PALM READER

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Soundtrack zur Apokalypse

Dunkel und schwer, so könnte man sowohl den Corona-Winter 2020/21 beschreiben als auch „Sleepless“, das vierte Album der Engländer PALM READER. Anders als die paar kalten Monate möchte man dieses Post-Hardcore-Meisterwerk jedoch nicht so schnell hinter sich lassen. Mit Sänger Josh sprachen wir darüber, wie sehnsüchtig die Briten doch Live-Shows vermissen, warum es so viele fantastische englische Bands gibt und wie wir die Welt doch irgendwie noch retten können.

Ich könnte mir die Show zu „Sleepless“ richtig bombastisch vorstellen. Vor allem was das Licht angeht.

Ich verstehe, was du meinst. Wir planen tatsächlich auch, mehr mit der Atmosphäre zu spielen. Bestenfalls ergibt es sich, dass wir an einem Abend das gesamte Album spielen. Jedoch denke ich, dass wir damit nicht den Leuten gerecht werden, die auch unsere anderen Songs hören wollen. Schließlich will ich als Konzertgänger:in ja auch die Tracks hören, auf die ich abfahre. Das müssen nicht immer die neuesten sein. Wir haben in den letzten Monaten so viele Ideen durchgespielt, mal schauen, ob wir uns da zügeln können.

Ihr seid eine von unglaublich vielen fantastischen britischen Bands, die in den letzten Jahren Musik veröffentlicht haben. Woran liegt es, dass die Dichte an großartigen Musiker:innen in Großbritannien so hoch ist?
Das hängt bestimmt mit der Geschichte zusammen, die Rockmusik hier durchgemacht hat, und mit der Industrie, die sich drumherum aufgebaut hat. Die Veranstaltungsorte, das Netzwerk, die Promoter:innen und Plattenfirmen, all das ist ja während der ersten Welle von Rock’n’Roll und Livemusik hier entstanden und funktioniert immer noch sehr gut. Für eine doch recht kleine Insel kommen doch sehr viele fantastische Künstler:innen von hier. In Island kann man ein ähnliches Phänomen beobachten. Dort ist die Insel noch kleiner und der Anteil der tollen Musiker:innen noch größer. Vielleicht liegt das bei denen am Schwefel, der aus den Vulkanen kommt, und bei uns am Tee. Irgendwie sind wir hier aber auch total verwöhnt durch die Strukturen, auf die wir zurückgreifen können, und die Bands, die hier aus dem Boden schießen.

Ihr habt „Sleepless“ bereits Ende 2020 veröffentlicht. In einem Jahr, das für immer mit der Pandemie verbunden sein wird.
Lass mich kurz überlegen, wann wir mit dem Schreiben der Platte angefangen haben ... Das müsste so im März oder April 2019 gewesen sein. Andy, einer unserer Gitarristen, und ich haben den Großteil der Songs auf dem Album geschrieben. Anfang 2020 sind wir dann ins Studio gegangen, um „Sleepless“ aufzunehmen. Weihnachten 2019 war auf jeden Fall etwas stressiger, als ich erwartet hätte, da ich dieses Mal stärker am eigentlichen Songwriting beteiligt war. Vorher habe ich mich hauptsächlich um die Vocals und Texte gekümmert. Unter anderem ist der Song „A bird and its feathers“ komplett von mir. Das gab es vorher auf keiner PALM READER-Platte. Wir haben uns dann für drei Wochen eingeschlossen, die Köpfe gegen die Wand gehämmert und hatten plötzlich ein fertiges Album in der Hand.

Hattet ihr schon die Möglichkeit, die neuen Songs vor einem Live-Publikum zu präsentieren?
Ja, die hatten wir tatsächlich. Im Zuge des Releases haben wir zusätzlich noch ein Livestream-Konzert gespielt, aber das zählt ja nicht richtig. Im März 2020 waren wir gerade mit EMPLOYED TO SERVE auf Tour durch Großbritannien als am letzten Tag alles abgesagt werden musste. 15 Minuten vor Show-Beginn wurde alles gecancelt und stand seitdem still. Auf dieser Tour haben wir jedoch auch nur einen oder maximal zwei Songs der neuen Platte gespielt, weil wir unheimlich gern austesten wollten, wie die Leute darauf reagieren würden. Man konnte sehen, dass die Leute sich gegenseitig anstießen und überlegt haben, ob das ein neuer Song sein könnte. Ein paar von ihnen sind nach den Shows zu uns gekommen und haben nach der neuen Platte gefragt.

Lass uns noch mal darüber sprechen, dass „Sleepless“ über die Gesamtlänge als Album sehr gut funktioniert.
Uns war es wichtig, dass die Leute, die sich unsere Musik reinziehen, die Möglichkeit haben, in eine andere Welt einzutauchen. Wer unsere Platten hintereinander hört, merkt schnell, dass wir uns eigentlich nie wiederholen. Dieses Mal hatten wir definitiv vor, Songs zu schreiben, die auch miteinander sehr gut funktionieren – quasi als ein langes Lied. Es gibt viele Songs auf „Sleepless“, denen man eine bestimmte Entwicklung anhören kann. Das liegt auch daran, dass wir dieses Mal das Songwriting auf mehrere Schultern verteilt haben.

Was hat dich während der Aufnahmen zu „Sleepless“ wachgehalten?
Es gab eine Menge Dämonen, die sich sehr hartnäckig in meinen Gedanken festgesetzt hatten. Normalerweise wirkt das Musikmachen sehr reinigend auf mich. Auf dieser Platte hatte ich jedoch vor, mich selbst nicht in den Mittelpunkt zu stellen, sondern Geschichten von anderen zu erzählen. Schließlich ist es doch so, dass ein weißer Engländer über dreißig nicht immer spannende Geschichten zu erzählen hat. So schrieb ich über Probleme, die ich bei anderen wahrnahm, und habe ihnen so eine Plattform gegeben. Im Opener „Hold/Release“ geht es darum, Erwartungen nicht gerecht zu werden und ins Straucheln zu geraten. Ich habe beobachtet, wie schnell Menschen in Depressionen abrutschen, wenn sie zu viel fordern oder wenn sie unter Druck gesetzt werden. Wir müssen immer ein offenes Ohr für unsere Freund:innen haben und sollten das Gespräch suchen. Passiert dies nicht, hat das meist große Probleme zur Folge.

Welches gesellschaftliche Problem würdest du lösen wollen, wenn du die Möglichkeit hättest?
Da wären zuerst einmal die offensichtlichen Sachen wie Armut, Hunger und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Wenn ich ganz konkret werden soll, würde ich sagen, dass das Gesundheitssystem auf der ganzen Welt für alle umsonst sein sollte und es nicht davon abhängen darf, wie gut die Qualität ihrer Versorgung ist, dass manche Menschen reich und andere arm sind. Hier in England haben wir ein solches System zwar schon, nur steht es unter dem permanenten Beschuss von konservativen Politiker:innen und der Industrie. Ich bin eigentlich kein sonderlich politischer Mensch, aber was hier passiert, ist einfach ekelhaft. Fuck the Tories and free healthcare for all!