MARK REEDER

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Von Manchester nach Berlin (West)

Der Musiker, Produzent, Labelbetreiber, Schauspieler und Autor Mark Reeder ist einer der spannendsten Figuren der Berliner Musikszene. Er siedelte 1978 von Manchester, wo er in einem der ersten Virgin-Plattenläden arbeitete, nach Berlin über. Grund dafür war seine Faszination für die dortige Krautrock-Szene, speziell TANGERINE DREAM. Er betreute unter anderem die Berlin-Niederlassung von Factory Records und produzierte Dokumentationen über West-Berlin für das englische Fernsehen.

Berlin ist er bis heute treu geblieben, auch wenn er viel durch die Welt reist. Er managte MALARIA!, die gemeinsam mit THE BIRTHDAY PARTY auf Tour waren. Und irgendwie war es wohl Mark Reeder, der Nick Cave nach Berlin holte. Als er ihm gegenüber eher beiläufig erwähnte, dass er 80 DM im Monat Miete in Berlin zahlte, wenn auch ohne warmes Wasser und mit Außentoilette, stand Nick Cave kurze Zeit später mit zwei Koffern vor seiner Haustür in Kreuzberg. Neben anderen musikalischen Projekten jener Zeit wie SHARK VEGAS waren es DIE UNBEKANNTEN, gemeinsam mit dem späteren NICK CAVE AND THE BAD SEEDS-Schlagzeuger Thomas Wydler, die in der Zeit von 1981 bis 1983 einen Sound spielten, der dem von JOY DIVISION nahekam. Mark Reeder hatte auch das einzige Berlin-Konzert von JOY DIVISION im Januar 1980 im Kant-Kino organisiert, welches seinerzeit durch seinen schlechten Sound auffiel. Als ein Zuschauer „Lauter, lauter“ rief, da der Gesang von Ian Curtis kaum zu hören war, antwortete Bernard Sumner: „Speak fucking English, you German bastard!“ Vier Monate später brachte sich Ian Curtis um. Für Mark Reeder, der Curtis seit Teenagertagen kannte, war dies ein sehr bedrückendes und einschneidendes Ereignis, und von nun an gab es für ihn keinen Weg mehr zurück nach Manchester.

Mark Reeder kann auf unzählige unterhaltsame Aktivitäten zurückblicken, vom Tontechniker für MALARIA!, FAMILY 5 und DIE TOTEN HOSEN bis hin zum Darsteller in Jörg Buttgerei- Filmen wie „Nekromantik 2“ und „Der Todesking“. Bei letzterem kam ihm sein Uniformfetisch zugute. Schon als Kind trug er Uniform, da seine Eltern – der Vater war Matrose, die Mutter baute in einer Fabrik Teile für den Lancaster-Bomber – kein Geld für teure Klamotten hatten. Er sorgte dafür, dass DIE ÄRZTE mit ihrem provokantem Song „Eva Braun“ im britischen Fernsehen auftreten konnten und er war auch an der abenteuerlichen Aktion beteiligt, DIE TOTEN HOSEN im Jahr 1983 zu ihrem Konzert nach Ost-Berlin in die Erlöserkirche zu schmuggeln. Irgendwann führte sein reger Austausch mit dem Ost-Berliner Plattenlabel Amiga auch dazu, dass die Stasi eine eigene Akte über ihn anlegte und ihn als „subversiv“ einstufte, weil er ihrer Ansicht nach die Jugend der DDR gefährdete. Und das in einer Zeit, in der man in Ost-Berlin ein staatliches „Alexanderplatz-Verbot“ bekam, wenn man ein Nietenarmband trug.

In den Neunziger Jahren widmete er sich dann mit seinem eigenem Label MFS der Techno-Musik und war auch Teilnehmer der ersten Love Parade. Heute ist Mark Reeder auch bekannt für seine Remixe von Songs von DEPECHE MODE, PET SHOP BOYS, NEW ORDER („Crystal“) oder Anne Clark. Jüngst trat Mark Reeder als Autor und Protagonist des Essayfilms „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989“ in Erscheinung. Darin hat er nicht nur die Rolle des Ich-Erzählers inne, sondern auch die des „Erlebers“, der aus seinen eigenen Erfahrungen berichtet und durch den Film „leitet“. Die Idee dazu stammte von Jörg A. Hoppe, der in den Neunziger Jahren unter anderem Manager von EXTRABREIT gewesen war und den Musikkanal Viva mit ins Leben gerufen hatte. Das Material stammt aus den unterschiedlichsten Quellen und von insgesamt über siebzig Filmemachern. Mit zum Regiekollektiv von „B-Movie“ gehört auch Klaus Maeck, der 1979 mit Rip Off Records den ersten Punkrock-Schallplattenladen in Hamburg eröffnete und 1988 mit Marc Chung (EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN) den unabhängigen Musikverlag Freibank gründete. Mark Reeder gewährt uns Einblicke in die aufregende (ein von ihm oft verwendeter Begriff) Welt seiner Lieblingsplatten der Achtziger Jahre.

