LAGWAGON

Karoplatin

Das gleiche Spielchen wie immer: Die Band ist auf Tour, der Schreiber im fernen Deutschland bekommt einen Satz Telefonnummern und verbringt die nächsten Tage damit, sich das Gemaule wildfremder Hotelgäste anzuhören, die von ihm zu nächtlicher Stunde aus dem Schlaf geschreckt wurden, weil die gewünschte Band das Zimmer natürlich schon längst wieder geräumt hat. Oder man kommuniziert vier Tage lang per Anrufbeantworterbotschaften, ohne sich je persönlich zu sprechen. Aber was jammere ich euch was vor? Schließlich habe ich LAGWAGON-Sänger Joey doch noch erwischt – frisch von der US-Tour zurückgekehrt, im heimischen San Francisco.

Joey macht einen etwas matten Eindruck und entschuldigt sich damit, dass er bei einer mehrwöchigen Tour meist fünf, sechs Tage brauche, um wieder in seinen normalen Lebensrhythmus zu finden. „Diesmal hielt sich der „Tourkater“ in Grenzen“, erzählt Joey, „aber an Ausruhen ist trotzdem nicht zu denken, ich habe einfach zu viel zu tun.“ Was er auf Tour am meisten vermisse, frage ich ihn: „Natürlich meine Freundin, und natürlich mein Bett, meine Couch und meinen Kühlschrank – eigentlich alles an meinem Zuhause, auch den Alltag hier. Zuhause zu sein ist einfach ein gutes Gefühl, hier kennst du alles, da ist nichts fremd, du fühlst dich wohl. Das soll aber nicht heißen, dass ich nicht gern auf Tour gehe.“
Liegen bleibt während der LAGWAGON-Touren vor allem all das, was mit Joeys Plattenlabel My Records zu tun hat. „My Records ist allein mein Ding, und so bleibt natürlich alles liegen, wenn ich nicht da bin. Gestartet habe ich das Label vor rund zwei Jahren mit einer Compilation – und das ist auch die einzige Platte, an der ich noch die Rechte habe, das ist echt krass. Die Compilation enthält kaum „richtigen“ Punkrock, da ist auch sehr viel eher poppige Musik drauf. Ich habe sie damals aus Bands zusammengestellt, mit denen ich befreundet bin, die wir auf Tour getroffen haben oder deren Demo mir gefiel – einfach nur so, ohne ein bestimmtes Publikum im Auge zu haben. Dann habe ich ein Platte von Freunden rausgebracht, von NERF HERDER, einfach nur so als Freundschaftsdienst, aber die Platte ging ab wie nichts und wurde überall im Radio gespielt. Die Sache wuchs mir schnell über den Kopf, ich konnte eine Band, die plötzlich so groß war, gar nicht vernünftig betreuen, als Ein-Mann-Indie-Label. NERF HERDER haben sich dann einen Manager gesucht und bei einem Major, bei Arista unterschrieben. Ich habe ihre Platte natürlich zur Neuveröffentlichung freigegeben und wir sind immer noch gute Freunde.“
Auch mit seiner nächsten Veröffentlichung hatte der LAGWAGON-Mann dasselbe Glück oder auch Pech: „Ich brachte dann das Album von RIDEL HIGH raus, das ist so Singer/Songwriter-Musik, und war damit sehr zufrieden. Aber nach NERF HERDER hatten wohl schon ein paar Industrie-Leute ein Auge auf mein Label geworfen und schwuppdiwupp hatten RIDEL HIGH ein Major-Angebot auf dem Tisch und ich war schon wieder aus dem Spiel. Ich habe sie natürlich gehen lassen, und sie sind jetzt auf A&M. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass ich sowas wie ein Trittstein auf dem Weg zum Erfolg bin, haha. Ich bin damit echt nicht glücklich, weil ich immer noch vor habe, ein nettes kleines Label zu machen. Immerhin hatte die ganze Angelegenheit den Vorteil, dass ich jetzt über das nötige Kapital verfüge, das Label weiter aufzubauen.“
Mit etwas Glück werden die nächsten My-Releases keine Hits und der gute Joey schafft es endlich, sich einen Labelkatalog aufzubauen und mehr als nur eine Compilation im Programm zu haben. In Planung sind derzeit eine neue Compilation, die Anfang nächsten Jahres erscheinen soll, und das Album von ARMCHAIR MARTIAN steht auch an. Letztere, glaubt Joey, seien so weit von jeglichem Mainstream entfernt, dass hoffentlich kein Majorlabel gierig die Klauen nach ihnen ausstreckt. Außerdem wolle auch die Band selbst nichts mit Majors zu tun haben, meint Joey.
