SAMIAM

Foto© by Joachim Hiller

The MOTÖRHEAD of Emo

Im Frühjahr 2023 kommt ein neues SAMIAM-Album. Das erste seit elf Jahren, seit „Trips“ von 2011. „Stowaway“ wird es heißen, und ich hatte es zwar noch nicht gehört, als die Band, die ich seit über dreißig Jahren liebe, im Oktober endlich mit BE WELL, HOT WATER MUSIC und BOYSETSFIRE auf Tour war, aber die Gelegenheit, mal wieder in echt mit Jason (voc) und Sergie (gt) zu reden, konnten wir uns nicht entgehen lassen. Und so saßen Uschi und ich nach ihrem Auftritt backstage und redeten darüber, wie es der Band ergangen ist, warum das Album so lange hat auf sich warten lassen und was das Leben mit und in einer Band so mit einem anstellt.

Jason, du bist im Hauptberuf Kneipier. Wie ist es dir die letzten zwei Jahre ergangen?

Jason: Ja, mir gehört eine Bar in Oakland, Kalifornien. Das Golden Bull in der 14th Street, direkt neben dem Rathaus. Damit war ich meist im Zentrum der Proteste und Ausschreitungen der letzen Zeit. Um uns herum wurde fast alles geplündert und in Brand gesteckt. Aber wir sind wohl doch cooler als irgendeine Bankfiliale. Ich hatte einfach ein paar Bretter vor die Fenster genagelt und gehofft, dass nichts passiert.

Wie bist du in der Gastronomie gelandet?
Jason: Jeder, der mal in einer Band war und auf Tournee gehen wollte, arbeitete in einem Restaurant oder einer Bar. Da bist du flexibel. Irgendwann habe ich mit einem Bekannten alles Geld zusammengeschmissen und den Laden da gekauft.

Und wie hast du die Lockdowns überstanden?
Jason: Wir hatten eineinhalb Jahre lang geschlossen. Das war totale Scheiße. Ich habe beinahe den Verstand verloren. Klar, ich habe die freie Zeit auch irgendwie genossen. Es hat Spaß gemacht, bei meinen Kindern zu Hause zu bleiben, aber ich war immer in Sorge, dass ich alles verlieren würde – mein Haus, mein Geschäft. Aber wir hatten noch Glück. Meine Frau hatte auch viele Jahre als Kellnerin gearbeitet, und etwa ein halbes Jahr bevor Corona kam, wechselte sie den Job. Sie fing bei einer Firma an, die online Musikinstrumente verkauft, und das Business ging total durch die Decke, als alles stillgelegt wurde. Alle Welt wollte plötzlich lernen, wie man Gitarre oder sonst ein Instrument spielt. Sie verdiente also wirklich gut, aber ich musste meine Bar schließen. Wir durften über ein Jahr lang nicht aufmachen, und wenn sie nicht gewesen wäre, wären wir am Arsch gewesen. Das waren ein paar sehr stressige Monate. Wir dachten, wir müssen unser Haus verkaufen und irgendwo nach Arizona in ein Drecksloch ziehen oder in ein Mobilehome. Letztlich hat die Regierung dann einen Haufen Geld lockergemacht, so dass wir unsere Rechnungen bezahlen konnten. „Save our venues“ hieß das Programm, ohne das wären wir im Arsch gewesen.

Hier ist die Situation gerade sehr angespannt, weil alle Kosten steigen. Wie ist das bei euch?
Jason: In Kalifornien ist sowieso schon alles super teuer. Wenn du irgendwo eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern mieten willst, kostet das 3.000 Dollar im Monat, und Benzin ist fast so teuer wie hier in Deutschland, also ist es ziemlich ähnlich. Wir sind zu viert, ich habe zwei Kinder, und wenn wir den Wocheneinkauf im Supermarkt machen, komme ich nie unter 300 Dollar weg. Das ist verrückt. Wie soll das weitergehen? Ein Freund von mir arbeitet in einem Plattenladen, seine Partnerin ist Bartender. Die haben Anspruch auf eine Wohnung mit Mietpreisbindung, aber sie verdienen mit ihren Jobs nicht mal genug Geld, um sich eine Einzimmerwohnung in Oakland mieten zu können. Das ist so beschissen, die müssen wohl in einen anderen Bundesstaat ziehen. Und nein, ich rede hier nicht von Manhattan, sondern von fucking Oakland. Täglich fallen Schüsse direkt vor meiner Bar, ein paar Mal die Woche werden Leute ermordet, das ist also keine hippe Luxus-Wohngegend ...

