BARRY ADAMSON

Foto© by Mark David Ford

The man with the golden arm

Barry Adamson war 1977 zusammen mit dem ehemaligen BUZZCOCKS-Sänger Howard Devoto Gründungsmitglied von MAGAZINE, hatte danach ein Gastspiel bei VISAGE, war kurz bei THE BIRTHDAY PARTY aktiv und wirkte in den Achtziger Jahren bei vier Alben von NICK CAVE & THE BAD SEEDS mit. Ende der Achtziger veröffentliche er erste Soloalben und es begann seine Ära als erfolgreicher Komponist von Soundtracks und Musik, die durchgehend die Qualität von imaginären Filmscores hatte. In dieser Zeit arbeitete er mit Nick Cave, Lydia Lunch, Anita Lane, Jarvis Cocker (PULP) oder Billy MacKenzie (THE ASSOCIATES) zusammen. Aktuell gibt es über Mute zahlreiche Wiederveröffentlichungen seiner Alben und Barry Adamson hat 2022 seine Autobiografie „Up Above The City, Down Beneath The Stars“ veröffentlicht. Genug Gründe, um einige Fragen zu stellen.

Barry, du warst in den Siebziger und Achtziger Jahren unter anderem mit MAGAZINE, NICK CAVE & THE BAD SEEDS, THE BIRTHDAY PARTY und VISAGE aktiv. War es eine für dich überdurchschnittlich produktive Zeit in deiner Karriere als Musiker?

Jedes Jahrzehnt scheint auf eine andere Weise neue Möglichkeiten und kreative Herausforderungen bereitzuhalten. Es ist schön, dass die Arbeit aus einer für mich fruchtbaren Soloperiode wieder veröffentlicht und neu bewertet wird, und ich bin dankbar dafür. Es ist auch befriedigend zurückzublicken und zu sehen, wie sich diese verschiedenen Phasen meiner Karriere entwickelt haben und wie sie sich im Laufe der Zeit auf die Musiklandschaft ausgewirkt haben.

Du schreibst seit den Achtziger Jahren Soundtracks oder eine Art von imaginärer Filmmusik, aber auch Jazz und Blues sind wichtig für dich. Was ist das Faszinierende daran im Vergleich zu „konventionellen“ Produktionen?
Ich denke, die Musik ist mit bestimmten Bildern verbunden, die die Wahrnehmung des Hörers auf eine bestimmte Weise lenken, die sich vom reinen Zuhören unterscheidet. Ich mag beides, aber ich muss sagen, dass das Hervorrufen von Emotionen und die zusätzliche Dimension, die Filmmusik neben den Bildern eines Films erreichen kann, das ist, was mich fasziniert und fesselt.

Mick Harvey hat in einem Interview einmal gesagt, dass traditionelle Bandformate und „Banddemokratie“ für ihn an Attraktivität verloren haben. Ist für dich die eigenständige Arbeit im Studio oder mit einigen ausgewählten Musikern attraktiver als das „klassisches“ Bandformat oder beispielsweise mit den BAD SEEDS auf der Bühne zu stehen?
Da geht es mir wie Mick. Ich neige auch dazu, das Material allein zu entwickeln und dann, für meine eigene Arbeit, ausgewählte Musiker hinzuzuziehen. Eine Band hat ihren eigenen Standort, von dem sie ausgeht, aber das ist nicht unbedingt eine Demokratie. Es gibt immer eine Art Anführer, oder zwei, und ich denke, das muss auch so sein, sonst kann die Ausrichtung unklar werden. Das ist etwas, was ich schon früh in meiner Karriere gelernt habe: Wenn du willst, kannst du dein eigener Anführer werden. Gründet eure eigene Band oder seid eine einzigartige Figur in dem Werk, das ihr der Welt präsentieren wollt.

Du hast an Soundtracks für Filme wie „Lost Highway“ von David Lynch oder Carl Colpaerts „Delusion“ mitgewirkt. Gibt es Regisseure oder spezielle cineastische Themen, für die dich noch reizen?
Ich bin gerade dabei, einen Soundtrack für einen Dokumentarfilm über das Scala fertigzustellen, ein in den 80er und frühen 90er Jahren berühmtes Londoner Kultkino und Club nahe King’s Cross Station, in dem beispielsweise 1972 das einzige UK-Konzert von IGGY & THE STOOGES stattgefunden hat. Ich war früher oft dort, ich kann den Ort immer noch riechen und erinnere mich an die großartigen Filme, die dort gezeigt wurden. Als ich gefragt wurde, ob ich Interesse an dem Soundtrack hätte, ergriff ich die Chance. Ich habe sofort gespürt, dass mir die cineastischen Themen im Blut liegen, und ich fühlte mich sofort zu Hause. Noir-Themen scheinen mich generell anzuziehen, seit meinem Album „Moss Side Story“ von 1989. Das ist die Art von Musik und Film, an der ich beteiligt sein will.

