FREEWILL

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Throwback à la Orange County

Eine neue Band aus Orange County sind sie nicht – FREEWILL gibt es es bereits seit 1987. Etwa dreißig Jahre danach fand die Band wieder zusammen und nach Rereleases ihrer ersten EP und LP kommt nun mit „All This Time“ eine neue Platte heraus. Die Band reiht sich ein in die Riege ihrer Labelmates auf Unity Worldwide Records – O.C.-Hardcore mit D.C.-Einschlag (nicht nur) für Erwachsene. Ich treffe mich online zum Interview mit Bassist Mike Hartsfield, der Label-Owner von New Age Records ist und in der Vergangenheit bei OUTSPOKEN und STRIFE gespielt hat.

Mike, was bedeutet „Jugend“ für dich?

Aus jetziger Sicht sind wir heute natürlich weiser, wenn wir an unsere Teenagerzeit zurückdenken und wissen, was wir eigentlich für Chancen hatten. Wir haben viel reflektiert über den Wunsch, nützlich und inspirierend zu sein, als wir jung und frisch waren. Wir waren weder aufgrund der Politik noch der Musik verzweifelt. Meine Tochter und ihre Freunde sind heute total gespannt und für so viele Dinge zu begeistern. Wir dagegen haben vieles als selbstverständlich betrachtet, wie die vielen Bands oder die Auftrittsmöglichkeiten. Wir waren eher gesättigt, als dass wir mit offenen Augen durch die Welt gelaufen und empfänglich für Neues gewesen wären.

Wie alt wart ihr, als ihr mit FREEWILL angefangen habt?
Wir waren zwischen 16 und 17 Jahre alt, ich war mit ein paar Monaten Vorsprung der Älteste.

Gibt es deiner Erfahrung nach heute noch Kids, die in diesem Alter in der Garage Hardcore spielen und Demotapes aufnehmen?
Ich beobachte einige Bands, die bekannt und erfolgreich werden und dabei noch sehr jung sind. Viele Leute aus meiner Generation sind davon nicht so begeistert, da es die jungen Bands angeblich viel leichter hätten. Sie vergessen aber, dass es jede Generation Bands leichter hat als die jeweilige Generation zuvor. Ich sehe in den neuen Möglichkeiten viel mehr Positives als Negatives. Du musst nicht mehr in der Garage mit dem Kassettenrecorder, um dein erstes Demo aufnehmen. Du nimmst den Song mit deinem Computer auf und benutzt ProTools. Es ist dann schon mal viel professioneller. Das kann man ihnen ja wirklich nicht vorwerfen. Und die Bands geben heute genauso ihr Bestes wie wir damals. Ich finde es toll, wenn du einen Part aufnimmst und ihn den anderen Bandmitgliedern schickst, die dann über das Wochenende ihren Part einspielen. Ja, bei den Aufnahmen haben sie es leichter, die nächste Generation wird es wiederum noch einfacher haben. Es ist ein wirklich spannendes Thema.

Ihr wart damals selbst eine junge Band, als ihr euer Debüt „Sun Return“ rausgebracht habt. Es erinnerte mich sofort an die LP „Field Day“ von DAG NASTY.
Das ist ganz und gar nicht falsch, haha. Das war „unser Sommer 1987“ – der von VERBAL ASSAULT, von DAG NASTY ... Wenn du jung bist, saugst du alles in dich auf, was du bekommen kannst. Als wir gehört haben, dass genau das Studio frei war, in dem DAG NASTY „Field Day“ aufgenommen hatten, haben wir angerufen und uns sofort eingemietet. Das Studio haben viele genutzt, etwa auch INSIDE OUT, REASON TO BELIEVE, OUTSPOKEN und andere. Es war perfekt und ständig war etwas los. Dort sind viele tolle Produktionen entstanden.

Für euer damaliges Alter wirken die Musik und die Texte auf mich sehr erwachsen und reflektiert. In den Songs geht es um eigene Erfahrungen etwa in Liebesdingen anstatt um das Abfackeln des Weißen Hauses.
Die Texte haben überwiegend die anderen geschrieben. In der Szene gab es aber damals ein großes Bewusstsein auch persönlichen Erfahrungen gegenüber, nicht nur zur Politik. Wir haben auch mit Bands gespielt, die völlig anders klangen und viel härter waren. Unsere Songs waren aber einfach reflektierter, ähnlich wie bei DAG NASTY oder auch DESCENDENTS. Bei uns ging es nicht so sehr um das System oder die Regierung.

