MÜLLEIMER RECORDS & A.M. MUSIC

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Ein Interview mit Thomas Ziegler

Was lange währt, wird endlich. Vier Jahre, mehrere Anläufe, dann sitzen wir schließlich doch noch unweit unserer ersten Begegnung an einem Tresen mit einer Cola, einem Calimocho auf Eis und einem Aufnahmegerät. Wir, das sind Thomas Ziegler, der ehemalige Labelchef von A.M./Mülleimer Records, und die kleine Wurst mit Cola, die 1982 mit 16 eine halbe Tagesreise mit Bus und S-Bahn nach Böblingen unternommen hat, um am Haus von Thomas’ Eltern in der Keßlerstraße zu klingeln. Dort waren immer irgendwelche Leute und Bands zu Gast, so beim zweiten oder dritten Besuch die MANIACS, die damit beschäftigt waren, Beiblätter in die Split-LP mit TIN CAN ARMY zu stopfen.

Von da ab verfolgte ich das stete Wachstum von Mülleimer bis hin zu A.M., den Umzug nach Holzgerlingen, spielte bei jedem Besuch an einem der beiden Flipper oder dem Videospielgerät in der Wohnung, für die es immer Freispiele gab, kaufte dort regelmäßig meine Platten ein, weil es Porto sparte und beim Direkteinkauf auch immer Rabatte gab. Außerdem konnte man nur dort in dem Regal Platten durchwühlen, die es gar nicht erst in den Vertrieb schafften, weil sie der Geschmackskontrolle von Thomas nicht standhielten. Dinge, mit denen man sich damals arrangieren musste: Der Bierkistenturm in der Küche, die eigenwillige Toilettendekoration und der Zuffenhausener Sportwagen mit dem Penthouse-Aufkleber auf der Heckscheibe. Thomas half meiner Band, wie auch einigen anderen, beim Finden eines Presswerkes und war über Jahre ein äußerst korrekter Vertrieb, den man nicht erst an eine ausstehende Rechnung für Tapes, Platten oder Fanzines, von denen Mülleimer Tonnen verkaufte, erinnern musste. Mit der Öffnung der Grenzen 1989 war A.M. zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um all die langgehegten Deutschpunk-Bedürfnisse der fünf neuen Bundesländer zu sättigen und nochmals kräftig zu expandieren, bis es keinen größeren Platzhirsch im Auenwald gab.

Um diese Zeit, Anfang der Neunziger, verlor ich A.M. Music dann aus den Augen, weil viele Bands, die mich zu der Zeit interessierten, nicht mehr im immer dickeren und später bunten Katalog geführt wurden, von dem dafür später ein guter Teil mit Dingen gefüllt war, für die ich keinerlei Verwendung hatte. Wenn man sich auf Konzerten traf, war es weiterhin freundschaftlich, aber eine mittlerweile andere Welt geworden. In den Neunzigern beobachtete ich das Wachstum und den plötzlichen Niedergang nur noch aus der Ferne, bekam aber durch Freunde, die dort im Lager oder sonst wo arbeiteten, einiges von dem Innenleben von A.M. mit. Mir war nie ganz klar, wie ein solcher Riese verglühen konnte, gleichzeitig aber war mir bewusst, warum ich dort seit Jahren nicht mehr bestellt hatte, weil meine Welt einfach eine ganz andere war. Wie immer gibt das Interview die Sicht der Dinge des Befragten wieder. Wer es anders sieht, dem steht es frei, in irgendeinem Forum mit Gleichgesinnten zu schmollen, selber einen Termin auszumachen oder genau das zu akzeptieren: dass es sich lediglich um eine Sicht der Dinge handelt.

Thomas, du bist im selben Jahr geboren, als John F. Kennedy in Dallas erschossen wurde. Was waren deine ersten Berührungspunkte mit Punk und was hat dich damals an dieser ganzen Sache so fasziniert?
Ich war schon immer ein Rebell, schon als ich zehn, elf Jahre alt war. Ich bin früh alleine in ganz Deutschland rumgereist. Als ich zwölf, dreizehn war, habe ich mir ein Zugticket gekauft und bin mit Freunden nach England gefahren, einfach so, weil ich von dieser Einöde weg wollte. Also nicht nur jeden Tag in irgendeine Kneipe oder irgendwo am See herumsitzen, sondern einfach die Welt anschauen. Da haben wir uns gesagt, gut, wenn hier nichts los ist, dann gehen wir eben nach England, dahin, wo was los ist. London habe ich bis dahin nur aus Filmen gekannt. Die ganzen Edgar Wallace- und die anderen Sixties-Filme. Diese Stadt mit den Doppeldeckerbussen, die hat mich total gereizt. Da bin ich also hin mit meinen knapp dreizehn Jahren und konnte dort in jeden Club gehen, das ging ja in Deutschland damals gar nicht. Ab 1975 war ich zwei- bis dreimal in London und als ich 1977 wieder dort war, habe ich gesehen, hier ist was los, hier passiert was, da bin ich natürlich in die ganzen Clubs gegangen und habe mir das aus der Nähe angesehen. Das war der Hammer, es hat nur ein Pfund gekostet. Ein Pfund war damals der obligatorische Eintritt, und wenn es mal zwei oder zwei Pfund fünfzig gekostet hat, dann war da schon sehr viel geboten. Da hast du dann zwei bis drei Bands gesehen. THE CURE haben für ein Pfund gespielt und so gut wie alle frühen Bands. Das ging bis in die frühen Achtziger, da konntest du für denselben Eintritt DEPECHE MODE sehen, die spielten nämlich in denselben Punk-Clubs. Manche Bands haben in ein und demselben Laden eine ganze Woche gespielt, in Läden, wo gerade mal 200 Leute reinpassen. Das war natürlich fantastisch für mich, weil ich schon immer Musik geliebt habe. Musik war meine Initialzündung, angefangen habe ich mit SLADE und SWEET, wobei SLADE viel besser waren, weil die schon etwas rauher klangen. SWEET waren musikalisch besser, aber SLADE waren einfach die richtige Band.

Wie hat sich das dann entwickelt? Du hast von deinen Reisen Platten mitgebracht, nehme ich an.
Ja, natürlich, klar. Immer wenn ich hingefahren bin, hieß es „bring Platten mit, bring Badges mit“ und so weiter. Also bin ich mit einem leeren Koffer hin und einem vollen wieder zurück. Da war alles voll mit Platten, in dreifacher, fünffacher Ausfertigung.

So hast du mit deinem Vertrieb angefangen.
Genau, auch weil ich mir dann irgendwann gedacht habe, jetzt habe ich Platten da, meine Freunde haben die schon alle, wer will noch was haben? So kam das ins Rollen. England war für mich der Auslöser. Ich habe mich ja selber gewundert, dass ich als 14-Jähriger einfach so herumreisen konnte.

1980 hast du dein Fanzine „Der aktuelle Mülleimer“ ins Leben gerufen, mit einer Startauflage von 600 Stück, was für eine Fanzine-Erstausgabe eine ziemliche Ansage war. Andere Fanzines aus der Gegend hatten eine 20er- bis maximal 100er-Auflage.
Wenn schon, dann richtig, war immer meine Devise. Nie kleine Brötchen backen, immer große. Ich dachte mir, ich kenne die Plattenläden alle, bei denen ich Stammgast bin, der Laden nimmt fünfzig, der fünfzig, dann veranstalte ich noch ein paar Konzerte mit SLIME und BUTTOCKS, an der Kasse kauft sowieso fast jeder ein Fanzine dazu, so waren die Hefte immer im Nu weg.

Du hast auch Aufsteller für die Läden gebaut.
Ja klar, ich dachte mir immer, die Leute müssen das ja sehen. Der Preis darf nicht allzu hoch sein, eine Mark oder einsfünfzig, mehr darf es nicht sein, dann nimmt es jeder mit. In der Mausefalle habe ich es einmal geschafft, dass ich bei etwa 400 Besuchern knapp 350 Fanzines verkauft habe. Fast 80% der Besucher haben an dem Abend ein Fanzine gekauft. Die fanden das auch alle gut, denn es war nicht allzu tiefgründig oder ideologisch überladen, Der aktuelle Mülleimer war ja nur ein Spaßfanzine.

Reiseberichte, zwei bis drei Bands, Comics und Reviews, die Informationen, die man so brauchte vor dem Internet.
Genau. Das gab einem ein Erfolgsgefühl, dass die Leute das erstmal nur kaufen, dann aber auch noch gut finden. Das hat mich auch motiviert weiterzumachen. Irgendwann kam das Label dazu, die Produktion der ersten NORMAHL-Platte, das kostete mehr Zeit im Labelbereich, weswegen Der aktuelle Mülleimer immer mehr und mehr in den Hintergrund trat. Über die Jahre wurde das Fanzine dann etwas vernachlässigt, weil man die Zeit einfach nicht mehr hatte. Ich habe das Heft ja selber im Jugendhaus Mitte in Stuttgart gedruckt, bis ich völlig schwarze Hände hatte. Dort bin ich wirklich nächtelang abgehangen. Diese Rotaprint-Druckmaschinen waren von der Qualität her auch nicht mehr ganz so gut. Alle hundert Blätter blieb eines hängen. Dann musstest du erst das hängengebliebene Blatt mühsam entfernen und die ganze Maschine mit chemischen Mitteln reinigen, damit es nicht schmiert, dann erst ging es wieder los. Zwei Drittel der Zeit ging nur für das Reinigen der Maschinen drauf. Aber ich habe das tatsächlich mit eigenen Händen gedruckt, zusammen mit Andreas Löhr, dem Gitarristen und Sänger von CHAOS Z. Der war damals 13 Jahre und einer meiner besten Freunde zu der Zeit.