Der Film „Ghosts ... of the Civil Dead“ von 1988 von John Hillcoat mit einem Soundtrack von Nick Cave, Blixa Bargeld und Hugo Race ist für mich bis heute ein Monolith purer Dunkelheit. Gab es Gründe, weshalb du an daran nicht beteiligt warst, zumal du in dieser Zeit Mitglied von NICK CAVE & THE BAD SEEDS warst?
Ich war nicht mehr bei den BAD SEEDS und gerade mit den Aufnahmesessions zu meinem Solodebüt „Moss Side Story“ beschäftigt. Ich spüre aber eine parallele Entwicklung, da sich die musikalische Landschaft des Kinos zu diesem Zeitpunkt veränderte und es erlaubte, diese Dunkelheit auf neue Weise auszudrücken, einschließlich Electronic Sounds und verschiedener subversiver Klänge.

Die Soundtracks der Sechziger Jahre mit teilweise opulenten Streicherarrangements und Xylophon-Partituren scheinen einen wichtigen Einfluss auf dich zu haben. Wie sehr fasziniert dich die Musik dieser Zeit? Warst du als Heranwachsender ein Fan des Kinos dieser Ära?
Die Sechziger und Siebziger waren in jedem Fall ein Goldenes Zeitalter für die Vertonung von Filmen auf jede vorstellbare wunderbare Art. Mit der Einführung der Popmusik in die Filmscores wurde eine neue Sprache erlernt, und die Komponisten hatten die Freiheit, mit allem zu experimentieren, was ihnen zuvor nicht möglich war, von riesigen, üppigen Arrangements bis hin zu Orchestern mit einer Vielzahl von Musikern, im Falle der Kompositionen von Ennio Morricone oft beides. Es waren die Klänge und Arrangements von Sounds, die mich inspirierten, und das, was die Komponisten zu dieser Zeit taten.

Dieses Jahr ist deine Autobiografie „Up Above The City, Down Beneath The Stars“ erschienen. Was gab den Ausschlag für dich, eine Art Lebensbilanz zu ziehen, ohne vielleicht melancholisch in die Vergangenheit zu blicken, etwa auch als Form von Katharsis und Selbsttherapie?
Ich fand, die Zeit war reif. Ich war an dem Punkt, an dem ich begann, auf meine Karriere zurückzublicken, und ich sah die Möglichkeit, die „Hälfte meines Lebens“ wie einen Film zu schreiben, wenn man bedenkt, wie sich die Ereignisse in meinem Leben bis zu diesem Zeitpunkt abgespielt hatten. Also habe ich mich selbst wie eine Hauptfigur positioniert, die schreckliche und oft erschreckende Ereignisse durchlebt und schließlich auf der anderen Seite ankommt. Ich habe eine filmische Erzählstruktur verwendet, um genau diese Idee das ganze Buch hindurch aufrechtzuerhalten, so dass es in gewisser Weise wie ein weiteres Album für mich ist. Kathartisch, ja, und so therapeutisch, wie das Arbeiten immer ist.

Viele Musiker, mit denen du zusammengearbeitet hast, sind bereits verstorben, beispielsweise Rowland S. Howard, John McGeoch, Conway Savage, Steve Strange oder Anita Lane. Du hast deine Werkschau von 2018 „Memento Mori: Anthology 1978-2018“ genannt. Welche Bedeutung haben der Tod und die Erkenntnis der Endlichkeit des Lebens in deinen Songs?
Es ist ein riesiges Thema für mich! Der Tod ist die einzige Gewissheit im Leben, hat man mir einmal gesagt, aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich gehe in meiner Arbeit nicht allzu sehr auf diese Idee ein, ich spiele eher damit herum und habe Spaß daran, verschiedene Vorstellungen zu hinterfragen. Zudem bin ich ein spiritueller Mensch, daher behandle ich absolute Dinge wie den Tod mit Vorsicht. Und mit dem Voranschreiten in die Zukunft und den Fortschritten bei der Entwicklung künstlichen Intelligenz, wer weiß, wohin das noch führen wird.

