HOT MILK

Foto© by Frank Fieber

Ritter für eine bessere Welt

Die Band aus Manchester hat in den fünf Jahren Bandgeschichte einen raketenhaften Aufstieg hingelegt. Aus dem WG-Wohnzimmer bis auf die Bühnen der größten Festivals. Warum HOT MILK so sehr den Zeitgeist zu treffen scheinen, besprechen wir mit Jim und Han, beide Gesang und Gitarre.

Die Geschichte eurer Band klingt fast zu schön, um wahr zu sein: Von der Gründung in einer betrunkenen Nacht, in der ihr den ersten Song geschrieben habt, bis zu den großen Festivals und dem der größten Rockbands in nur wenigen Jahren ... Kommt euch das nicht manchmal unwirklich vor?

Jim: Ja und nein. Es steckt so viel harte Arbeit in den Songs und den Touren. Wir machen eine Menge selbst, ob es nun darum geht, unser Rig zu bauen, die Produktion zu entwerfen, die Tour zu managen, die sozialen Medien zu betreuen ... es hört nie auf. Es ist unwirklich, mit unseren Idolen zu spielen, und wir werden uns nie daran gewöhnen, aber wir haben sehr hart gearbeitet. Ja, es ist eine kurze Zeitspanne, aber das liegt daran, dass wir ungeduldig sind und nichts anderes tun, als an dieser Band, dieser Musik und der inneren Einstellung zu arbeiten. Jeden. Einzelnen. Tag.

HOT MILK sind eine Band, die vor allem in Krisenzeiten existiert hat – Brexit, globale Erwärmung, Corona –, habt ihr das Gefühl, dass diese Bedrohungen auch das Feuer bei euch angefacht haben?
Han: Oh hundertprozentig, die Bedrohung, dass uns unser ganzes Leben unmittelbar weggenommen wird, ist der Grund, warum wir so ungeduldig sind. Die Vorstellung, dass wir eines Tages aufwachen und alles in unserem Leben weg ist ... Also haben wir keine Zeit zu verlieren. Aus diesem Grund sind wir in unserer Musik und in unserem täglichen Leben so aggressiv. Wir spüren das Gewicht der Welt auf unseren Schultern. Ich habe mich bei all dem immer ein bisschen wie ein Ritter gefühlt, es ist meine Aufgabe, eine bessere Welt zu erschaffen und sie zu schützen. Ich hatte immer das Gefühl, eine moralische Verpflichtung zu haben, die Welt besser zu machen, Ungerechtigkeit macht mich wütend. Wenn ich mir eine Plattform verschaffen kann, dann kann ich mich zu Wort melden. Ich komme aus einer Gegend, in der ich keine Stimme hatte, als ich aufwuchs ... Ein junges Mädchen in einer Arbeiterstadt, willst du mich verarschen? Mir wurde immer gesagt, ich solle gesehen und nicht gehört werden.

Du hast gesagt, dass jeder bei euren Shows willkommen ist, unabhängig von Geschlecht oder Sexualität. In Zeiten, in denen Konzerte von großen Bands alles andere als ein sicherer Ort zu sein scheinen – was, glaubst du, bietet eine HOT MILK-Show euren Fans?
Jim: Warst du schon einmal bei einer HOT MILK-Show? Von der ersten Note an ist es Power, wir sind alle zusammen in diesem Raum und bereit loszulegen. Han hat ein Händchen dafür, Menschen zu vereinen und Energie aus ihnen herauszuholen, und das ist es, was wir tun. Es ist eine Feier des Lebens und das geht über Sexualität oder Geschlecht hinaus, es ist eindeutig menschlich. Wir geben den Menschen den Raum, regelrecht zu explodieren und einfach im Hochgefühl des Augenblicks zu leben. Darum geht es.

Die Themen, die ihr ansprecht, haben sich im Laufe der Zeit verändert, von „angsty“ Texten zu mehr Politik. Wie ist die Balance auf „A Call To The Void“ – was sind die Themen auf der politischen und der persönlichen Seite? Und wie spielen sie zusammen?
Han: Ich würde sagen, dass es in den letzten Jahren nur ein paar politische Songs gab, wir sprechen viel über Introspektion und die Gefühle, die mit den Frustrationen des Lebens in der modernen Welt einhergehen. Die ist ein unvollkommener Ort und es kann wirklich schwierig sein, sich darin zurechtzufinden. Auf unserer neuen Platte geht es mehr um Einsamkeit, Trauer, Depression. Wie es sich anhört, wenn man sich selbst das Herz bricht, Enttäuschung und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Aber es gibt auch eine Menge Hoffnung tief drinnen, wir brechen die Traurigkeit gerne mit einigen unsinnigen, verrückten Momenten auf. Es kann schließlich keine Dunkelheit ohne Licht geben.

Ihr habt für das Album den Begriff „Positiver Nihilismus“ gefunden. Was bedeutet das in Bezug auf „A Call To The Void“?
Han: Es bedeutet, dass du, obwohl du alle inneren Philosophien durchlaufen hast, durch jedes Kaninchenloch gegangen bist, um in dein Gehirn einzudringen, dass du sterben wolltest. Aber trotzdem bist du noch hier. Auch wenn alles nichts bedeutet, können wir doch versuchen, das Beste in allem zu finden. Es gibt immer noch etwas Freude zu finden. Wir sind Realisten durch und durch, wir haben genug Herzschmerz und Trauer erlebt, um zu wissen, dass diese Welt und das Leben böse, brutal und kurz sein können ... Aber so lange wir hier sind, können wir genauso gut versuchen zu lächeln.

Obwohl HOT MILK sich im Herzen immer noch wie eine Pop-Punk-Band fühlen, gibt es so viele verschiedene Songs und Einflüsse auf dem Album. Glaubst du, dass Pop-Punk immer noch das richtige Genre ist, um HOT MILK im Jahr 2023 zu beschreiben?
Jim: Pop-Punk war nie das richtige Wort, um uns zu beschreiben, wir haben das Gefühl, dass es zu einfach ist. Genres sind eine Lüge, wir haben Einflüsse von überall in der Musik ... Klassik, House, Techno, DNB, Rap, Rock, Metal und ja, Pop. Pop-beeinflusste Musik mit Gitarren ist anscheinend das, was die Leute als Pop-Punk bezeichnen. Gut für sie, aber wir haben uns selbst nie so bezeichnet. Ich denke, für die Zukunft sind wir einfach HOT MILK und ehrlich gesagt haben wir keine Ahnung, wie diese Band in fünf Jahren klingen wird.