Ab 1981 hast du deinen Vertrieb und das Label so richtig ins Laufen gebracht und einige Konzerte veranstaltet. Ab wann wurde dir bewusst, dass es das Ding ist, das du machen willst?
Das war nur eine Frage der Zeit, wie sich das weiterentwickelt. Der Startschuss war mit dem Fanzine gesetzt, dass man Platten aus England holt und die weiterverkauft. Im Fanzine war auch immer eine Seite drin, dass es die und die Schallplatten zu bestellen gibt. Man hat mit anderen Fanzines getauscht, die mitvertrieben, hat das Gleiche bei den Platten gemacht. Die einen hatten eben fünfzig NORMAHL- und CHAOS Z-Singles gekriegt, dafür hat man eben von anderen Bands was bekommen. Die wurden nicht eingekauft, man hat die nur getauscht, und so konnte das über das Fanzine mehr oder weniger vertrieben werden, ohne dass man einen großen Einkauf tätigen musste. Ich hatte das schon von Anfang an vor Augen, dass es sich in so eine Richtung entwickeln könnte, dass es größer wird, ohne es mit aller Gewalt zu erzwingen. Es war mehr oder weniger ein Selbstläufer. Wenn man etwas richtig macht, dann läuft das fast von selbst.

Ein Punkvertrieb war damals ja noch etwas Ungewöhnliches, wie sah es mit Startkapital aus?
Ich hatte damals keine richtigen Eigenmittel. Aus dem wenigen Geld, das ich hatte, hat sich das nahezu komplett selbst finanziert. Das begann mit dreistelligen D-Mark-Beträgen. Da brauchte man keine anderen Finanzquellen.

Du hast das bei deinen Eltern im Jugendzimmer aufgezogen.
Ja, die haben sich irgendwie damit abgefunden. So konnte ich relativ kostengünstig anfangen. Mit 14, 15 ausziehen, daran war ja nicht zu denken. Deswegen habe ich zu Beginn dort alles gemacht. Im Keller war das Lager, in meinem Zimmer war alles voll mit Schallplatten und Fanzines.

Deine Eltern haben dich dabei nicht unterstützt?
Nein, die standen der Sache mehr oder weniger neutral gegenüber. Sie haben mich nicht behindert, aber sie haben mich auch nicht unterstützt. Ich habe keine 50 DM von ihnen während der ganzen Zeit bekommen. Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern, an kein Geld. Das hat sich von ganz alleine entwickelt.

Du hast zu Beginn eine ganze Menge Konzerte in Stuttgart veranstaltet, warum hast du damit aufgehört, was ist da vorgefallen?
BUTTOCKS, SLIME, GBH, ADICTS habe ich gemacht, am Ende dann ONE WAY SYSTEM und ENGLISH DOGS in der Reichenbacher Halle. Die Bands kamen drei Stunden zu spät, ich hatte solche Probleme, die Leute bei Laune zu halten. Das sollte um 20 Uhr losgehen, da waren die noch nicht mal angekommen. Die hatten noch keinen Soundcheck, gar nichts. Der Mitch, das war der Tourmanager von ADICTS und GBH, mit solchen Chaoten konnte und wollte ich nicht mehr zusammenarbeiten. Da hat man im Vorfeld sehr viel Geld investiert, was man erst einmal erwirtschaften musste, und dann arbeitet man mit Leuten zusammen, die einfach unzuverlässig sind. Das ist wie in der Gastronomie, man muss mit den Leuten zurechtkommen. Man ist von sehr vielen Leuten abhängig, und diese Abhängigkeit von Leuten, auf die man sich nicht verlassen kann, das war für mich auf Dauer einfach nichts. Das hat man mal ausprobiert, war auch ganz schön, aber unter dem Strich hatte es zu viele negative Seiten.

Da gab es noch diese SLIME-Geschichte ...
Ach ja, das Weihnachtspogo-Festival, das gab es ja auch noch, das war ganz lustig. Der Vorverkauf lief ausschließlich über das Fanzine und den Vertrieb. Wir hatten so im Vorfeld schon knapp 1.200 Karten verkauft, auf dem direkten Weg. Und dann kamen eben noch mal so viele Leute, obwohl der Laden gerade mal auf 1.500 zugelassen war. Da gab es natürlich die riesigen Krawalle. Die haben beim Autohaus nebenan die Autos demoliert, vor der Tür standen etwa 1.000 Leute, und der Laden selber war schon völlig überfüllt. An der Sache habe ich keinen Pfennig verdient. Der Co-Veranstalter beanspruchte die ganzen Einnahmen für sich. Da dachte ich mir, so was kann ja nicht sein, dass die Leute jedes Maß verlieren, nur um sich einen Vorteil zu verschaffen. Da spielten neben SLIME noch DAILY TERROR, NORMAHL natürlich und ein paar andere Bands. Mein Name für das Festival wurde dann über die Jahre auch weiterhin verwendet. Das war das erste Mal, dass wir so einen richtigen Markennamen hatten: Weihnachtspogo. Aber mir war das dann zu blöd. Wenn ich alle Kosten im Vorfeld trage und nach der Abrechnung kein Pfennig übrig bleibt und ich froh sein kann, wenn ich mit Null/Null rauskomme, kann das nicht sein. Andere Leute haben sich daran bereichert, während ich außer der Finanzierung keinen Einfluss darauf hatte. Dann macht man das auch irgendwann nicht mehr, mit dem ganzen Aufwand und Ärger, der damit verbunden ist.

Die Stuttgarter meinten ja immer, du wärst derjenige gewesen, der sich daran eine goldene Nase verdient hat.
Gar nichts habe ich daran verdient. Das habe ich gemacht, damit in der Stadt mal was los ist. Ich bin nach Frankfurt gefahren, nach Hamburg, überall waren Konzerte, nur in Stuttgart war nichts. Deswegen habe ich mir gesagt, ich mache was für Stuttgart. Bei Konzerten habe ich am Ende meistens draufgezahlt, weil das nicht korrekt lief. Nicht dass zu wenig Leute kamen, sondern weil die Abrechnung mir gegenüber nicht korrekt lief, weil ich immer einen Co-Veranstalter mit dabei hatte, der sich daran eine goldene Nase verdient hat.

Bei der ganzen „Wie der Punk nach Stuttgart kam“-Geschichte von 2017 mit Buch, Ausstellung und so weiter, stößt man immer wieder auf deinen Namen, Veranstaltungen von dir, Der Aktuelle Mülleimer. Aber merkwürdigerweise kommst du selber aber nicht zu Wort in diesem Rahmen, trotz deiner Rolle für den Punk in Stuttgart.
Ich kam aus dieser Chaos-Punk-Ecke. Da gab es diese Fraktion der intellektuellen Punks, wie Germar Rehlinger aus Winnenden, Oliver Neitzel aus Stuttgart und noch so ein paar Leute. Ich kam aber eher von dieser Chaos-Punk-Fraktion. Also die Leute, die eher feiern, lieber Bier trinken, die auf Konzerte gehen und mit fünfzig oder hundert Leuten durch die Fußgängerzone rannten. Ich wollte immer eher den Spaß dabei haben. Ich selber bin nicht intellektuell, also habe ich das auch nie versucht. Deswegen ist das Fanzine auch nie intellektuell gewesen, ich wollte Spaß für die Leute haben, Unterhaltung. Ich habe manche Leute komplett abgelehnt. Das waren Gegenparts, die Chaos-Punks und auf der anderen Seite die intellektuellen Punks, die die Welt verbessern wollten, aber die haben nichts bewegt. Ich bin mit zig Leuten durch die Fußgängerzone gezogen, während die sich zu zehnt in irgendeinem Jugendhaus getroffen haben. Da hat mir mein Part besser gefallen, einfach auf die Masse zu gehen, Präsenz zu zeigen, wenn man viele Leute glücklich machen kann. Die meisten wollten ja eher feiern, durch die Straßen ziehen und die Leute schockieren, das war eben lustig. Wenn du mit hundert Leuten durch den Hertie gezogen bist, dann war das ein Bild für die Götter.

Warum bist du bei der Ausstellung oder zu den Konzerten nicht vorbeigekommen?
Ich weiß auch nicht. Das lief ein bisschen an mir vorbei, als ich dann hinwollte, war es auch schon wieder rum. Es war einfach der falsche Zeitpunkt damals. Ich habe das ganze Konzept auch nicht so verstanden, sonst wäre ich wohl hingekommen. Barney [von Incognito Records] war mit mir in Kontakt, aber sonst niemand, ich kannte die anderen Leute, die das gemacht haben, gar nicht. Das ging ein wenig an mir vorbei.

