeller und freiwilliger Zusammenschluss, der überwiegend von jungen Menschen gestaltet und getragen wird. Auch diese Definition ist nicht „wasserfest“, denn es gibt ja auch die Jugendverbände, die Partei- und Gewerkschaftsjugenden, die auch ihre „eigene Kultur“ in Form von Kleidung, Sprache, Musik, Freizeitverhalten, Haltung etc. ausbilden können. Und dann gibt es noch die Mischformen hin zu Subkulturen wie kriminellen Vereinigungen, zum Beispiel die rechte Szene, und sozialen Bewegungen wie die Antifa. Also mit 47 noch ein Fanzine machen, kann schon Teil einer Jugendkultur sein, wenn ich mich stark damit identifiziere und die Kultur mitgestalte. Ich denke, die Begriffe Jugendkultur oder Jugendszene sind als Kategorien im Fluss, wir benutzen im Archiv beide synonym. Das ist zwar nicht sehr trennscharf, aber immer noch ganz brauchbar und deckt sich weitgehend mit unseren realen Erfahrungen.

Wer steckt hinter dem Archiv der Jugendkulturen e.V.?

Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der rund 300 Mitglieder weltweit hat, darunter viele WissenschaftlerInnen, Szeneangehörige, JournalistInnen, SozialarbeiterInnen und andere Organisationen wie Streetwork-Vereine. Zur Zeit sind wir zu viert im Vorstand, die Vorsitzende und Leiterin bin ich – seit 2007 bin ich im Vorstand als eine der stellvertretenden Vorsitzenden, seit 2013 Vorstandsvorsitzende. Wir finanzieren uns über Mitgliedsbeiträge und Projektförderungen. Schon mit vier Euro im Monat, ermäßigt zwei Euro, können Menschen uns unterstützen und das Archiv mitgestalten. Weitere Vereinsmitglieder sind immer herzlich willkommen.

Viele, die mit dem Archiv der Jugendkulturen mal zu tun hatten, denken an Klaus Farin, der über viele Jahre ein wichtiger Motor war. Seit geraumer Zeit schon spielt er nur noch eine Nebenrolle, es gibt aber auch parallel einen Verlag mit dem Namen Archiv der Jugendkulturen. Wie sieht das Verhältnis zwischen beiden Akteuren aus, wer macht was, wie hat sich das entwickelt?

Klaus Farin hat das Archiv initiiert und mitbegründet und bis 2011 als Vorstandsvorsitzender geleitet. Das ist eine lange Zeit, entsprechend ist das Archiv für viele mit ihm eng verbunden. 2011 hat Klaus Farin sich auf eigenen Wunsch aus dem Verein zurückgezogen, unter anderem, um sich stärker dem gleichnamigen Verlag und der von ihm gegründeten Stiftung „Respekt“ zu widmen. Den Verlag gibt es seit 2003, er ist damals gegründet worden, weil der Kooperationsverlag Thomas Tilsner, in dem eine Reihe von Archiv-Publikationen erschienen waren, seine Arbeit eingestellt hatte. Damals gab es die Idee, einen Verlag zu haben, der eng an die Arbeit des Archivs gekoppelt ist. Das hat sich inzwischen geändert. Der Verein und der Verlag sind stärker voneinander getrennt. Der Verlag wird von Klaus Farin geleitet, er hat die Rechtsform einer Kommanditgesellschaft mit entsprechenden TeilhaberInnen. Verein und Verlag arbeiten seit einigen Jahren personell getrennt. Der Verein hat auch keinen Einfluss auf das Verlagsprogramm. Punktuell wurde kooperiert, zum Beispiel bei der Veröffentlichung des Tagungsbandes „Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen“, herausgegeben von mir, oder des Tagungsbandes „Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics“, herausgegeben von Ralf Palandt.