JOY DIVISION

„Closer“ (1980)


Nach dem Selbstmord von Ian Curtis hatte sich ihr Manager Rob Gretton überlegt, ob Factory Records dieses Album überhaupt jemals veröffentlichen sollte. Rob wollte nicht, dass die Fans denken, dass das Plattenlabel und die Band nun vom Tod des Sängers profitieren wollten. Letztendlich war es ein großartiges Album und das letzte von JOY DIVISION. Warum sollten wir es den Leuten vorenthalten? Ganz ehrlich, ich habe „Closer“ am Anfang nur ein paar Mal durchgehört, es machte mich immer traurig und das war mir zu schmerzhaft. Ich habe das Album dann bis zum Jahr 2007 nicht mehr gehört. Als Anton Corbijn mich nach meinen Erfahrungen und Erinnerungen aus dieser Zeit für seinen JOY DIVISION-Film „Control“ befragte, war das wie ein Art Therapie und er brachte mich dazu, dieses Album noch einmal mit etwas Distanz anzuhören. Heute kann ich „Closer“ richtig genießen.



NEW ORDER „Power,

Corruption & Lies“ (1983)


Ich war in London, als NEW ORDER dieses Album aufgenommen haben. Bernard Sumner war kurz zuvor in Berlin gewesen und ich hatte ihn in das Metropol geschleppt, jenen Szeneclub am Nollendorfplatz, wo damals auch Hi-Energy Gay Disco gespielt wurde. Ich habe ihm alle möglichen Platten und Kassetten mit der neuesten Club- und Filmmusik geschickt, in der Hoffnung, dass es ihn irgendwie beeinflussen würde. Das Resultat war am Ende „Blue monday“. Die Basis für diesen Megahit waren unter anderem die Musik von Donna Summer, aber auch die Filmmusik von Ennio Morricone und viel LSD.



John Foxx

„Metamatic“ (1980)


„Metamatic“ ist definitiv ein Meisterwerk. Ich habe damals den Song „Underpass“ gehört und ich war sofort abhängig. Da es das Album damals in Deutschland nicht gab, habe ich meine Mutter angerufen und sie inständig gebeten, dieses Album sofort für mich zu kaufen. Der Song hat eine unglaublich triste und synthetische Atmosphäre, ähnlich wie „Die Mensch-Maschine“ von KRAFTWERK. Die anderen Albumtracks sind auch sehr geil, klingen alle sehr synthetisch und „klinisch“, aber sehr cool. Dieses Album klingt heute noch genauso frisch wie damals.



MALARIA! „Emotion“ (1982)

„Emotion“ ist das erste Album von MALARIA!. Es ist auch ein zeitloses Werk, produziert für das belgische Label Les Disques Du Crépuscule von Martin Culverwell, der bereits Produzent für die britische Post-Punk-Formation THE AU PAIRS war. Er hatte wohl eine schwierige Zeit im Studio mit der Band, aber trotzdem, sie haben ein grandioses und wegweisendes Album geschaffen. Ich habe zusammen mit Gudrun Gut für die deutsche Version des Albums ein paar Songs remixt.



EINSTÜRZENDE

NEUBAUTEN

„Halber Mensch“ (1985)


Das ist für mich das beste Album von EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN. Es ist heute noch genauso innovativ und bahnbrechend wie damals. Gareth Jones, der damalige Produzent von DEPECHE MODE, hatte zu dieser Zeit ein neues Sound-Sampling-Spielzeug und nutzte es bei der Produktion dieses Albums. Es katapultierte die Neubauten auf ein ganz neues Level. Dieses Album war so inspirierend für mich wie kaum ein anderes aus Berlin.



PET SHOP BOYS

„Introspective“ (1988)


Das dritte Album der PET SHOP BOYS schickte Sänger Neil Tennant als Vorabveröffentlichung in Form einer Musikkassette an seinen ehemaligen Schulfreund Dave Rimmer, der ein paar Monate zuvor zu mir nach Berlin umgezogen war. Ich überredete Dave, dass wir am gleichen Abend das internationale Debüt dieses Albums in Ost-Berlin promoten sollten und zwar in einer berüchtigten Schwulendisco in der Buschallee. Wir standen stundenlang frierend vor der Tür, bis wir endlich reinkamen, und ich ging sofort zum DJ und gab ihm das Tape und sagte: „Das ist die brandneue PET SHOP BOYS.“ Er schaute nur flüchtig auf die Kassette und legte sie gelangweilt und desinteressiert zur Seite, während er den nächsten C.C. Catch-Song auflegte. Ich wollte aber nicht so leicht aufgeben und mit etwas Druck in der Stimme erklärte ich ihm nochmals, wer und was die Kassette sei, und dass „Domino dancing“ die erste Auskopplung zum Album ist. Es dauerte ein paar Sekunden bevor der „DDR-Groschen“ fiel. Dann auf einmal ganz aufgeregt brachte er uns zu einem Tisch und bestellte eine Flasche Rotkäppchen Sekt. Die Tanzfläche war brechend voll, also kündigte er die neue PET SHOP BOYS-Single an und als die ersten Töne von „Domino dancing“ den Laden beschallten, verließen schlagartig alle Menschen die Tanzfläche. Sie kannten den Song nicht und was der Arbeiter und Bauer nicht kennt ... also es war nicht MODERN TALKING. Anschließend rannte der DJ quer durch die Disco und erklärte allen Leuten, was das für eine Ehre es sei, diese neue PET SHOP BOYS-Platte spielen zu dürfen, und dann legte er es nochmals eine halbe Stunde später auf, diesmal mit einer komplett vollen Tanzfläche.