Für mich als jemand, der erst in der zweiten Generation dazukam, war es befremdlich, dass viele aus der ersten Punk-Generation sehr kleinkariert und sektiererisch waren. Es war wichtig, wer die erste Band hatte, den größten Iro, wer welche Bands gesehen hatte ...
Das war etwas, das ich abgelehnt habe. Ich kannte ja die spießigen Nachbarn, die spießigen Vermieter, und in der Punk-Szene dieselben spießigen Punks zu haben, das hat mir gar nicht gefallen. Leute, die gesagt haben: Deine Haare müssen einen Zentimeter kurz und schwarz gefärbt sein, dann brauchen wir die Lederjacke von dem Hersteller, die Boots von dem, sonst bist du kein echter Punk. Ich habe immer gesagt: Alle Leute, die ich kenne, können rumlaufen wie sie wollen, ob sie lange Haare, kurze Haare, ob sie einen Iro haben, was es damals ja noch gar nicht so oft gab, einfach so wie sie sind. Dadurch hatte man ein kunterbuntes Spektrum. Und obwohl es in Stuttgart 400 bis 500 Leute gab, bekam man nie mehr als fünfzig bis hundert zusammen, weil ja auch nie alle Zeit hatten.

Kommen wir zu deinem Vertrieb. Neben deinem Mailorder gab es nur eine Handvoll, die ähnlich auf Punk spezialisiert waren wie Mülleimer Records: Vinyl Boogie, Rock-O-Rama, Screen/Sasquatsch. War das Konkurrenz oder ...
Freunde! Das waren alles Freunde, ein riesiger Freundeskreis. Ich war mit allen extrem gut befreundet. Die haben mich besucht, ich habe die besucht, wir haben zusammen gefeiert, das war wie eine große Familie. Wir haben getauscht und vieles zusammen gemacht.

Auch mit Herbert Egoldt von Rock-O-Rama?
Nee, der war eine Ausnahme, das war eher so ein komischer Mensch. Zu mir war er korrekt, aber als er rübergegangen ist vom Punk zu diesen rechtsradikalen Dingen, da habe ich mich von ihm verabschiedet. Die ersten drei bis fünf Jahre war das nur Punk. Er selber war ja ganz am Anfang ein Rock’n’Roller. Der hatte den Vorteil, dass er irgendeinen besseren Weg gefunden hatte, aus England Platten zu importieren, deswegen hat man ihm ab und zu ein paar Punk-Importe abgenommen. Herbert Egoldt war auch nur so eine beiläufige Erscheinung, den konnte man nicht wirklich ernst nehmen. Ich habe mich dann verabschiedet, als es losging mit den falschen Sachen. Sasquatsch hatten das Talent für US-Importe, Egoldt anfangs für England, und der Rest war eher auf die deutschen Sachen fixiert.

Wenn man sich heute deinen Katalog von damals ansieht, kann man nur schwer nachvollziehen, dass das damals mit einem Satz als Beschreibung zu einer Platte funktioniert hat. Du hast von einer Platte aber damals mehr Exemplare über deinen Bauchladen verkauft, als heute die Gesamtauflage so mancher LP oder 7“ beträgt.
Das wurde damals alles mühsam mit Schreibmaschine getippt und mit Tipp-Ex korrigiert. Der Katalog wurde aus Lieferlisten und eigenen Veröffentlichungen erstellt, und man hat sich gefreut, wenn man jedes Mal eine neue Band dazubekommen hat. Das war ja Anfang der Achtziger, und wenn eine neue Band im Ort war, hat man nicht gesagt, wir kaufen die Platten von euch, sondern wir tauschen. Ihr bekommt zehn von der, zehn von der, die verkauft ihr bei euch und wir kriegen dafür eure Platte. Ein Satz reichte, es gab ja so wenig, deswegen hat man alles genommen, was ideologisch und musikalisch einigermaßen in Ordnung war. Ganz am Anfang gab es ja nur ein paar Dutzend Platten. Andere Platten waren schon wieder viel zu kommerziell, wie die von No Fun Records. Mit den Leuten hatten wir auch nie großen Kontakt. Wir haben die zwar auch verkauft, aber wenn du mit den Leuten telefoniert hast, war das, als würdest du mit einem Geschäftsmann aus einem großen Konzern telefonieren. Die waren arrogant und haben alles besser gewusst. Das waren Leute, mit denen ich persönlich nichts zu tun haben wollte.

Du hattest sehr früh T-Shirts im Sortiment, die man 1983/84 sonst nur in Läden bekam, und du hattest ein weiteres Alleinstellungsmerkmal mit deinem Vertrieb: Du warst mit Mülleimer der Einzige, der auf Rechnung lieferte.
Natürlich, im guten Glauben an die Leute. Hat auch funktioniert. Man hat die ganzen Nachnahmekosten eingespart, dadurch ist es wesentlich billiger geworden. Und die paar Prozent, die nicht gezahlt haben, das war viel weniger, als wenn man die ganzen Nachnahmekosten und den Mehraufwand gerechnet hätte.

Du musstest aber doch auch Leute anmahnen?
Das musste man machen, denn sonst spricht sich das herum. Aber die allermeisten haben anstandslos bezahlt. Nur wenn es einer übertrieben hat, dann wurde er eben angemahnt. Ist ja logisch, wenn du was kaufst und nicht bezahlst, dann kommt eben irgendwann ein Schreiben, 3 oder 4% fielen da eben durch. Die haben aber alle viele Chancen bekommen, doch noch zu bezahlen. Ich habe es nicht eingesehen, dass die ehrlichen Leute so viel Nachnahmekosten zahlen müssen, das war damals noch richtig teuer. Die Leute, die ehrlich waren, konnte man ja nicht bestrafen für die, die nicht ehrlich waren. Das war meine feste Überzeugung, und ich war auch der Erste, der das gemacht hat, noch vor den großen Firmen.

Du hast dich relativ früh vor allem auf deutsche Veröffentlichungen spezialisiert, hattest aber auch immer ein hochwertiges US- und England-Sortiment, was nur zu gerne vergessen wird.
USA lief über Sasquatsch, der hat da viel mit mir zusammen gemacht. Die englischen Sachen habe ich teilweise selber aus England geholt und über Rock-O-Rama, als der noch in Ordnung war, aber es gab auch andere Vertriebe, die Sachen aus England rübergeholt haben. Die hat man dann auch mit ins Programm aufgenommen, um es interessanter zu machen. Die deutschen Sachen hatten den Vorteil, dass ich da immer tauschen konnte. Fanzines tauschen, Platten tauschen, so hatte jeder nur ein kleines Risiko und war zufrieden. Das führte dazu, dass ich die Auflagen bei meinen Platten steigern konnte, weil die überall getauscht wurden und keiner zusätzlich Geld in die Hand nehmen musste. Dadurch konnte ich die Platten im Vertrieb auch günstig weiterverkaufen. Das Ganze kann man auch nur so machen, wenn man an eine Sache glaubt und völlig dahintersteht, sonst funktioniert so etwas nicht. Ich bin aufgegangen in der Sache, das war mein Lebensinhalt von morgens bis abends.

Gab es bei den Releases einen Wettstreit, wer die bessere Veröffentlichung an den Start bringt? Also zwischen Vinyl Boogie, Aggressive Rockproduktionen und dir?
Bei Andreas von Vinyl Boogie war es ähnlich wie bei mir, der hat fast ausschließlich nur Sachen von Freunden veröffentlicht. Das waren Leute, die in seinem Plattenladen abhingen. Walterbach von Aggressive Rockproduktionen war schon immer ein richtiger Geschäftsmann, mit dem konnte man gar nicht mithalten. Der hat ganz anders gedacht und war jenseits von Gut und Böse im Hinblick auf seine Labelausrichtung. Ich glaube, der wollte schon damals immer Millionär werden mit seinen Schallplatten. Als er gesehen hat, dass der erste „Soundtracks zum Untergang“-Sampler so läuft und die erste SLIME-LP, da ist der recht schnell in die USA und hat sich die ganzen US-Bands eingekauft. Ich habe eher örtlich oder deutschlandtechnisch gedacht, niemals in so einer Dimension wie er. Wenn ich ein richtiger Geschäftsmann gewesen wäre, dann hätte ich vielleicht einen ähnlichen Weg eingeschlagen wie er, aber für mich hat immer der Spaß gezählt, dass man gute Freunde bei der ganzen Sache unterstützt und Leute kennen lernt. Egal in welche Stadt ich gekommen bin, ich wurde immer herzlich empfangen, hatte überall Freunde, die aus demselben Milieu stammten. Deswegen habe ich mich mit den Bands auch immer gut verstanden. Ich habe ja auch Sachen rausgebracht, nur weil ich die Leute nett fand, nicht weil ich die Musik richtig gut fand, sondern weil ich die Leute mochte. CHAOS Z, Thomas und Andreas, bei NORMAHL war es vor allem Helmut, der Schlagzeuger. Ohne den hätte ich das nicht gemacht, die anderen haben das viel zu ernst genommen. Eine Person hat aber ausgereicht, dass ich mit der Band was gemacht habe. So war das auch bei Samplern. Wenn da eine Band draufkam, dann weil ich die Leute gemocht habe, nicht unbedingt wegen der herausragenden Musik, sondern weil es persönlich war. Da ging es auch nicht darum, dass man mit der einen Band mehr verkaufen konnte, sondern um eine Zusammenstellung, die mir persönlich gefiel.

Wie würdest du deine Labelprofil beschreiben? Nur für Freunde?
Es gab kein Profil, das ist aus dem Chaos heraus entstanden. Man hat einfach nur das gemacht, auf das man gerade Lust hatte, ohne einen Hintergrund.