Wie ist es mit Einflüssen aus den Bereichen Soul, Blues und Jazz?
Ich bin mit Motown-Soul aufgewachsen, neben Rockmusik, also war der ganze Katalog dieses einflussreichen Labels ein massiver Einfluss für mich, ebenso wie Isaac Hayes, Curtis Mayfield und Marvin Gaye, James Brown und all die anderen großen Musiker dieses Genres. Dann hörte ich eine Zeit lang intensiv Jazz. Ich fand es aufregend, mich selbst in dieser Welt zu entdecken, und ich habe Miles Davis, Charlie Parker, Thelonious Monk, John Coltrane und viele andere aus den 60er Jahren vergöttert. Der Blues kam viel später durch John Lee Hooker, Muddy Waters, Howlin’ Wolf, und ich höre gerne den Blues in einem Soul-Song oder den Jazz in einigen Blues Arrangements. Ich glaube, ich lasse mich direkt von der Fähigkeit inspirieren, all diese Einflüsse miteinander zu vermischen und meine eigene Identität und meinen eigenen Ausdruck zu finden.

Du warst 1980 zusammen mit Steve Strange, John McGeoch und Dave Formula von MAGAZINE und dem angehenden ULTRAVOX-Sänger Midge Ure auf dem Debütalbum von VISAGE dabei, das mit „Fade to grey“ einen Welthit enthielt. Was war das für eine Zeit für dich und wie schaust du zurück auf diese New Romantic-Zeit mit Steve Strange?
Ich war lediglich eine Art „Beifahrer“ zusammen mit anderen Mitgliedern von MAGAZINE, die an den Aufnahmen zum VISAGE-Album beteiligt waren – eine Art Sessionmusiker. Ich habe bei einigen Songs mitgespielt, stand aber nicht wirklich in der ersten Reihe. Steve Strange hatte seinen eigenen Stil, und mit der Erfahrung der anderen Mitglieder war er in der Lage, seine Visionen zu verwirklichen und mit „Fade to grey“ verdientermaßen einen Riesenhit zu landen. Ich glaube, ich habe diese Zeit eher als eine intensive Modeerscheinung erlebt, und ich erinnere mich, dass ich eher im Schatten stand, als dass ich mich dem Zentrum der Bewegung zugehörig fühlte.

Kannst du für uns fünf Veröffentlichungen deines Heimatlabels Mute Records auswählen, die eine besondere Bedeutung für dich haben?
THE NORMAL „T.V.O.D./Warm Leatherette“ (7“, 1978)
Die Anfänge von Mute und zwei Songs, die dank der Großzügigkeit und des Ehrgeizes des großen Daniel Miller vielen Künstlern die Tür zum Erfolg öffnen sollten.
NICK CAVE & THE BAD SEEDS „From Her To Eternity“ (LP, 1984) Ein Album, das ich für immer als eines der großartigsten Original-BAD SEEDS-Alben aller Zeiten betrachten werde. Es war mir ein absolutes Vergnügen, an diesem Werk mitzuwirken.
Barry Adamson „Ödipus Schmoedipus“ (LP, 1996) Ein Album, bei dem ich das Gefühl hatte, das meine Karriere wirklich Fahrt aufnahm. Türen öffneten sich und luden mich in die Welt der Soundtracks und des Filmemachens ein, und durch Jarvis Cocker von PULP, Nick Cave und Billy MacKenzie wurden weitere Sänger beeinflusst.
MIRANDA SEX GARDEN „Gush Forth My Tears“ (LP, 1991) Ich arbeitete gerade an dem Soundtrack für den Film „Delusion“ und lud drei junge Künstlerinnen ein, die ich zuvor zufällig auf dem Londoner Portobello Market als Straßenmusikerinnen gehört hatte, wie sie auf ihre wunderbare Weise eine Art „Gothic A cappella“ gesungen hatten. Auf dem Soundtrack sind sie bei „Il solitario“ zu hören. Es dauerte nicht lange, bis Mute darauf aufmerksam wurde, und MIRANDA SEX GARDEN waren geboren.
Diamanda Galás „Malediction And Prayer“ (LP, 1998) Ich könnte mir irgendetwas von Diamanda aussuchen und es hätte dieselbe nervenaufreibende, unendlich erstaunliche und schöne Wirkung auf mich. Sie ist wie alles auf einmal in eine Seele gegossen, eine außergewöhnliche Künstlerin.