Wie wird es weitergehen? Wo siehst du dich mit deiner Bar in zwei oder drei Jahren?
Jason: Ich weiß es nicht. Ich sage mir immer wieder, dass dies eine vorübergehende Situation ist und dass man ein Geschäft nicht auf der Grundlage der aktuellen Situation planen darf, weil es nicht so bleiben kann. Wenn es aber so bleibt, dann sollten wir in eine Hütte im Wald ziehen und uns mit Munition eindecken.

Hierzulande sind viele Leute der Verzweiflung nahe, weil ihre Gasrechnung derart hoch ist, dass sie nicht wissen, wie sie das bezahlen sollen.
Jason: Ihr zahlt hier viel mehr Steuern als die Menschen in den USA, aber dafür hat hier immerhin jeder eine Krankenversicherung. Seit einer Weile habe ich endlich auch eine, aber zuvor habe ich monatlich 1.200 Dollar für die Gesundheitsversorgung gezahlt. Ich habe da wirklich Glück gehabt. Aber trotzdem können wir nur von Woche zu Woche leben. Aktuell ist es nur beschissen, hoffentlich wird es irgendwann besser.

Wie wirkt sich das auf die Live-Musik-Situation aus? Kommen weniger Leute zu den Shows? Wenn alle mehr für Benzin und Miete zahlen müssen, bleibt weniger übrig, um auszugehen.
Jason: Ich buche seit 2017 Shows in meiner Bar. Als ich dort anfing, ist niemand gekommen, weil der vorherige Besitzer versucht hatte, einen Salsa-Club daraus zu machen, deswegen hat er den Heavy-Metal-Booker gefeuert, also waren die Punk- und Metal-Fans, die den Laden gemocht hatten, sauer und haben ihn boykottiert. Der frühere Besitzer bat dann mich, das Booking zu übernehmen. Es war kein leichter Job, denn das einzige Publikum, das wir hatten, waren ein paar Leute, die nach der Arbeit auf einen Drink vorbeikamen. Wenn dann nach acht Uhr Bands auftraten, war niemand mehr da. Ich habe es aber nach und nach geschafft, den Laden wieder zu etablieren, es kamen wieder Leute – und dann kam Corona! Jetzt ging niemand mehr nach Feierabend noch einen trinken. Denn alle Büros waren leer. Ich konnte bisweilen Freitag mittags aufmachen und bis drei Uhr morgens geöffnet haben, aber wenn gerade kein Konzert stattfand, blieb der Laden leer. Also haben jetzt an fast jedem Abend in der Woche eine Show, und das ist das Einzige, das uns über Wasser hält. Gestern – ich verfolge das online – hatten wir ein paar Oi!-Bands zu Gast, und der Club war voll. Das muss aber auch ein paar andere Abende mitfinanzieren, denn dann ist wieder Mittwoch und es sind nur acht Leute da. Wenn du den Soundmann und die Band bezahlst und was für die Miete abziehst, bleibt da nichts übrig. Völlig verrückt. Ich wünschte, es wäre ein bisschen mehr wie bei euch, wo Konzerte eine Förderung bekommen können und Live-Musik zu einer lebendigen Stadt dazugehören. Das ist bei uns nicht der Fall.

Kultur wird in den USA also nicht so geschätzt.
Jason: Das Problem sind die großen Firmen, die sämtliche wichtigen Veranstaltungsorte übernehmen und alle anderen vom Markt verdrängen. Wenn du Glück hast, findest du einen reichen Wohltäter, der deinen Club sponsert, so wie 924 Gilman Street. Alle haben immerzu davon geredet, wie sehr sie Live-Konzerte vermissen, als wir schließen mussten. Jetzt haben wir wieder auf ... und keiner kommt. Bleibt ihr daheim und guckt noch mal alle Folgen von „Roseanne“, oder was?