Wie ist die CHAOS Z-Lizensierung zustande gekommen, hättest du die nicht selber machen können? Es gibt ja die Geschichte, dass dir der Sound nicht zusagte und du sie deswegen an Rock-O-Rama lizensiert hast.
Man hatte ja damals einfach zu wenig Geld und war froh, wenn man durch Verkäufe irgendwie 1.000 Mark zurückbekommen hat. Da hatte man keine fünfstelligen Beträge zu Hand. Und bei einer Platte lag man bei einer 1.000er-Auflage mit Studio und allen Kosten bei 5-6.000 DM, das war zu dem Zeitpunkt einfach zu viel. Rock-O-Rama hat damals gesagt: Die Band von euch würden wir gerne machen, die können ins Studio eurer Wahl gehen, wir zahlen das Studio, wir zahlen die Anfahrtskosten, ihr bekommt soundsoviele Freiplatten. Ich habe die Gruppe gefragt, die waren damit einverstanden, also haben wir es eben gemacht. Für eine eigene Produktion standen zu der Zeit keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung. Das Geld ging rein, es ging raus, man hatte mal 1.000 DM, mal hatte man 200 DM, aber eben keine 5.000 oder 6.000 für eine LP, das Geld war einfach nicht da. Im Nachhinein, ein, zwei Jahre später, hätte man das selber machen können, und besser natürlich. Aber wir haben ja alles selber gemacht. Das Cover selber gemacht, die Musik selber im Studio aufgenommen, produziert und überwacht. Das war ja auch alles noch, bevor es mit Rock-O-Rama in die falsche Richtung ging. Ich muss das immer wieder erwähnen. Nur jemand, der die genauen Zeitabläufe kennt, kann das richtig einordnen. Ich habe ihm das dann bei einem Besuch auch gesagt: „Was du jetzt machst, damit kannst du sicher eine Menge Geld verdienen, aber wir können nicht mehr zusammenarbeiten.“ Er war zwar ein bisschen sauer, hat das aber auch verstanden. Ich bin eben der Punk und er der Geschäftsmann.

Die ersten SKREWDRIVER-Sachen nach deren „Neuausrichtung“ nach rechts gab es ja noch bei Vinyl Boogie und dir.
Aber nur ganz kurz, das hat am Anfang auch noch keiner richtig durchschaut. Das hörte sich erst einmal noch wie guter Punk an. Ich war damals auch keiner, der akribisch die Texte durchforstet hat. Als wir es dann bemerkt haben, haben wir das sofort beendet. Die waren ursprünglich ja Punks und wurden dann erst zu einer radikalen Band. Bis zur „Back With A Bang!“-12“ war das noch nicht erkennbar und eben gute Musik. Danach ging es in die falsche Richtung. Die zeitlichen Abläufe, von Punk-Oi! zu radikalem Oi! muss man kennen.

Du hast dein Label dann von Mülleimer Records zu A.M. Music umbenannt.
Weil es sich ein bisschen besser angehört hat als Mülleimer Records. Mülleimer war nur so aus Spaß geboren, um einem Punk-Namen zu haben. A.M. Music stand praktisch für Aktueller Mülleimer Music. Irgendwann kamen ein paar Bands dazu, bei denen das mit dem Mülleimer nicht mehr gepasst hat. A.M. hat sich neutraler angehört.

Dazu gab es weitere Sublabel wie Snake, Disaster, Undertainment und so weiter.
Einfach nur, weil ich die Musik von der Art her aufteilen wollte. Es hätte sonst nicht gepasst, das musste man ein bisschen aufteilen.

Du hast dich auch im Metal probiert.
Wie beim Punk, es hat mir persönlich gefallen, ich habe viele Freunde in dem Bereich gehabt. Die erste Band, die ich gemacht habe, war eine aus Böblingen, wo ich wohne, BACKWATER.

Nach einigen Veröffentlichungen wurde das mit dem Metal wieder eingestellt.
Da waren viel zu große Firmen dran. Man konnte kaum noch eine gute Band bekommen, und die zu vermarkten, war einfach viel zu teuer, das war finanziell nicht machbar. Ich hatte ANGEL DUST, EXUMER, und MANDATOR, das waren richtig gute Bands und gute Produktionen. Das hat sich auch gut verkauft, aber man hätte danach sechsstellige Beträge investieren müssen, um andere Bands nach vorne zu bringen, und das war nie so gedacht gewesen, weil es entstand auch nur aus Sympathie für die Bands. Ich war mit EXUMER und ANGEL DUST genauso befreundet, wie ich mit den Punkbands befreundet war. Das waren immer Freundschaften. Die haben bei mir gewohnt, ich habe bei denen gewohnt, wir sind zusammen weggegangen. Das waren Freundschaften, und nicht nur Veröffentlichungen von Bands, die man gut verkaufen konnte, das war nie der Hintergrund.

Gab es Platten oder Bands, die du hättest machen können, aber nie gemacht hast?
Nichts, an das ich mich spontan erinnern kann. Die großen Bands waren zu teuer. Ich wollte ein paar amerikanische Bands machen, dazu hätte ich aber eine größere Plattenfirma gebraucht. Ich wollte mal TESTAMENT machen, aber deren Plattenfirma hat nicht mitgezogen. Mit denen war ich auch befreundet und habe eine Woche bei denen gewohnt. Deren Sänger hat mich mal aus einer brenzligen Situation herausgeholt, in der ich von zig Polizisten umstellt war. Ohne seine Hilfe wäre das übel ausgegangen, das werde ich ihm nie vergessen. Die hätte ich gerne gemacht, aber die hatten Angebote, die im hohen sechsstelligen Bereich lagen. Die Plattenfirma, die ich in Stuttgart damals als Partner an der Hand hatte, die haben das nicht so richtig gerafft, was da dahinter steckt, dass so eine Band mal eine Million Platten verkaufen kann. Ich habe es denen auch gesagt, aber die haben mir das nicht abgenommen, das waren alles Leute, die keine Ahnung hatten, das war damals Intercord. Das war schon immer das Problem, wenn man einen Partner gesucht hat, um was wirklich Großes durchzuziehen, hat das halt nicht geklappt. Alleine konnte ich das nicht stemmen, dann hat sich die Sache irgendwann erledigt. Der Metal-Bereich ist so explodiert, dass die Bands auf Wolke sieben geschwebt sind. Auch die Bands, die ich hatte, haben irgendwann gedacht, man müsste jetzt für 100.000 DM ins Studio gehen, und das war nie meine Ambition. Bei den Metal-Produktionen war es aber wie bei den Punkbands, ich hätte nichts mit den Bands gemacht, wenn ich die Leute nicht gemocht hätte und umgekehrt.

Gab es da nicht auch persönliche Enttäuschungen?
Im Nachhinein, ja. Das ist oft Jahre danach gewesen, dass da irgendjemand sauer war. Ich selber wasche keine schmutzige Wäsche. Bei den mir wichtigen Fällen wissen die Personen Bescheid.

Und wie war das mit der „A Skateboard Party“-Platte der DEAD KENNEDYS, von der viele meinten, es wäre ein Bootleg?
Das war lizensiert, ich habe den Vertrag gesehen. Damals vor dreißig Jahren hat man noch einen Vertrag auf einem Blatt Papier gemacht. Das waren zwei handgeschriebene A4-Blätter, auf denen stand, dass die Platte zu den folgenden Konditionen veröffentlicht werden kann. Daran hat man sich gehalten. Die Band hat eine Menge Geld verdient, vor allem der Alternative Tentacles-Labelinhaber Jello. Ich weiß nicht, was die anderen von der Gruppe davon bekommen haben, aber die haben eine Menge, nämlich knapp 70% des ganzen Kuchens, abbekommen. Ich habe das zusammen mit Mike Just in München gemacht. Für ihn und sein Starving Missile-Label war das eine schöne Sache, da kam mal ein bisschen Geld für sein Label rein. Das lief von alleine und hat uns natürlich gefreut, dass da in so kurzer Zeit so viel weggegangen ist. Jello Biafra hat irgendwann gesehen, dass es zu viele Platten werden, dann wollte er das nicht mehr. Laut Vertrag hätten wir weiterpressen können, aber Mike und ich haben uns gesagt, wenn er nicht mehr will, dann lassen wir das eben und pressen nicht weiter nach, selber schuld.

Wie kam es zu dem Vorwurf, es sei ein Bootleg?
Das Konzert wurde ohne Genehmigung der Band aufgenommen, aber durch den Vertrag nachträglich lizensiert. Jello hat einen ordentlichen Betrag für die Platten bekommen, denn Mike Just war zuverlässig, was das anging, das war eine Ehrensache. Der Sänger hat wohl angenommen, das werden nur ein paar tausend verkaufte Platten, aber das wurde ja dann richtig viel, knapp 20.000, innerhalb von nur wenigen Monaten. Das war ja auch eine gute Platte, die beste Live-Platte, die es damals von den DEAD KENNEDYS gab. Das meiste ging an die Band beziehungsweise Jello, aber durch die Masse ist natürlich auch bei Mike und mir etwas hängengeblieben.

Was hast du für Verträge mit den Bands gemacht?
Das meiste basierte auf Vertrauen. Man hat zum Teil nur einseitige Verträge gemacht, wo 08/15 drinstand, was es pro Platte für die Band gab. Verträge, die eigentlich jede Band hätte aushebeln können, wenn sie es darauf angelegt hätte – dilettantische Verträge, die man nebenbei in einer Stunde aufgesetzt hat.