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Diskografie (Auswahl)
MAGAZINE „Real Life“ (LP, Virgin, 1978)

Das Debütalbum von MAGAZINE zwischen Post-Punk und New Wave, mit Howard Devoto als Songschreiber, der zuvor die BUZZCOCKS nach deren „Spiral Scratch“-EP verlassen hatte. Es unterscheidet sich deutlich von den Punk-Alben seiner Zeit, in der zwei bis drei Minuten lange Songs die Norm waren. Die Stücke sind länger, erstrecken sich über vier oder gar fünf Minuten, mit vielen unerwarteten Tempo- und Dynamikwechseln. Auf dem Album findet sich auch „The light pours out of me“, von dem es eine großartige Coverversion von Peter Murphy (BAUHAUS) auf dessen Soloalbum „Should The World Fail To Fall Apart“ (1986) gibt.

NICK CAVE & THE BAD SEEDS „From Her To Eternity“ (LP, Mute, 1984)
Nach der Auflösung von THE BIRTHDAY PARTY und einem zwei Tage andauernden Intermezzo als THE IMMACULATE CONSUMPTIVE mit Marc Almond (SOFT CELL) und Jim Thirlwell (FOETUS) gründete Nick Cave die BAD SEEDS, eine Referenz an eine der letzten Veröffentlichungen von THE BIRTHDAY PARTY mit dem Titel „The Bad Seed“, besetzt mit Mick Harvey, Blixa Bargeld, Hugo Race und Barry Adamson. Das Album eröffnet mit einer Interpretation von „Avalanche“ von Leonard Cohen, einer steten Quelle der Inspiration über die gesamte Schaffensphase von Cave, und enthält mit „In the ghetto“ ein Cover von Elvis Presley. Der Titelsong wurde zu einem Klassiker in Nick Caves Werk und später Teil des Soundtracks des Wim Wenders-Films „Der Himmel über Berlin“.

THE BIRTHDAY PARTY „Junkyard“ (LP, Mute, 1982)
THE BIRTHDAY PARTY waren die Essenz der musikalischen Apokalypse und das wütende Auge des Orkans in stimmiger Einigkeit. Die Australier bündelten in unvergleichlicher Weise rohe Energie, brachiale Selbstinszenierung, pulsierende Lärmekstasen und schiere Provokation, stets rücksichtslos gegenüber sich selbst und dem Publikum. Barry Adamson, der neben Tracy Pew als Bassist aktiv war, da Pew wegen Alkohol am Steuer zeitweise aufgrund von Gefängnisobhut ausgefallen war, erfand den wummernden Bass von „Kiss me black“, der Text kam von Anita Lane. Auch auf den BIRTHDAY PARTY-Ausnahme Songs „She’s hit“ und „Hamlet (Pow, pow, pow)“ überzeugt der Bass von Barry Adamson.

ANITA LANE & BARRY ADAMSON „These Boots Are Made For Walking“ (12“ Mute, 1991)
Unter der produktionstechnischen Mitarbeit von Holger Hiller (PALAIS SCHAUMBURG) entstand mit Anita Lane diese wunderbare Coverversion eines Klassikers von Lee Hazlewood und Nancy Sinatra von 1966. Als Anita Lane im April 2021 verstarb, kommentierte Nick Cave ihren Tod wie folgt: „The smartest and most talented of all of us, by far.“

Barry Adamson „Delusion“ (LP, Mute, 1991)
Ein exzellenter Soundtrack von Adamson zum unterschätzten Neo-Noir-Roadmovie von Carl Colpaert. Ein Manager, der Geld veruntreut hatte, und durch die Wüste von Nevada fährt, sammelt ein Showgirl aus Las Vegas und ihren psychotischen Freund auf, nachdem ihr Fahrzeug verunglückt ist. Der Freund, ein Auftragskiller, hat nicht die Absicht, ihn mit dem gestohlenen Geld davonkommen zu lassen. „Die mit Sicherheit schlechteste Version von Lee Hazlewoods Klassiker ,These boots are made for walking‘ – von Barry Adamson und Anita Lane – vergällt einem das Werk zusätzlich“, urteilte die Website „der Film Noir“.