Ist das eine Frage des Alters deiner Kundschaft?
Jason: Viele der unter 21-Jährigen machen lieber riesige Hauspartys, da spielen auch Bands und es kostet nichts oder nur ein paar Dollar, und man kann seine eigenen Getränke mitbringen und so weiter. Aber in eine Bar zu gehen, das ist, glaube ich, mehr das Ausgehverhalten meiner Generation. Wenn wir Pilze und Gras verkaufen könnten, würden wir wohl bessere Umsätze machen. Es ist schon eine verrückte Welt. Dazu kommt noch ein anderes Problem für Live-Musik: Jede Halle, die groß genug ist, wird mittlerweile zum Hanfanbau genutzt! Für einen Raum, in den du 100 Leute reinbekommst, zahlst du mindestens 10.000 Dollar. Was Bezahlbares findest du höchstens irgendwo in der Wüste oder im Norden von Kalifornien, aber da leben nicht genug Leute, so dass es lohnen würde, Konzerte zu veranstalten.

Hattest du jemals den Gedanken, dass du irgendwann im Leben falsch abgebogen bist, also beruflich?
Jason: Na ja. Bei dieser Tour hatte ich jede Menge Zweifel. Die Leute glauben ja, dass die Pandemie vorbei ist, aber der damit verbundene finanzielle Stress ist zumindest für mich noch nicht vorbei, und ich mache mir immer noch verdammt viele Sorgen. Ich muss jede Woche hoffen, dass genug Leute in die Bar kommen, damit wir nicht schließen müssen. Ich weiß nie, ob ich es mir leisten kann, ein paar Wochen auf Tournee zu gehen. Und ich muss irgendwie meine Rechnungen bezahlen, die Stromrechnung ...
Sergie: Ich konnte vor dieser Tour fünf Wochen lang kaum schlafen.

Warum?
Sergie: Wir haben diese Tour hier seit 2019 geplant, und es war eine andere Welt damals. 2019 hatten wir eine großartige Tour in Europa, wir hatten eine großartige Tour in Japan, wir sind ein bisschen in Amerika herumgeflogen für Shows und es fühlte sich gut an. Und wir haben 2019 beschlossen, dass wir eine neue Platte machen wollen. Um ehrlich zu sein, haben wir vier ohne Jason schon vor acht Jahren beschlossen, eine Platte zu machen. Aber für Jason war es erst letztes Jahr eine abgemachte Sache. Nicht dass er es nicht vorher auch gewollt hätte, aber er hat es erst ernsthaft in Angriff genommen, als wir mit Pure Noise ein Label gefunden hatten, dem wir vertrauen. Jason ist von uns allen derjenige, der am skeptischsten ist, was Labels angeht. In den letzten fünf Jahren haben wir oft darüber gesprochen, eine Platte zu machen. Er meinte, er wolle das nicht durchziehen, nur damit jemand anderes Geld damit verdient. Wir hatten auch mal darüber gesprochen, alles selbst zu machen. Und das wollte ich nicht, weil letztlich ich der Depp bin, der die ganze Arbeit macht. 2019 hatten wir es tatsächlich fast geschafft. Wir waren dabei, unsere Platte dank Jasons guten Kontakten zu GREEN DAY wieder in deren Studio aufzunehmen. Aber genau dann ging die Pandemie richtig los. Und der Wechselkurs des Pfunds fiel, und des Euros, und unsere Begeisterung zu touren ... 2019 fanden wir die Idee, mit HOT WATER MUSIC und BOYSETSFIRE zu touren super, und an sich fanden wir die auch in den folgenden Jahren noch super, aber das ganze Drumherum, die Realität und das Budget und alles andere ließen mich einfach nicht mehr schlafen. Und das, obwohl ich keine Kinder habe und auch keinen Job, für den ich vor Ort sein muss, denn als Grafiker arbeite ich freiberuflich, wie du ja weißt.