Keine Verträge, bei denen die alleinigen Rechte A.M. gehören?
Nein, niemals. Ich muss an der Stelle erwähnen, dass ich wohl der Fairste in ganz Deutschland war, was die Abrechnungen anging. Die Bands waren ja auch dann 20 bis 25 Jahre lang mit ihren Veröffentlichungen bei uns, und sie haben jedes halbe Jahr ihre Abrechnung bekommen, auf den Pfennig genau. Die Auflage war zu 100% identisch mit den Presswerkzahlen, das hat sich bei einigen Bands ganz schön summiert. Woanders gab es 500 bis 800 DM Abschlagszahlung, einmalig für einen Sampler oder 2.000 DM für eine ganze Produktion. Aber bei uns haben sie die gesamte Laufzeit über Geld bekommen. Es gab einen Vorschuss und Geld für jede verkaufte Platte. Für die Abrechnung haben wir die Presswerkzahlen genommen, selbst wenn die Platten noch nicht verkauft waren, hat man die trotzdem abgerechnet, weil es einfacher war, diese Zahlen zu nehmen. Manche Bands haben so viel Geld bei uns verdient wie nirgends sonst.

Welche Platten auf deinem Label erfüllen dich heute noch mit Stolz?
Das ist ganz schwer. Ich bin nie stolz auf eine Platte gewesen, das war immer so ein Zeitausschnitt. Man hat sich immer gesagt, zum jetzigen Moment ist es gut. Man kann aber nicht sagen, man ist stolz auf eine Platte.

Du weißt schon, dass einige der von dir veröffentlichten Platten heute als Klassiker gelten?
Ich weiß es nicht mal so richtig, aber es kann sein.

INFERNO mit „Tod & Wahnsinn“, BOSKOPS mit „Lauschgift“ ...
Die gefielen mir auch besonders. Ja, jetzt, da du es sagst. Mir ist das gar nicht so bewusst gewesen.

NORMAHL eher nicht ...
Nein, nein, das war immer die Dorfcombo, aber die haben es irgendwie anders geschafft. Wenn ich die Veröffentlichungen bei uns mit den Industrieplatten zusammenrechne, haben die bestimmt eine halbe Million Platten verkauft, also alles zusammen, was sie jemals veröffentlicht haben.

Du hast immer bei Pallas pressen lassen, mit Top-Konditionen, die du auch weitergegeben hast.
Ja, auch aus reiner Freundschaft und Sympathie zum Hersteller. Die Konditionen waren gar nicht so gut, aber ich habe mich mit dem Trochinski so gut verstanden. Da kam man hin, der hat seine Zigarre geraucht, das war einfach nett. Der hat mir zu Weihnachten eine Flasche Jack Daniel’s geschickt, weil ich den damals gerne getrunken habe. Wenn mir jemand was schenkt und es mir dort gefällt, dann bleibe ich bei dem, da muss ich nicht irgendwohin, wo es billiger ist.

Du hast dann auch über dich für andere pressen lassen.
Ich habe für We Bite fast alles gepresst, für Nuclear Blast und ein paar andere, die man kannte. Ich habe dabei immer das finanzielle Risiko getragen, weil ich es vorfinanziert habe. Das heißt, wenn jemand was gepresst hat, hat er es nicht gleich, sondern er hat es irgendwann mal gezahlt. Ich war froh, wenn ich das Geld innerhalb der Zeit bekommen habe, in der ich es benötigt habe, aber meistens kam es doch zu spät. Da habe ich ganz schöne Durststrecken durchlebt, weil die keine Chance hatten, ihre gepressten Platten zu bezahlen. Das hat ein halbes bis zu einem Jahr gedauert, bis ich das Geld hatte. So habe ich einige Labels belebt, die auch relativ groß geworden sind. Manche sind sich der Tragweite gar nicht bewusst, was ich für sie eigentlich geleistet habe.

Markus Staiger von Nuclear Blast hat ja bei dir mehr oder weniger das Business von der Pike auf gelernt.
Ja, der war ja auch ein Freund. Der hat bei mir gelernt. Ich habe ihn mit in die Studios genommen, er war bei den Produktionen dabei, bei jeder Veranstaltung, auch privat war er bei jeder Geburtstagsfeier von mir zu Gast. Er war über zig Jahre überall dabei und wir haben immer noch Kontakt.

We Bite ist dann irgendwann gegen die Wand gefahren.
Das war ja irgendwann das Sterben der ganzen Musikbranche und Labels, das war einfach unvermeidlich. Auch bei unseren Produktionen Mitte der Neunziger ist es schwierig geworden. Ende der Neunziger waren die Verkaufszahlen so im Keller, dass man nichts mehr produzieren konnte.

Dein Label wuchs ja anfangs kontinuierlich. Was waren so die Verkaufsschlager, zum Beispiel mit deiner Hausband NORMAHL?
Das waren schon mal 20-30.000 von einer Platte, also schon richtige Stückzahlen. NORMAHL war ja nicht die Band, die musikalisch am höchsten ausgerichtet war, die spielten eher Fun-Punk, dafür war es ganz gut. Die Bands durften ja immer machen, was sie wollten, ich habe denen nie was vorgeschrieben. Ich habe zwar ein, zwei Mal ein Lied für die eine oder andere Band geschrieben, das war lustigerweise auch noch erfolgreich, ansonsten durften die alles machen. Die Bands konnten das Cover gestalten, die Musik bestimmen, sie konnten sich das Studio aussuchen, die konnten machen, was sie wollten.

Deine Platten wurden immer wiederveröffentlicht, auch mit verschiedenen Covervariationen.
Da hatte man ein Mini-Album und Anfang der Neunziger-Jahre gab es dann CDs, da tut man natürlich ein bisschen mehr drauf. Da hat man auch zwei Platten mit je einer halben Stunde einfach zusammengelegt und die Platten waren weiterhin erhältlich. Bei Vinyl haben wir das nicht gemacht, erst als die CD kam.

Du hattest noch mal einen immensen Wachstumssschub mit dem Fall der Mauer Ende 1989 und dem ganzen Osten, der nun offen stand.
Ich habe schon fünf Jahre vorher Platten kostenlos dorthin geschickt. Ob die jemals ankamen, weiß ich nicht, aber ich habe damals einige Dankesbriefe bekommen, einfach so. Wenn jemand von dort geschrieben hat, dass er eine Platte möchte, hat er mehrere bekommen, kostenlos.

Dann kam irgendwann das Slam-Magazin dazu – nicht zu verwechseln mit dem heutigen österreichischen Rock-Magazin. Ein Magazin mit redaktionellem Teil und Vertriebskatalog in der Mitte, das gab es fast überall für schmales Geld.
Das war der Sinn der Sache. Das sollte den Labelkatalog mehr publik machen. Das gab es an Bahnhöfen, Tankstellen, Flughäfen und größeren Zeitschriftenläden, das hat noch mal einen Schub gebracht. Wir haben die auf Festivals kostenlos verteilt. Das war ja interessant, weil da Hardcore, Punk, Crossover, Thrash und so weiter drin war. Dadurch hat man noch mehr Publikum erschlossen. Das war einfach ein Versuch, und der lief ziemlich erfolgreich. Wir haben bis zu 120.000 Stück davon drucken lassen, das war richtig groß, das war mehr als die Auflage vom Metal Hammer.

Da lief der Vertrieb aber nicht mehr im Keller ab.
Nein, das war schon richtig groß im professionellen Bereich, da hatten wir etwa vierzig Angestellte.

Du hattest mal vierzig Angestellte?
Es waren sogar mal achtzig, mit Aushilfen und Minijobbern. Als das mit dem Slam losging waren wir bei vierzig, irgendwann mal bei gut achtzig zu Spitzenzeiten. Das hat richtig Geld ausgemacht, das war auch der Anfang vom Ende, als es in die falsche Richtung gegangen ist.

So viele Leute bedeutet auch eine Menge Fixkosten.
Das konnten wir anfangs über die Verkaufszahlen wettmachen, die gigantisch waren. Von manchen Labels haben alleine wir 5-10.000 Platten verkauft. Das war Anfang bis Mitte der Neunziger und eine tickende Zeitbombe. Die Sampler haben sich gut verkauft. Bands wie WIZO wären nie so bekannt geworden ohne die „Schlachtrufe“-Sampler, mit so einem Lied wie „Kein Gerede!“ drauf. WIZO sind erst groß geworden durch dieses Lied und die Verbreitung des Samplers, weil der sich so gut verkauft hat und weil es natürlich auch das beste Lied darauf war.

Der „Schlachtrufe BRD“-Sampler war deine Idee.
Auch wieder eine reine Spaßplatte, einfach mal was Radikales machen.

Der Sampler taucht ja sogar bei Wikipedia auf als „politisch autonom und linksradikal ausgerichtet“. War das eine bewusste Entscheidung auch für die links ausgerichtete Songauswahl?
Ich war immer links, das war meine politische Einstellung, die Leute aufzurütteln. Das hat mit dem Sampler auch ganz gut geklappt. Ich war überrascht, dass das so gut lief. Beim ersten hat man wieder nur Resteverwertung gemacht, und den auch noch zum halben Preis eines normalen Samplers angeboten. Das Ding ist dann explosionsartig gelaufen.