Ist die neue LP eine Blick zurück in diese Zeit?
Inhaltlich sind es natürlich auch Themen, die zeitlos sind. Nehmen wir zum Beispiel die Liebe. Textlich ist es aber sonst kein Throwback, eher musikalisch. Es klingt so, als wären wir immer da gewesen und hätten durchgehend Platten rausgebracht. Ich bin einfach glücklich mit dem, was dabei herausgekommen ist nach dieser ganzen Zeit. Wie du dir vorstellen kannst, hatten wir einen Haufen Songs in petto, insbesondere von Paul, unserem Sänger und Gitarristen, die wir bearbeiten konnten.

Ich finde die LP vom Feeling her ähnlich wie die erste.
Das finde ich super. Ich habe Freunden von mir Demos vorgespielt und die sagten auch gleich, dass das „die FREEWILL-Gitarre“ ist, die da zu hören ist, was mich sehr gefreut hat. Ich verstehe es nicht, wenn man Bands vorwirft, dass sie immer gleich klingen – ich meine, die DESCENDENTS hören sich immer wie die DESCENDENTS an. Und das ist doch super.

Was gibt es für dich für Unterschiede in den verschiedenen Hardcore-Szenen, wenn wir mal Orange County mit beispielsweise New York vergleichen?
Wir haben mit unserem sehr melodischen Hardcore mehr in Richtung Punkbands geschaut. Ich weiß nicht, ob es damals den Begriff Pop-Punk schon gab. Die große Veränderung zu damals ist, dass es heute verdammt schwierig ist, an Konzerte zu kommen. Eine Booking-Agentur zu finden, ist super schwer geworden. Ebenso ist die Präsentation der LP äußerst schwierig zu organisieren. Ich schreibe permanent Mails, und klar, die Agenturen bekommen wahrscheinlich 30.000 Anfragen am Tag, vor allem da Corona alles von Grund auf verändert hat. Nur schau dir uns an, die wir Dekaden Pause gemacht haben und wieder mal eine Platte rausbringen, im Gegensatz zu Bands, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten und denen das Wasser bis zum Hals steht.

Den heutigen Orange-County-Hardcore kann man beim oberflächlichen Hören bestimmt auch als melodischen Punkrock bezeichnen, der sich von anderen sehr unterscheidet – nehmen wir nur mal den NYHC. Gibt es weitere Unterschiede, beispielsweise in der Mentalität?
Jede Szene hat erst mal ihre Subszene. Hardcore kann rougher oder melodischer sein oder mehr in Richtung Punk gehen. Der große Unterschied ist, wo Hardcore wie funktioniert – geografisch gesehen. An der Ostküste floriert Hardcore auch deswegen, weil die Wege sehr kurz sind. Jede Band hat zwischen New York, New Jersey, Connecticut, D.C. und Pennsylvania verdammt viele Gelegenheiten aufzutreten. Wir in Kalifornien haben das hier so nicht, wenn du mal die Bay Area weglässt – wir brauchen einen Tag bis in den Norden Kaliforniens oder nach Phoenix, Arizona oder nach Vegas. Die weiten Wege machen das alles schon aufwändiger, wenn man viel spielen möchte. Andererseits ist es auch schön – so haben wir hier viel zu tun und müssen gar nicht wegfahren, haha. Im Ernst, wir haben einfach nur diese Möglichkeiten hier.

Auf der Benefiz-Show nach dem Tod von Jon Bunch, dem Sänger von REASON TO BELIEVE und später SENSE FIELD, haben so einige Orange-County-Bands gespielt. Ich habe das Gefühl, der Tag war für viele eine Art Initialzündung, wenn ich mir anschaue, was in der Folge so alles passierte, wie beispielsweise die Gründung von LASTLIGHT.
Es war in mehrerlei Hinsicht zu etwas gut. Jon war über all die Jahre in der Szene aktiv und eine wunderbare Persönlichkeit. Als er bei REASON TO BELIEVE spielte, wollten alle irgendwie dabei sein. Dann gründete er SENSE FIELD und wir waren zunächst geschockt, weil wir einfach mehr Hardcore erwartet hatten. Aber SENSE FIELD waren genau die, die eben die weiten Wege, wie ich sie vorhin beschrieben habe, gegangen sind. Sie waren neugierig, voller Begeisterung und sehr inspirierend, und so konnten wir alle sehen, dass man auch einfach mal neue und andere Dinge ausprobieren kann. Die Benefiz-Show war fantastisch. Sie brachte Leute zusammen, die teilweise schon lange gar nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Auch wir in unserer Band OUTSPOKEN hatten lange Zeit Schwierigkeiten miteinander gehabt. Wir schoben das aber alles beiseite, um mitzuhelfen, unseren Freund zu feiern, der gestorben war. Anstatt uns alt und verbittert zu fühlen, war es dadurch für alle ein wahnsinnig schöner Moment. Es war überwältigend zu sehen, wie viele Leute in so kurzer Zeit zusammenkamen und wie viel Geld für Jons Sohn gesammelt werden konnte.