Was stresst dich derart?
Sergie: Ach ... wir sind ja eigentlich nur drei Wochen hier. Aber vor unserer Abreise haben wir im Osten der USA ein paar Shows gespielt, waren drei Tage zu Hause und flogen dann nach Europa. Und nach dieser Tour haben wir nur ein paar Tage frei, weil wir nach Florida fliegen, um bei The Fest zu spielen. Wir haben seit gefühlt tausend Jahren keine einmonatige Tour mehr gemacht. Ach, und dann war ja noch mein Pass während der Pandemie abgelaufen, und ich habe den neuen erst einen Tag vor unserer Abreise bekommen ... Und Jason hatte Stress, und Colin, und Chad ... weil sein Vater gestorben ist und er sich um seine Mutter kümmern musste. Ich habe fünf Wochen vor Tourbeginn noch mal mit jedem einzeln gesprochen, ob wir das wirklich machen wollen. Ich bin nicht der Typ, der leichtfertig etwas absagt, aber das war alles grenzwertig. Ich habe deshalb so eine Art halb durchdachtes Ultimatum gestellt, was passieren muss, damit wir die Tour machen, und „leider“ waren dann alle Voraussetzungen erfüllt. Ich konnte aber keine Nacht mehr vor halb drei Uhr morgens in den Schlaf finden, obwohl ich einen Monat lang keinen Kaffee getrunken habe. Ich musste das aufgeben, ich lief sowieso den ganzen Tag panisch herum, und dann noch die Sache mit dem Pass ... Das klappte erst in der letzten Sekunde, ich hatte noch sechs Stunden, bevor mein Flug ging. Und dann wurde mein Flug gestrichen! Ich dachte nur, oh mein Gott, mein Kopf explodiert gleich!
Jason: So eine Tour zu machen, macht an sich wirklich Spaß. Aber es ist auch immer eine Flucht. Es ist eine Flucht vor Dingen, vor denen ich bei klarem Verstand nicht fliehen kann, ohne dass alles auseinanderfällt. Wenn ich meine Bar verliere, landen meine Familie und ich auf der Straße! Und dann die Vorstellung, Texte für neue Songs zu schreiben ... Die Jungs hatten schon viel länger an dem Album gearbeitet als ich. Also habe ich mir was aus den Fingern gesogen, aber nichts hat wirklich Sinn ergeben. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Wir lebten 3.000 Meilen voneinander entfernt, zwei in New York, einer in Florida, einer in L.A., ich bei San Francisco. Weißt du, wir hatten keine Bandproben und ich war mir zwar sicher, dass wir eine Platte machen können, sie aufnehmen und veröffentlichen ... Aber wird es eine gute Platte werden? Oder bringen wir da was Halbgares raus? Hauen wir verdammte 15 Songs raus, für die wir uns den Rest unseres beschissenen Lebens schämen und wünschten, wir hätten sie nicht veröffentlicht? Ich habe mich also gegen eine neue Platte gewehrt, aber die Jungs hatten schon so viel Vorarbeit geleistet, dass ich mich schuldig fühlte, weil sie schon diese ganze Musik aufgenommen hatten, die wirklich gut war. Nur ich musste noch Texte schreiben und meinen Gesang aufnehmen. Ich würde gerne eine gute Platte machen, aber da war dieser ganze Druck, der sich durch alles andere aufgebaut hatte ... Letztlich war es dann so, dass der ganze andere Stress in meinem Leben so krass war, dass der Druck, eine Platte zu machen, auf eine seltsame Art und Weise weniger beängstigend war als alles anderes. Ich dachte, dass ich das doch wohl schaffen kann. Dann war ein Song fertig, und ich dachte mir, wow, geht doch, verdammt noch mal. Mal sehen, ob wir zwei Songs hinbekommen, und dann kam eins zum anderen. Ein Freund hat ein Studio in Oakland, der hat mich reingelassen, um an den Songs zu arbeiten, und Sean flog rüber und hat mir geholfen. Und eines Tages hatte ich dann die Songs zusammen, bin damit nach Florida geflogen und es war toll.

Sergie, wie hast du das erlebt?
Sergie: Wir waren mit der Musik ein Jahr vor dem Gesang fertig. Irgendwann habe ich einfach gesagt, dass ich kein Problem damit habe, keine weitere Platte zu machen, und ich habe Jason weder per Telefon noch per E-Mail weiter gedrängt. Ich habe es einfach akzeptiert. Er hat nicht das Gefühl, dass er ein Album machen will. Sean war dann derjenige, der es geschafft hat, dass Jason es gepackt hat. Dass es diese Tour und dieses Album jetzt gibt, ist wirklich Sean zu verdanken. Wenn aus dem Album nichts geworden wäre, wäre ich darüber hinweg gekommen, ich konnte Jasons Argumente nachvollziehen. Wenn das Album nicht mindestens so gut wird wie irgendwas, das wir zuvor gemacht haben, bringt es nichts.