Wie politisch war dein Label?
Spaßpolitisch würde ich sagen. Keine großen radikalen Ansichten dahinter. Es gibt ja nur rechts, links und die Mitte. Die Mitte ist langweilig, rechts geht gar nicht, also kam sowieso nur links in Frage.

Nix-Gut Records hat den „Schlachtrufe BRD“-Titel dann ab Teil VII weiterverwendet.
Ja, als es nicht mehr weitergeführt wurde, weil ich keine Lust mehr darauf hatte. Der Aufwand wurde so groß, so einen Sampler zusammenzustellen, die ganzen Vorschüsse zu zahlen. Und die Verkaufszahlen sind zu dem Zeitpunkt schon runtergegangen. Wir hatten da schon alle Bands, die Rang und Namen hatten, auf den ersten Samplern drauf, und man wollte ja nicht immer die gleichen Bands draufpacken. Natürlich hat man die eigenen Bands immer draufgenommen, weil sie dadurch gefördert wurden, aber wenn es um fremde Bands ging, um gute Lieder, da wurde es immer schwieriger. Die Qualität ging runter und die Verkaufszahlen gingen gleichzeitig in den Keller. Die Produktionskosten für die Sampler waren am Ende viel zu hoch.

Du hattest ab der zweiten Hälfte der Neunziger einen riesigen Merchanteil, vom Bandshirt, über VHS-Videos, diese ganzen Funshirts bis hin zum Aschenbecher.
Das hat das Ganze auf jeden Fall finanziell unterstützt. Auch wenn die Plattenverkäufe sanken, hat das Merchandising das auf der anderen Seite wieder erwirtschaftet. Da konntest du durch die Stadt laufen und hast Dutzende Leute gesehen, die die eigenen T-Shirts anhatten, die oft aus Stammtischideen heraus entstanden sind. Das war ja alles nur zum Spaß. Man hatte eine Idee und dachte, das könnte vielleicht laufen, dann läuft die halbe Stadt mit dem T-Shirt herum. Wie bei den Platten am Anfang hat man einfach gemacht und geschaut, was dabei herauskam. Das lief auch ziemlich gut, weil da kein Zwang dahinter war.

Kamen da auch so Ideen her wie „Kampftrinker Stimmungshits“ oder „Haste mal ’ne Mark?“?
Alles! Alles hat sich immer in einer Kneipe ergeben oder sonst aus einer Bierlaune heraus. Die wurden dann auch besser, diese Sampler. Der erste „Kampftrinker“-Sampler war nur reine Materialverwertung, von jedem etwas. Der zweite war schon wesentlich besser und der dritte noch mal. Danach gab es das Problem, dass man nicht mehr wusste, was man noch nehmen sollte, und hat dann Metalbands wie TANKARD oder Tom Angelripper mit genommen, aber der Zenit war schon überschritten. Die Lieder aus dem Punk-Bereich waren da schon alle ausgeschlachtet.

Warum hast du Sachen wie BUMS oder HANNEN ALKS gemacht?
BUMS war nur wegen einem Mitarbeiter. Von denen hat einer bei mir gearbeitet, der wollte das unbedingt machen. Die waren ja noch relativ erfolgreich, das war kein Verlustbringer. Und HANNEN ALKS waren supergute Freunde von mir.

Ich frage deshalb, weil ich das musikalisch nie verstanden habe.
Das war egal, es war die Freundschaft, die da gezählt hat, ich bin heute noch in Kontakt mit dem Guido. Der Barny von Incognito fand die damals gut, der hat sie mir auch vermittelt. HANNEN ALKS war auch nur eine reine Freundschaftssache, sonst hätten wir das niemals gemacht, und die waren ja auch erfolgreich.

Am Ende ging es ja nicht gut aus mit A.M. als Label und Vertrieb. War das eher ein schleichender Prozess oder gab es da einen entscheidenden Punkt?
Das war ein schleichender Prozess. Die Stückzahlen sind seit 1990 immer mehr eingebrochen. Jedes Jahr wurden es weniger. Die Produktionskosten sind jedes Jahr gestiegen, und es wurde immer schwieriger, gutes, neues Material zu bekommen. Innerhalb der Firma haben sich kleine Grüppchen gebildet, die meinten, sie müssen die Firma in der Firma machen. Davon gab es einige, ein paar haben das Geld, was an sich der Firma und anderen zugestanden hätte, an sich gezogen. Teilweise haben sie es auch kaputtgemacht. Leute, die ich jahrelang kannte, haben mich bitterböse enttäuscht. Das waren aber nur Einzelne, eine Handvoll Leute, die es wirklich nicht gut gemeint haben und das ganze Gerüst zum Einsturz brachten, vorsätzlich.

Am Ende ging es doch relativ schnell.
1999 war das. Irgendwann war der Punkt erreicht. Das Geld wurde von der Firma über Dritte verbrannt, gerade diese Handvoll Leute. Die haben es einfach so kaputtgemacht, ohne direkt davon zu profitieren. Das führte am Ende dazu, dass das Geld fehlte. Gleichzeitig sind die Verkaufszahlen noch mal massiv nach unten gegangen. Beides zusammen funktionierte dann nicht mehr. Am Ende habe ich das Ganze eingestellt.

Das ging doch den Bach runter und ist mehr oder weniger implodiert?
Nein, nicht den Bach runter, das kann man nicht so sagen. Ich habe das aufgrund der Vorkommnisse eingestellt. Den Bach runter würde ich jetzt nicht so sagen, das ist der falsche Ausdruck dafür. Ich habe einen Schlussstrich gezogen, weil mich das mental kaputtgemacht hat. Als ich angefangen habe, gab es diese Raffgiermentalität nicht, da hat sich jeder gefreut, dass was passiert, und wenn man was dran verdient, war es auch gut. Am Schluss war das nicht mehr gegeben, das war so eine Raubtiermentalität und das war nie mein Ziel.

Was ist mit den Lagerbeständen und Resten passiert?
Nichts. Damit wurden Schulden bereinigt, die sich aufgetürmt hatten. Wenn jemand noch Guthaben von 2.000 DM hatte, wurde dem Material für 3.000 oder 4.000 DM zugeschickt, damit er keinen Schaden erleidet. Dem wurde vorgebeugt, damit möglichst wenig Schaden bei anderen entstand. Entweder sie bekamen Geld oder Ware. Ich wollte nicht, dass jemand sagen konnte, ich hätte ihm noch was geschuldet, auch die Bands sind bis zum letzten Tag bezahlt worden. Bei einigen habe ich noch geschaut, dass es für sie Übernahmen gab, damit sie weitermachen können.

Du sitzt auch nicht auf den Lizenzen. Soweit ich weiß, war es für keine Band ein Problem, eine Platte, die ursprünglich bei dir erschienen ist, woanders neu auflegen zu lassen.
Mir ging es nur darum, dass die Platten weiterhin erhältlich bleiben. Das waren vor allem Nix-Gut Records und Suppenkazper, die das übernommen haben. Was nicht weiterlizensiert wurde, haben die Bands an Rechten zurückbekommen. Ich wollte damit einfach nichts mehr zu tun haben.

Mit Nix-Gut würdest du das heute wohl nicht mehr machen, jetzt, wo die den FREI*WILD-Merch machen.
Die waren damals schon ein wenig komisch, aber man konnte mit denen zuverlässig zusammenarbeiten. Nix-Gut war eher Mittel zum Zweck. Die haben mich gefragt, also habe ich denen gesagt, dann macht’s eben, damit die ganze Sache weiterläuft. Die waren schon immer ganz anders als ich, ganz andere Mentalität. Was die anschließend gemacht haben, habe ich bis vor kurzem gar nicht mitbekommen. Aber der Endie von Suppenkaszper war auf jeden Fall ein ganz lieber Mensch, mit dem war immer alles klar.

Wie war dieser Zusammenbruch für dich persönlich?
Eine Katastrophe! Ich bin davon total krank geworden. Ich habe Gicht bekommen, andere Krankheiten, ich bin mental total kaputtgegangen, weil ich eben enttäuscht war von ein paar Leuten, die ich jahrzehntelang kannte. Das zog sich noch über Jahre danach hin.

Warst du am Ende froh, als es vorbei war?
Kann man so nicht sagen. Es war schade, dass eine Sache, die man so lange aufgebaut hatte, so böse enden musste. Nicht wütend, nur enttäuscht, dass Menschen, die man so lange kennt, einem derart in den Rücken fallen können.

Hat das auch einen Bruch für dich und die ganze Punk-Geschichte bedeutet?
Ich bin anschließend zehn Jahre lang nicht mehr auf Konzerte gegangen, weil ich genug hatte von der ganzen Sache. Das ging auch gesundheitlich nicht, wegen der ganzen Erfahrungen. Ich musste erst Abstand gewinnen und mich neu orientieren. Mittlerweile gehe ich seit zehn Jahren wieder auf Konzerte, inklusive Blackpool. Mit einigen der Leute von früher, die in Ordnung sind, bin ich weiterhin in Kontakt. Das ist weiterhin die Musik meiner Jugend und ich schaue mir weiterhin die Bands an, die ich damals schon gut fand. Mit deutschen Bands habe ich ein bisschen abgeschlossen, auch wenn ich manche gerne mag, aber mit der Musik kann ich einfach nichts mehr anfangen. Wenn, dann gefällt mir vor allem guter englischer oder amerikanischer Punk. Ich gehe auf Konzerte und freue mich, wenn ich das mit Freunden von damals machen kann und wenn ich Leute mit ihren fünfzig, sechzig Jahren dort sehe.