Doch zu LAGWAGON, deren neues Album „Double Plaidinum“ und die derzeit laufende Europa-Tour der eigentliche Anlass dieses Interviews ist. Glaubt man den Plattenhändlern hierzulande, liegt melodischer Punk im California-Stil derzeit wie Blei in den Regalen und nur die „großen“ Bands des Genres sind noch gefragt.Verfolgt man die Besprechungen von Bands, die mehr oder weniger melodischen Punk spielen, in der hiesigen Presse, so fällt auf, dass ein Großteil der Schreiber Stagnation und Langeweile konstatiert – ein Kontrast zur Tatsache, dass die Konzerte enstprechender Bands nachwievor gut besucht sind. „Mich würde es wundern, wenn es anders liefe. Vor Jahren haben die Leute, gerade auch die Fanzines, Bands wie uns hochgejubelt, wir haben gerade auch in Deutschland unzählige Fanzineinterviews gegeben, und jetzt tritt ein allenthalben zu beobachtenes Phänomen auf: Jüngere Leute können es oft einfach nicht leiden, wenn etwas zu populär wird. Und dann werden die entsprechenden Bands eben runtergemacht. Ich kann mich darüber echt nicht aufregen, und auch nicht über schlechte Besprechungen von LAGWAGON. Ich habe meinen Stil gefunden, mag die unterschiedlichste Musik und mache mit meiner Band genau das, worauf ich Lust habe. Gefallen ist für mich das einzige, was zählt: Die eine Band sehe ich auf MTV und kaufe mir daraufhin die Platte, von der anderen bekomme ich von einem Iro-Punk ein Demo zugesteckt und bin begeistert – für mich macht’s keinen Unterschied. Was ich damit sagen will: Ich muss mit meiner Band zufrieden sein, nur das ist wichtig. Und wenn man an Popularität einbüsst, lässt sich das nicht ändern, denn man kann sein Tun doch nicht daran ausrichten, was andere Leute von einem erwarten.“
LAGWAGON als Überlebende eines Trends, der sich totgelaufen hat? Jein, denn die LAGWAGON, die mit Joeys einzigartig knödligem Gesang vor sieben Jahren auf die Bühne traten, klangen doch etwas anders die des ’97er Jahrgangs. Bisweilen, so mein Eindruck, unternimmt man auf „Double Plaidinum“ von der „Melodic Punk“-Basis aus Erkundungen ins Alternative-Rock-Terrain. „It is what it is“, kommentiert Joey diese Mutmaßungen meinerseits. „Eine Platte ist immer die Momentaufnahme einer Band. Viele Leute glauben, es sei möglich, eine Platte genau vorauszukalkulieren, und ehrlich, ich wäre froh darüber, diese Fähigkeit zu besitzen. Obwohl, ich weiß nicht, ob das wirklich so gut wäre – es wäre jedenfalls eine interessante Erfahrung. So bleibt die Entstehung einer Platte so unkontrollierbar wie die Geburt eines Kindes: Man muss sich sich auch als direkt an der Entstehung beteiligter vom Ergebnis überraschen lassen. Und auch wenn das Ergebnis nicht den eigenen Erwartungen entsprechen sollte, so ist es doch ein Teil von dir. Um auf die Platte zurückzukommen: Ich liebe unser neues Album, halte es für unser bislang gelungenstes.“