Das Album ist also fertig?
Sergie: Keiner will aktuell ein Datum nennen, an dem es veröffentlicht wird, aber es ist im Presswerk. Und die vomn Label wollen auch, dass wir zum Release ein paar Shows spielen.

Was ist in den letzten Jahren passiert, dass sich „das Leben“ so zwischen euch und eure Musik drängen konnte?
Sergie: Es ist alles, ja, es ist das Leben. Wir tun so, als wären wir eine Band, obwohl wir schon seit zwanzig Jahren keine Band mehr sind. Eine Band wie HOT WATER MUSIC oder BOYSETSFIRE, die hat Bandproben, die hat einen Manager ... Wir haben nicht mal ein Backdrop für die Bühne, haha.

Eine dysfunktionale Band?
Sergie: Nein, das kann man nicht sagen, wir sind ja funktionstüchtig. Aber wir nehmen unsere Band nicht ernst, was das Geschäftliche angeht. Wir leben nicht nach dem Rhythmus Platte-Tour-Platte-Tour. Wir haben es aufgegeben, das zu tun.
Jason: Wir haben alles aufgegeben, was ich sowieso hassen könnte. Für ein paar Wochen nach Europa oder Australien fahren und ein paar Songs für die Leute spielen, das ist immer toll, weißt du. Aber der ganze andere Scheiß, wer will das schon machen?
Sergie: Wir kennen ja genug Leute, die von ihrer Band leben, so wie wir früher, aber irgendwann war uns klar, dass wir nie wieder von der Musik leben werden und dass unsere beste Zeit hinter uns liegt ist – damals, als wir den Majorlabel-Deal hatten. Damals hatten wir keine anderen Jobs und sind viel getourt, aber niemand, der damals in der Band war, würde über diese Zeit sagen, dass das die besten Jahre seines Lebens waren. Es war ein ständiger Kampf. Und so haben wir uns dann im Jahr 2000 oder 2001 im Grunde aufgelöst, obwohl wir fast jedes Jahr mal nach Europa kamen. Wir hatten seitdem nie wieder einen Manager in den USA, wir hatten nie wieder einen Booker in den USA, wir machen seitdem einfach alles selbst und wir machen es sporadisch und wir verschwinden immer wieder mal für sechs Monate von der Bildfläche.
Jason: Wir haben schon ein paar Mal versucht, uns zu trennen, sind aber immer daran gescheitert.
Sergie: Wir sind heute glücklicher in der Band als in der kurzen Zeitspanne von fünf Jahren, als wir wirklich eine „richtige“ Band waren. Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber ich war damals kein glücklicher Mensch. Ich war nicht verrückt oder deprimiert, aber es war schon anstrengend und nicht lustig, wenn man mit dem, was man auf einer Tournee verdient, seine Miete bezahlen muss. Es ist jetzt ganz anders.
Jason: ... besonders wenn du dein ganzes auf der Tour verdientes Geld in Las Vegas verspielst.

Ihr habt vorhin einen neuen Song gespielt, der mich an MOTÖRHEAD erinnerte ...
Jason: Du meinst „Lake speed“? Ja, der ist vom kommenden Album. Ich glaube nicht, dass der bewusst so klingen sollte, es hat sich einfach so ergeben.
Sergie: Wir haben einen Freund in Finnland. Er hat da eine Hardcore-Bar in Helsinki, wir kennen den schon ewig. Das ist ein großer, harter Kerl, der aussieht wie jemand, der SAMIAM hasst. Aber er liebt SAMIAM und der hat mal ein T-Shirt für uns gemacht, auf dem stand: „SAMIAM – the MOTÖRHEAD of Emo“. Den Song hat Sean geschrieben.