Was hättest du rückblickend anders machen können?
Ich hätte ein richtiger Geschäftsmann sein sollen und knallhart durchgreifen müssen, dann wäre das nicht passiert. Aber ich habe das nur aus einem persönlichen Antrieb heraus gemacht, weil mir das Spaß gemacht hat. Ich war leider nie der harte Geschäftsmann, der ich hätte sein müssen. Freundschaften waren für mich viel wichtiger als der Rest. Die Devise war immer „Wenn alle glücklich sind, bin ich auch glücklich“, das hat ja auch lange funktioniert.

Die Alternative, wie Walterbach dein Label und den Vertrieb zu verkaufen, gab es nie?
Hätte ich machen können, da hätte ich gutes Geld bekommen, aber ich habe mich nie darum gekümmert. Ich bin einfach ein schlechter Geschäftsmann gewesen. Ich habe die Möglichkeiten nicht genutzt, weil ich nicht so gedacht habe.

Du machst ja heute etwas völlig anderes.
Ja, aber in weitaus geringerem Rahmen, man muss ja irgendetwas machen. Aber mit Musik, das ist vorbei. Ich habe das über zwanzig Jahre lang gemacht, und dann ist das Kapitel einfach abgeschlossen. Von Ende der Siebziger bis Ende der Achtziger war das eine Superzeit.

Thomas, vielen Dank für das Gespräch.

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Mülleimer-Vertrieb
Mülleimer Records verschickte analog zu den anderen damals aktiven Versandfirmen wie Vinyl Boogie und Sasquatsch Neuheitenlisten, die je nach Neuzugängen ein bis zwei Monate Gültigkeit hatten und sich ab 1985 auf eine regelmäßige zweimonatliche Erscheinungsweise einpendelten. Meistens beschränkten sich diese Listen auf die Angabe der Plattentitel und den Preis. Wenn es hochkam, gab es eine Kurzbeschreibung, bestehend aus einem Halbsatz oder der Angabe des Herkunftslandes. In den Listen gab es Verkaufs- oder Redaktionscharts, Lagerbestände außerhalb der Neuzugänge waren nach Ländern sortiert, später auch in Genres unterteilt. Um Porto und Kopierkosten zu sparen, bestanden die Listen aus maximal zwei bis höchstens drei A4-Blättern, die Titel so verkleinert, dass sie dem vierfachen Inhalt der normalen Schriftgröße entsprachen. Bei späteren Listen gab es dann Konzerttermine, Comics und auch Live-Reviews. T-Shirts waren bereits 1984 fester Bestandteil des Vertriebsprogramms, zu einer Zeit, als man sich Bandshirts entweder noch selber malen musste oder in den Punk-Läden für teures Geld als England-Importe lediglich die SEX PISTOLS- und EXPLOITED-Massenware bekam. Der Name Mülleimer Records als Vertriebsname hatte länger Bestand als der Labelname, nachvollziehbar sind Listen mit „Mülleimer Records“ auf jeden Fall bis 1989.

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A.M. Mailorder
Nachdem auch der Vertrieb irgendwann zwischen 1989 und 1991 in A.M. Mailorder umbenannt worden war, nahm der Katalog ab den Neunzigern stetig an Umfang zu, ebenso verbreiterte sich zunehmend das Warenangebot. Hatte der Mailorder-Katalog im Sommer 1992 mit seinen 24 A4-Seiten bereits ein Farbcover, war innen noch alles schwarzweiß und bis auf ein paar Gangsta-Rap-, Metal- und Indie-Scheiben musikalisch weitgehend Punk und Hardcore. Die eigenen Metal-Platten gab es im Viererpack für 9,90 DM, erste Videos und Comics tauchen auf, alles immer noch sehr geschmackssicher. Der Katalog – anders kann man es nicht nennen – des A.M. Mailorders vom Herbst 1998 war dann ein durchgehend vierfarbiger Versandkatalog mit 68 A4-Seiten. Neben Platten (Punk, Ska, Crossover, Reggae, Rap, Independent, Metal) konnte man Badges, Klamotten, Nieten-Aaccessoires, Poster, Brillen, Gürtel, Schmuck, Aufkleber, Postkarten, Hanfprodukte, Videos, Comics, Bücher, Band- und Funshirts, Aufnäher, Schlüsselanhänger, Feuerzeuge, Ostalgia, Survivalbedarf, „Kleines Arschloch“- und „Simpsons“-Merch, Kaffeetassen, Kalender, Gummimasken oder Tabakdosen bestellen. Bei den Videos gab es sowohl Live-Videos als auch Horrorfilme bis hin zu Pamela Anderson-Portraits, was, neben einigen anderen Artikeln, für eingefleischte Punks mitunter zu grundlegenden Sinnfragen führte. Viele Neuerscheinungen wurden nun ausführlich besprochen, für Videos und Bücher gab es jeweils eine Inhaltsangabe. Der Katalog war ab 1996 fester Bestandteil des an nahezu allen Kiosken erhältlichen Slam-Magazins, das vier Mal jährlich erschien und inhaltlich für nur 2,90 DM eine musikalische Bandbreite von Punk über Rap und Independent bis hin zu Metal abdeckte. Der Schwarzkittelbereich wurde mit dem Gothic-Magazin bedient.

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Mülleimer Records: 1981 gegründetes Label, zu dessen ersten Veröffentlichungen die NORMAHL-7“ „Stuttgart über alles“ sowie deren LP „Verarschung Total“ gehört als auch die „Abmarsch“-7“ von CHAOS Z. 1986 wurde Mülleimer Records in A.M. Music umbenannt. Durch die konsequent inkonsequente Katalognummernvergabe und Nachpressungen mit den Originalvorlagen und Mülleimer-Labels ist ein klarer zeitlicher Schnitt nachträglich nur schwer nachvollziehbar.

A.M. Music: Aktueller Mülleimer Music, immer abkürzt als A.M. Music wurde als Label- und Vertriebsname 1986 gegründet. A.M. Music war als Label, die A.M. Music GmbH als Mutterlabel für zahlreiche Unterlabel tätig. Auch hier sind die Katalognummern ein unlösbares Puzzle für Leute, die über zu viel Zeit verfügen.

Snake: 1987 gegründetes Label, das für Neuveröffentlichungen und Nachpressungen des bisherigen Mülleimer-Katalogs verantwortlich war. Dazu kommen zahlreiche Sampler, darunter die bekannte „Schlachtrufe BRD“-Reihe. Nach dem Ende von A.M. Music wurde Snake Records bis 2002 von Endie Neumanns Suppenkazper’s Noize Imperium-Label weiterverwendet, unter anderem für den vierten Teil der „Schlachtrufe“-Sampler.

Disaster: Bereits 1984 als Mülleimer-Unterlabel gegründet und ausschließlich für den Speed- und Thrash-Metal-Bereich zuständig. Hauptsächlich aktiv von 1986 bis 1989, um dann nach achtjähriger Pause 1997 nochmals eine CD zu veröffentlichen.

Psycho Clown: Sublabel, das von 1994 bis 1997 ausschließlich für die Lizenzveröffentlichungen der Detroiter Band SHOCK THERAPY zuständig war.

Voodoo Garden: Gothic-Sublabel, das sich ab 1995 vor allem für die Veröffentlichungen von SILKE BISCHOFF verantwortlich zeigte.

Bonecrusher Records: 1985 noch zu Mülleimer-Zeiten gegründetes Sublabel, das anfangs offenbar als reines Lizenzlabel für US-Bands gedacht war, aber gerade mal für die OFFENDERS und N.O.T.A. zum Zuge kam. In den Neunzigern wiederbelebt für Veröffentlichungen von Bands wie BUMS oder AUFBRUCH.

Undertainment: Veröffentlichungen 1995 und 1996 von DELERIUM und Genesis P-Orridge mit PSYCHIC TV.

Gothic Records: Ab 1995 aktives Sublabel, auf dem vor allem die „Gothic Compilation“-Reihe erschien, zusammengestellt unter anderem von Peter Field/Peter Ehrenfeld, ehemals Rat Records.