Nun ist vor einigen Monaten im Verlag Archiv der Jugendkulturen ein nicht unumstrittenes Buch von Klaus Farin über FREI.WILD erschienen. Als ich kurz darauf in einer Pressemitteilung des AdJ e.V. Folgendes las, sah ich – in Unkenntnis der schon länger erfolgten Abspaltung des Vereins, einen gewissen Widerspruch: „Das Archiv der Jugendkulturen e.V. wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) als wichtige nichtstaatliche Organisation, die in den Bereichen Demokratieförderung, Bekämpfung von Rechtsextremismus sowie anderen Menschenfeindlichkeiten bundesweit tätig ist, ausgewählt und wird im Rahmen des Bundesprogramms ,Demokratie leben!‘ des BMFSFJ und der Bundeszentrale für politische Bildung in der weiteren Professionalisierung und Verstetigung seiner Arbeit unterstützt.“

Wir haben mit dem FREI.WILD-Buch nichts zu tun. Das hat Klaus Farin geschrieben und im Verlag veröffentlicht. Wir waren daran nicht beteiligt, weder inhaltlich noch personell oder finanziell. Die Förderung im „Demokratie leben!“-Programm steht in keinerlei Zusammenhang. Wir erhalten diese Förderung wegen unserer angesehenen und differenzierten Bildungsarbeit, unserer Sammlung und unserer Expertise im Themenbereich Jugendkulturen im Kontext von Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus. Ich weiß, die Namensgleichheit von Verein und Verlag verwirrt, aber das Buch verantworten Klaus Farin und der Verlag, nicht der Verein, also nicht das Archiv der Jugendkulturen selbst. Aus unserer Sicht sind FREI.WILD in mehrerer Hinsicht eine problematische Band, die unserer Haltung nicht entspricht. Allerdings müssen wir uns angesichts ihrer Erfolge und ihres Zulaufs natürlich mit der Band beschäftigen, natürlich auch im Kontext von Grauzone, Rechtspopulismus, Maskulinismus, Sexismus, PEGIDA und weiteren unschönen Phänomenen der Gegenwart.

Kannst du eure Kritik und Bedenken in Sachen FREI.WILD bitte genauer erläutern? Kritik an der Band zielt ja in der Regel auf Themen wie die behauptete mangelnde Abgrenzung zum Grauzonenbereich, es heißt sie bediene rechtspopulistische Diskurse, spiele mit Andeutungen und Symbolik in Hinblick auf Nationalismus und Regionalismus. Man wirft ihnen Chauvinismus vor, die Propagierung von Etabliertenvorrechten, Sexismus, krass auf Kommerz ausgerichtetes Marketing, Spiel mit Tabus.

Genau, da hast du ja schon einiges gelistet. Und das lässt sich auch nachvollziehen, in Songtexten, Interviews, auch in den Interviews mit der Band in Klaus Farins FREI.WILD-Buch. Insofern ist es eine spannende Materialsammlung. Bedenklich finde ich vor allem, dass die Band einen so großen Zuspruch erhält. Hier müssen wir uns wirklich fragen, warum das so ist, was die Band bei den Menschen bewegt, auslöst, vermutlich vor allem an Emotionen trifft. Besonders inhaltsreich sind die Songtexte und Interviews ja nicht. Ich finde, es ist eine Herausforderung, sich vor allem mit den Fans zu beschäftigen und Bildungsangebote zu kreieren, die die Fans erreichen und sie kritisch für Rechtspopulismus, Opferstilisierung, Täter-Opfer-Umkehrungen, Sexismus, Nationalismus, Rassismus, Kommerz, Etabliertenvorrechte, Flucht, Asyl, Immigration etc. sensibilisiert und zum Nachdenken und aktiv werden für Gleichwertigkeit motiviert. Wenn wir das schaffen, dann wird auch eine Band wie FREI.WILD an Bedeutung verlieren.

 


Gabriele Rohmann

Sozialwissenschaftlerin und Journalistin, Mitbegründerin und seit 2013 Leiterin des Archivs der Jugendkulturen e.V. Berlin, zahlreiche Veröffentlichungen Print, Hörfunk und online zu Jugendkulturen, Protestbewegungen, Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, darunter drei Buchveröffentlichungen; als Autorin, 1999: „Spaßkultur im Widerspruch. Skinheads in Berlin“; als Herausgeberin (zusammen mit Manfred Liebel), 2006: „Entre Fronteras. Grenzgänge. Jugendkulturen in Mexiko“; als Herausgeberin, 2007: „Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen“.