Wie fühlt es sich für euch an, Lieder zu spielen – eure Hits, wie ich einfach mal sage –, die vor zwanzig oder dreißig Jahren entstanden sind, in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben?
Sergie: Jason geht es da sicher anders als mir, weil er die Texte geschrieben hat. Ich will einfach das spielen, was die Leute hören wollen, und es ist mir egal, ich langweile mich nicht bei diesen Liedern. Einige der anderen Jungs spielen manche Songs nur, wenn sie Lust dazu haben. Für mich ist beides okay. Es gibt Bands, die sind jetzt fünfzig und wollen keine Songs mehr spielen von damals, als sie fünfzehn waren. GREEN DAY kümmert das nicht, die spielen die Songs von damals, als sie fünfzehn waren.
Jason: Aber sie spielen auch immer ihre neuen Songs. Wenn du zwanzig Platten raus hast, dann musst du schon sehr lange Auftritte haben, um von allen was zu spielen. Wir haben neun Platten oder so, und von ein paar davon spielen wir gar nichts. Mir macht es Spaß, die alten Sachen zu spielen, aber ein paar der älteren Songs gehen gar nicht mehr. Ich kann diese Texte einfach nicht mehr singen und sie auch ehrlich meinen. Es ist ein bisschen so, als ob du wieder mal auf dem Highway 5 in Südkalifornien von Los Angeles nach San Francisco fährst und jedes Mal dieselbe verdammte Raststätte siehst. Laaangweilig! Und so fühlen sich manche der alten Stücke an. Einen neuen Track zu spielen oder manche anderen alten Nummern machen mir einfach mehr Spaß.

Würdet ihr „Capsized“ nicht spielen, würdet ihr Uschis Herz brechen.
Sergie: Manchmal müssen wir Herzen brechen. „Don’t break me“ etwa spielen wir nicht jeden Abend.

„Home sweet home“ wäre auch schön.
Sergie: Das haben wir in den letzten Jahren immer wieder mal gespielt. Wir spielen immer wieder mal Songs von den ersten drei Platten. Denn für jeden Typen wie dich gibt es vierzig andere, die sich nicht für den Titel interessieren. Wir waren mal in Australien und haben dort acht Stücke von den ersten drei Platten gespielt. Ich war ein echter Befürworter davon und ich lag völlig falsch, denn die meisten Leute da haben sich nicht dafür interessiert. Ich würde „Don’t break me“ gerne mal wieder live spielen ...
Jason: Aber den haben wir nicht drauf.
Sergie: Wer kann den nicht spielen?
Jason: Na, die Band SAMIAM ...

Um auf das neue Album zurückzukommen: Es erscheint irgendwann im Frühjahr 2023, und was dann?
Jason: Hoffentlich gehen die Leute auf die Platte total ab und erzählen allen ihren Freunden davon und die kaufen sie auch ... nein, sie streamen sie alle. Wir werden auf jeden Fall nicht sechs Monate lang auf große Tournee gehen, um das Album zu promoten, weil keiner von uns das kann. Ich bin ich seit etwas mehr als einer Woche weg und meine Frau ist mit beiden Kindern zu Hause und versucht zu arbeiten und sich um die Kids zu kümmern, sie zur Schule zu bringen und die beiden Katzen und den Hund zu füttern. Die ist total genervt, ich kann nicht einmal mehr anrufen, weil sie wütend auf mich ist, also rufe ich nur die Kinder an ...

Warum tun wir uns alle das dann noch an, dieses Musikding? Weil es etwas ist, das uns so geprägt hat?
Jason: Gute Frage. Oft fühlt es sich an wie eine Bürde, wie ein Luxus, den man sich leisten können muss. Du musst so viel Geld verdienen und so viel Zeit aufwenden, um in der Bay Area zu überleben. Von der Band könnte ich nicht mal leben, wenn wir neun Monate im Jahr auf Tour wären. Dann würde wird im Trailerpark in der Wüste leben. Meine Kinder würden mich dafür umbringen.
Sergie: Wir könnten neun Monate im Jahr auf Tournee gehen, aber das würde uns psychisch zerstören. Hier mal zwei Wochen, da mal zwei Wochen, das könnte ich ewig machen. Und wir machen uns auch keine Illusionen, dass uns noch so viele Leute sehen wollen. Wir sind keine Kids mehr, sondern alte Männer.
Jason: Wir machen Musik für Boomer, die mit Gitarren gespielt wird. Das ist wahrscheinlich das Uncoolste, was man im Jahr 2022 tun kann.