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Die andere Seite
Die Geschichte, die Kalle Stille hier wiedergibt, ist eine Seite der Geschichte des Punklabel-Betreibers Thomas Ziegler. Sie ist so wahr, wie Ziegler die Dinge in Erinnerung hat und wiedergeben wollte und konnte. Immer in solchen Fällen ist es dem Interviewer nicht in jedem Detail möglich, kontrastierende Sichtweisen in ein Gespräch einzuführen – etwa dann, wenn man dem Geschehen und dem Befragten emotional verbunden ist, wenn man ahnt, dass das Gegenüber bei bestimmten Punkten „zumachen“ würde, das Interview an diesem Punkt wahrscheinlich vorbei wäre. Interviews wie die im Ox sind eben etwas anderes als wenn Politikjournalisten live einen Politiker „grillen“ und diesen in die Zange nehmen können, wenn diese aus Gründen der Gesichtswahrung und der öffentlichen Situation auch auf kritischste Fragen antworten müssen. Natürlich sind auch wir bemüht „die Wahrheit“ zu berichten, aber im Falle Thomas Ziegler und AM gibt es eben verschiedene Wahrheiten, je nachdem, welche Wegbegleiter (Bands, Mitarbeiter, Geschäftspartner ...) man befragt.
Auch ich habe meine Erfahrungen mit AM Music gemacht. Die Erinnerung an die Neunziger verblasst zwar zunehmend, aber ein Blick in die Ox-Ausgaben jener Jahre offenbart, dass wir meist auf parallelen Umlaufbahnen unterwegs waren. Das Label aus den Achtzigern, das (weitgehend) geschmackssicheren deutschen Punkrock und auch US-Hardcore veröffentlichte, war zu einem seltsamen Gemischtwarenladen geworden, das unter anderem auf der Deutschpunk-Welle ritt, die damals enorm profitabel war, aber von Seiten des Ox eher ablehnend betrachtet wurde – zu billig und stumpf wirkte das alles auf uns, das Katalogmagazin war schlecht journalistisch verkleidet, und unsere Wege kreuzten sich nur selten, der sporadische Kontakt zu Ziegler und seinen Mitarbeitern ist mir als eher unerfreulich in Erinnerung. Ich erinnere mich noch an einen Konflikt, als AM ausnahmsweise ein paar hundert Ox-Hefte einer Ausgabe für den umsatzstarken Mailorder (der damit auch für das Ox als Absatzstelle attraktiv war) bestellt und geliefert bekommen hatten, die dann nicht verkauft wurden, weil eine Rezension eines AM-Releases nicht gefiel.
Aus jener Zeit stammt auch ein mittlerweile bestätigtes Gerücht, das damals für verstörte Blicke sorgte und uns „Jüngeren“, die Ziegler nicht von früher kannten, den AM-Boss für einen schrulligen schwäbischen Geschäftsmann losgelöst von unserer Punk-Realität halten ließen: Vor der Tür zum Chefbüro hing eine alte Verkehrsampel, nur bei Grün durfte eingetreten werden.
Der tiefe Fall kam dann mit dem Konkurs, über den viel gemunkelt wurde. Einerseits hatte sich das Geschäftsmodell Ende der Neunziger überlebt, andererseits zeigte der Metal-Mailorder EMP, dass man mit einem ähnlichen Konzept (etwas Musik, viel Merchkrempel) bis heute eine Menge Geld verdienen kann. Vielleicht war Thomas Ziegler also einfach nur etwas zu früh dran, wäre er mit etwas Glück heute noch im Geschäft. Das sich freilich massiv verändert hat, denn auch zeitweilig umsatzstarke Nachfolger und teilweise auch Konkurrenten wie Impact, Nix-Gut und Suppenkazper kopierten und/oder imitierten das Geschäftsmodell von AM, sind heute aber selbst fast vergessen. Punk, das ist wohl das „Problem“, war in den Neunziger und um die Jahrtausendwende noch eine Goldgrube mit viel Nachwuchs, heute jedoch ist er größtenteils wieder Underground. Die Jugend hört Rap und Metal – und streamt.
Joachim Hiller

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Diskografie

Mülleimer Records: NORMAHL „Stuttgart über alles“ (7“, 1981) • NORMAHL „Verarschung Total“ (LP, 1981) • CHAOS Z „Abmarsch“ (7“, 1981) • NORMAHL „Ein Volk steht hinter uns“ (LP, 1982) • V.A. „Ultra Hardcore Power“ (LP, 1983) • MANIACS / TIN CAN ARMY „Split“ (LP, 1983) • TRIEBTÄTER „Hass & Krieg“ (LP, 1984) • LUSTFINGER „Harte Männer tanzen nicht“ (LP, 1984) • HERBÄRDS „Eu! Se Bois“ (LP, 1984) • INFERNO „Tod & Wahnsinn“ (LP, 1984) • NORMAHL „Der Adler ist gelandet“ (LP, 1984) • V.A. „Hardcore Power Music 2“ (LP, 1984) • NORMAHL „Harte Nächte“ (LP, 1985) • BOSKOPS „Lauschgift“ (LP, 1985) • HUNGRY FOR WHAT „And The War Goes On“ (LP, 1985) • THE IDIOTS „Emmy Oh Emmy“ (7“, 1986) • THE IDIOTS „They Call Us: The Idiots“ (LP, 1986) • V.A. „We Don’t Need Nuclear Force“ (LP+7“, 1986) • MANIACS „The White Rose Of Resistance“ (LP, 1986) • NORMAHL „Live In Switzerland“ (LP, 1986)

Disaster: BACKWATER „Revelation“ (LP, 1984) • THE GLORIOUS ENGLISH DOGS „Forward Into Battle“ (LP, 1986) • BACKWATER „Final Strike“ (LP, 1986) • V.A. „US Speedcore Invasion“ (LP, 1986) • EXUMER „Possessed By Fire“ (CD, 1986) • ANGEL DUST „Into The Dark Past“ (LP/CD, 1986) • EXUMER „Rising From The Sea“ (LP/CD, 1987/88) • ANGEL DUST „To Dust You Will Decay“ (LP, 1988) • MANDATOR „Initial Velocity“ (LP, 1988) • MANDATOR „Perfect Progeny“ (LP/CD, 1989) • DR. DEATH „Preapocalyptic Visions“ (CD, 1997)

Snake Records: THUNDER „Fight For Success / Todays Night“ (7“, 1985) • VELLOCET „Captive Of Reality“ (LP, 1987) • NORMAHL „Biervampir“ (LP, 1988) • V.A. „Das waren noch Zeiten“ (LP, 1989) • THE IDIOTS „Never Give Up“ (LP, Compilation, 1989) • INFERNO „Geschöpf ohne Gehirn“ (7“, 1990) • V.A. „Schlachtrufe BRD“ (LP, 1990) • HANNEN ALKS „Hannen Alks Fieber“ (LP, 1990) • BOSKOPS „SOL 12“ (LP, 1990) • BOSKOPS „F.E.D.I.A.“ (LP. 1990) • V.A. „Deutsche Punk Klassiker“ (LP, 1990) • DAILY TERROR „Abrechnung“ (LP, 1990) • V.A. „Kampftrinker Stimmungshits“ (LP/CD, 1990) • INFERNO „It Should Be Your Problem“ (CD, 1990) • BOSKOPS „Non Plus Ultra“ (LP, 1991) • HANNEN ALKS „Kaperfahrt ins Mädcheninternat“ (LP, 1991) • V.A. „Punk-Aid Punk Rock Party“ (LP, 1991) • FLIEHENDE STÜRME „Priesthill“ (CD, 1991) • V.A. „Schlachtrufe BRD II“ (CD, 1992) • V.A. „Neues Deutschland“ (LP, 1990) • V.A. „Die deutsche Punkinvasion“ (LP, 1993) • MARIONETZ „Jetzt knallt’s!“ (CD, 1994) • V.A. „Schlachtrufe BRD III“ (CD, 1994) • V.A. „Kampftrinker Stimmungshits II – Jung kaputt! Spart Altersheime“ (CD, 1994) • HANNEN ALKS „Quaken verboten“ (CD, 1994) • GEISTIGE VERUNREINIGUNG „Plenare Insassen“ (CD, 1994) • FLIEHENDE STÜRME „Fallen“ (CD, 1995) • V.A. „Schlachtrufe BRD IV“ (CD, 1995) • CHAOS Z „45 Jahre ohne Bewährung“ (CD, 1995) • V.A. „Hardcore Power Music Part 2“ (CD, 1995) • INFERNO „Die radikalen Jahre“ (CD, Compilation, 1995) • V.A. „Die deutsche Punkinvasion II“ (CD, 1996) • CHAOS Z „Die gnadenlosen Jahre 80-83“ (CD, Compilation, 1996) • V.A. „Haste mal ’ne Mark?“ (CD, 1996) • V.A. „Shoes“ (LP, 1996) • KAPITULATION B.O.N.N. „Feuer“ (CD, 1996) • V.A. „Kampftrinker Stimmungshits III (CD, 1996) • RAWSIDE „Staatsgewalt“ (CD, 1997) • V.A. „Die deutsche Punkinvasion III“ (CD, 1997) • AUSBRUCH „Harte Zeiten“ (CD, 1997) • V.A. „Haste mal ’ne Mark? Die Zweite!“ (CD, 1997) • FLIEHENDE STÜRME „An den Ufern“ (CD, 1998) • DIE ZUSAMM-ROTTUNG „Jetzt erst recht“ (CD, 1998) • V.A. „Schlachtrufe BRD VI“ (CD, 2001) • V.A. „Kampftrinker Stimmungshits IV (CD, 2002)

Undertainment: Genesis P-Orridge / PSYCHIC-TV „Breathe – Spoken Ambient Words“ (CD, 1995) • DELERIUM „Reflections 2“ (CD, Compilation, 1996) • DELERIUM „Reflections 1“ (CD, Compilation, 1996)

Voodoo Garden: SILKE BISCHOFF „s/t“ (CD, 1995) • SILKE BISCHOFF „To Protect And To Serve“ (CD, 1996) • SILKE BISCHOFF „Northern Lights“ (CD, 1996) • SILKE BISCHOFF „Waste Of Time“ (CD, 1996) • THE SECOND SIGHT „Animals“ (CD, 1997) • THE SECOND SIGHT „Life Wrote It Down“ (CD, 1997

A.M. Music: NORMAHL „Fröhliche Weihnachten“ (7“, 1990) • BUMS „Schwarz-gelbe Borussia“ (7“, 1992) • V.A. „Gothic Compilation Part I“ (CD, 1994)