Immerhin: Meine Beobachtung, dass sich LAGWAGON hörbar vom Sound ihrer Anfangstage entfernt haben, bestätigt der Frontmann der Bay Area-Formation: „Sehr viele Leute haben mir gesagt, das neue Album klänge anders als unsere vorherigen Sachen, und ich finde das o.k. Es ist ja auch langweilig, wenn eine Band immer wieder die gleiche Platte aufnimmt. Alles verändert sich, auch die Musik einer Band. Ich finde es aber auch wichtig, dass man eine Platte losgelöst von ihrem Kontext betrachtet, also ohne ständig derzeitige Entwicklungen und Trends im Blick zu haben. Und ich denke, wenn man unsere Platte ohne Vorurteile und Vorbeeinflussung hört, wird man feststellen, dass sie einfach schön ist, mit sehr guten Songs, die alle ein „Herz“ haben. Es ist eine durch und durch ehrliche Platte, und darauf kommt es mir an.“ Zumindest für die Zeit der Studioaufnahmen war Ken von den legendären POSIES Gitarrist bei LAGWAGON – und das hört man, wie ich Joey gegenüber feststelle. „Ken kam nur zu den Album-Aufnahmen nach San Francisco, er ist also immer noch bei den POSIES. Die nehmen übrigens gerade ihre neue Platte auf. Wir alle sind seit Jahren große POSIES-Fans, und da war es natürlich sehr schön für uns, mit Ken zusammenarbeiten zu können. Wenn jemand sagt, dass er auf der neuen Platte einen POSIES-Einfluss heraushört, ist das aber nicht so einfach zu erklären: Ken Stringfellow war am Songwriting gar nicht beteiligt und sprang nur für unseren alten Gitarristen ein, der eine Woche vor dem Studiotermin ausstieg. Wenn man also was von den POSIES heraushört, liegt das eher daran, dass wir alle die Band lieben. Ken hat der Platte vielleicht sowas wie ein Sahnehäubchen aufgesetzt.“ Einen dauerhaften Ersatz für die vakante Gitarrenposition haben LAGWAGON mittlerweile mit Chris gefunden, der bislang bei R.K.L. spielte. Damit sind schon zwei ex-R.K.L.-Leute bei LAGWAGON, denn Drummer Dave, vor zwei Jahren bei LAGWAGON eingestiegen, schwang auch einst dort seine Stöcke.
Dass der Albumtitel „Double Plaidinum“ eine Anspielung auf die legendäre KISS-Platte ist, liegt auf der Hand. In diese Wortspielerei allerdings irgendetwas hineinzuinterpretieren, davon hält Joey rein gar nichts. „Der Titel ist vielmehr ein typisches LAGWAGON-Chaosprodukt. Wie jedesmal hatten wir die Platte fertig, aber uns nicht um Cover und Titel gekümmert. Also mussten wir in ein paar Tagen was zusammenschustern. Beim letzten Mal war das Resultat dieser dicke Cowboy auf dem Cover, diesmal hatte ich seit ein paar Tagen dieses Wortspiel im Kopf, und da ich großer KISS-Fan bin, war die Sache gebongt.“
Sinn für witzige Details bewiesen LAGWAGON auch beim Mastern ihrer CD. Wem das Intro von „One thing to live“ nicht gefällt, kann es am CD-Player nämlich einfach Wegskippen – Punkrock interaktiv! „Das ist meine Schuld“, lacht Joey. „Ich war allein im Mastering-Studio und wir haben einfach ein bisschen Blödsinn gemacht. Es ist echt erstaunlich, was man mit diesen IDs so machen kann. Es gibt mittlerweile sogar die Möglichkeit, einen Song mit einer Nullkodierung am Anfang der CD zu verstecken, an den man dann nur über das Rückwartsspielen vom ersten Titel aus rankommt. Die Lizenz der Software-Firma war uns letztendlich aber zu teuer. Bei „Goodbye“, dem letzten Song, haben wir dafür noch ein paar kleine Spielereien versteckt.“