Von außen hat man Schwierigkeiten aufzudröseln, wer in der OC-Szene nicht alles schon mit wem in einer Band zusammengespielt hat. Gibt es eine „OCHC Family“?
Das Älterwerden hat Vor- und Nachteile. Im Laufe der Zeit bauten sich einige Antipathien auf und die Jon Bunch-Show hat vieles wieder eingerissen. Abseits von diesem fantastischen Tag ist es generell so, dass uns nur selten bewusst wird, was die Shows eigentlich bedeuten. Du triffst Leute, die du seit Jahren nicht gesehen hast, und kannst dich danach freuen, endlich mal wieder für zehn Minuten eine tolle-Diskussion geführt zu haben. Im OCHC ist es wie in allen Familien – es gibt Gutes und Schlechtes. Aber im Grunde genommen wollen wir doch für uns und andere immer nur das Beste.

In ein paar Wochen geht ihr auf eine Mini-Tour mit FIELD DAY und GAMEFACE. Wie sieht es bei euch derzeit mit Corona aus?
Im Herbst letzten Jahres haben wir alle gedacht, dass Ende Februar die Zahlen bestimmt runter sind und Konzerte stattfinden können. Niemand konnte mit dieser riesigen Welle rechnen, die nun über uns hereingebrochen ist. Doug von FIELD DAY hat die Organisation übernommen und musste nur ein paar Anrufe machen – und jetzt drücken wir jeden Tag die Daumen, dass es klappt. In Europa lebt man momentan auch von Tag zu Tag und muss dann doch canceln, oder?

Zumindest in Deutschland werden gerade fast jeden Tag meist komplette Touren abgesagt ...
Ja, das ist sehr schlimm. Man kann nur hoffen, dass es dieses Jahr irgendwann mal wieder halbwegs normal laufen wird. Ich will mir nicht vorstellen, was es momentan etwa für SICK OF IT ALL bedeutet, die ja eine „Tourband“ sind.

So einigen Musikern aus New York ist die Pandemie aber völlig egal – sie spielen wie im letzten April im Tompkins Square Park ohne Rücksicht auf Verluste vor knapp 3.000 Zuschauern und machen sich über Kritik daran nur lustig. Und damit habe ich ein Problem.
Ja, da stimme ich dir zu, das ist wirklich ein Problem.

Du betreibst das Label New Age Records. Habt ihr in den USA auch so ein großes Problem mit den Wartezeiten bei den Vinyl-Releases?
Ja, momentan dauert es zehn Monate, bei anderen ein Jahr und für neue Kunden werden anderthalb Jahre Vorlauf eingeplant. Was natürlich schlecht ist, wenn du alles vorfinanzierst und nicht weißt, ob deine Band nicht eventuell schon wieder aufgelöst ist, wenn die Platten dann endlich gepresst sind.

Bei uns ist wohl auch der Rohstoff, das Granulat, knapp. In dem Zusammenhang verstehe ich nicht, dass fast jede Band 180-g-Vinyl rausbringen muss – wie wäre es mit halbem Gewicht und doppelt so vielen Platten?
Ich glaube nicht, dass das etwas bringen würde. Ob es jetzt 180 g oder 135 g sind, spielt für die Herstellungsdauer keine Rolle. Es ist der gesamte Prozess, der mittlerweile so viel Zeit in Anspruch nimmt.

Was wünschst du dir für die Zukunft für FREEWILL?
Einfach das zu machen, was alle machen wollen: Konzerte spielen, wenn die Dinge „wieder normal“ sind – und das so, dass es für alle sicher ist und es jeder ernst nimmt. Ich war schon fünf Mal in Europa auf Tour, es ist das Größte und Schönste, was dir als Musiker passieren kann. Die anderen von FREEWILL waren noch nicht dort, und wenn ich davon erzähle, sind sie ganz baff und fragen, ob das wohl irgendwann mal passieren wird. Na klar, wenn wir zuversichtlich nach vorne sehen und unser Bestes geben und eine Booking-Agentur interessiert ist, wird es klappen.