KRAFTWERK

„Computerwelt“ (1981)


Ich konnte nicht abwarten, bis dieses Album erschien. Ich habe es gleich am Tag der Veröffentlichung gekauft, ohne es vorher anzuhören. Ich war nicht enttäuscht. Ich war total begeistert, was für ein fantastisches Album! Kurz vor Ladenschluss bin ich losgegangen und kaufte eine zweite Kopie und am nächsten Tag schickte ich es an Bernard Sumner von NEW ORDER. Ich dachte, als Synthie-Fan muss er diese Platte sofort anhören. Es ist vielleicht mein Lieblingsalbum von KRAFTWERK, obwohl ich die anderen auch sehr gerne mag. Ich kannte KRAFTWERK als experimentelle Avantgarde-Krautrock-Band der frühen Siebziger Jahre und verfolgte ihre Karriere seitdem. Das Album „Die Mensch-Maschine“ war 1978 sehr futuristisch, aber das war der Klang der Zukunft und ist heute immer noch kaum zu toppen.



DEPECHE MODE

„Black Celebration“ (1986)


Ich liebe dieses Album. Für mich war das der Moment, in dem DEPECHE MODE zu den BEATLES der Synthie-Bands wurden. „Shake the disease“ war der Vorabteaser und dann kam das Album. Ich war von ihren Vorgängeralben schon begeistert gewesen, aber dieses Album hat alle meine Erwartungen übertroffen. „Black celebration“, „A question of lust“ und „Fly on the windscreen“ gelten inzwischen als Meilensteine, aber nichts kommt in die Nähe meines Lieblingssong „Stripped“. Ich könnte diesen Song wirklich jeden Tag hören.



HUMAN LEAGUE

„Dare“ (1981)


Mein Freund Adrian Wright war zur Anfangszeit von THE HUMAN LEAGUE Mitglied der Band, da er für die Live-Show-Visuals und Bandfotos zuständig war. Als Sänger Phil Oakey dann Martyn Ware und Ian Marsh aus der Band rausgeschmissen hatte, die anschließend HEAVEN 17 gründeten, wurde Adrian zum Songwriter und Vollmitglied erhoben. Er sagte mir damals, dass er kaum Ahnung davon hatte. Er war ja Filmemacher und nicht Musiker. Aber das ehemalige THE REZILLOS-Mitglied Jo Callis, nun auch bei HUMAN LEAGUE, zeigte ihm, wie er seine Ideen umsetzen konnte, und alle zusammen schrieben sie das Album „Dare“. Dieses Album beschreibt den Werdegang der britischen Synthiepop-Band. Die erste Singleauskopplung „Sound of the crowd“ ist damals sehr gut angekommen, aber die zweite Single „Love action“ hätte eigentlich eine Nummer eins in den Charts werden müssen. Leider war ihr Label Virgin Records nicht auf diese Situation vorbereitet und die Nachfrage nach der Single war deutlich größer als die Anzahl der Pressungen. Erst mit der dritten Auskopplung „Don’t you want me“ schaffte es die Band an die Spitze der Charts. Zu dieser Zeit bekam Adrian einen Roland 606-Prototyp-Drumcomputer zum Testen. Aber er hatte keine Zeit und schenkte ihn mir. Mit meiner damaligen Band DIE UNBEKANNTEN sollte ich den Drumcomputer für ihn ausprobieren und ihm dazu ein Protokoll schicken. Ich schrieb daraufhin mit Alistair Gray „Don’t tell me stories“ für DIE UNBEKANNTEN und wir nahmen es ein paar Tage später auf.



Anne Clark

„Changing Places“ (1983)


Ich habe David Harrow, der die Musik zu „Sleeper in Metropolis“ und „Our darkness“ geschrieben hat, kennen gelernt, als er in Berlin lebte. „Seine Seite“ dieses unfassbar schönen Albums war für mich ein absoluter Höhepunkt. Er hat Berlin in der Sprache der Synthie-Musik perfekt beschrieben und dies ergänzt um Anne Clarks wunderschöne Poesie. Es war Vollelektronik und Adrenalin pur. „Sleeper in Metropolis“ ist vielleicht einer der wichtigsten Songs dieser Ära, aber komischerweise ist er in Großbritannien fast unbekannt. Fakt ist, es ist ein unschlagbarer Song, auch heute noch. Factory Records-Legende Vini Reilly von THE DURUTTI COLUMN rundete die zweite Seite des Albums mit seiner melancholischen Gitarre ab. Ein großartiges Album.