Vinylrausch

Foto© by Michael „Slayer“ Schneider

Ein kleiner Sucht-Ratgeber

In den letzten zwanzig Jahren sind jüngere Menschen (wieder) auf den Geschmack gekommen, die Ü50 Fraktion war ihr – manchmal mit einem Gap in den Neunziger Jahren – schon immer verfallen: der Schallplatte, dem guten alten „schwarzen Gold“, auch liebevoll „Porsche des kleinen Mannes“ genannt. Ähnlich wie im Techno und HipHop war das Vinyl in Punkrock-Kreisen nie verschwunden, aber der Plattenladen als Sehnsuchtsort ist erst allmählich wieder flächendeckend aufgeblüht. Manch eine:r verfluchte plötzlich den Leichtsinn der späten Jugend – nicht wenige hatten nach dem vermeintlichen Siegeszug der CD ihre gesamte Plattensammlung zu Ramschpreisen verkauft oder gar verschenkt. Mon dieu!

Der Vinylrausch greift also wieder verstärkt um sich und vielen dürfte folgende Szene einigermaßen bekannt vorkommen: In der Mittagspause gehst du nur kurz in deinen Lieblingsplattenladen, stöberst ein bisschen herum, selbstverständlich inklusive Fachsimpelei mit dir bislang völlig unbekannten Menschen. Du kommst nach einer gefühlten halben Stunde mit zwei Platten im Säckle wieder raus und ... draußen wird es bereits dunkel?! Tja, denn in der „realen“ Welt sind für alle anderen Menschen bereits vier Stunden vergangen! Uups! Fazit: Du vertrödelst die Zeit, dein Zimmer (wahlweise Garage, Keller, Wohnung, Haus, Anwesen ...) wird vor lauter Platten gefühlt immer kleiner und zu oft bleibt am Ende des Geldes noch etwas Monat übrig. Vorsicht: Dein Weg zum Vinyl-Junkie ist bereits geebnet! Doch wir vom Ox stehen dir bei: Zur Prävention deiner potenziell süchtigen Persönlichkeitsanteile seien hier einige der Risikosituationen genannt, die die Vinyl-Falle immer wieder zuschnappen lassen. Und ... zack! Und falls du dir nach der Lektüre immer noch unsicher in Bezug auf dein eigenes Gefährdungspotenzial sein solltest, gilt folgende Faustregel: Wenn du beim Lesen der Beispiele öfter als drei Mal geschmunzelt hast, besteht wenig Aussicht, es ohne Unterstützung zu schaffen. Gründe eine Selbsthilfegruppe! Ich bin dabei! Unsere Meetings können wir dann im nächstgelegenen Plattenladen abhalten.

Der Blindkauf-Faktor (postmodern: Pre-Order)
Als Musiknerd mit Ox-Abo fühlst du dich natürlich nicht „nur“ dem Punk und Hardcore verbunden, nein, auch Garage, Stoner, Psychedelic, Surf (Stunden später, such dir was aus ...) und Metal ohne Kitsch interessieren dich. Entsprechend lang ist die Liste der Bands, deren Alben du ungehört und ohne zu zögern deiner Sammlung einverleibst. Im Laden „Blindkauf“ genannt, läuft das heutzutage auch gerne unter dem Phänomen „Pre-Order“. Das tustt du a) um das Ding überhaupt zu bekommen (unbekannte Band, kleine Auflage), oder b) eine Variante deines Begehrens (siehe auch: „Dagobert-Duck Syndrom“).
Du bist Fan von BAD RELIGION, THE BRONX oder auch MÜLHEIM ASOZIAL? Kein Problem, alle Jubeljahre ein neues Album, machbar, so oft musst du dich gar nicht ins Ungewisse stürzen. Zudem kann bei BAD RELIGION von „Ungewissheit“ keine Rede sein, aber das ist ein anderes Thema. Richtig lustig wird dein Kaufverhalten also, wenn du gefühlt hundert „Lieblingsbands“ hast, zudem auch noch solche vom Schlage wie BORIS, THOU, BARDO POND, MOTORPSYCHO oder gar AGATHOCLES und PSYCHIC TV. Die Kombination aus schier unerschöpflichem kreativen Output, Nebenprojekten, Live-Alben, herkömmlichen und Split-Singles, Resteverwertungen in Form von Veröffentlichungen alter Demos und einem gewaltigen Backkatolog (je nachdem, wann du als Fan einsteigst) erfordern viel Zeit, Nerven, Penunzen und Platz in der Hütte! Und ... zack!

Das Souvenir-Symptom, oder: „Just One Fix“
Dein:e Partner:in droht mit einer Städtereise. Weil du wegen der monatlichen Umsortierung deiner Sammlung (diesmal von „Alphabet“ auf „Genre“) gerade mal wieder unaufmerksam warst und nur ein „hm“ genuschelt hast, findest du dich plötzlich in einer dir völlig fremden Welt wieder. Zwischen alten Kirchen, Museen und der einheimischen Gastro gibt es nur eine Möglichkeit der Orientierung: den Vinyl Hub von Discogs! Kurz gecheckt: Die Rettung in Form des nächsten Plattenladens ist nur knapp drei Kilometer entfernt! Puh, Glück gehabt! Eine halbe Stunde später betrittst du das „Schwarze Loch“ und verlierst jedes Zeitgefühl (siehe oben). Erst mal orientieren, ah ja, immerhin sind Punk- und Alternative-Rock Abteilung vorhanden (innerlich wird zunächst ein Haken gemacht). Unter „Hardrock“ findet sich nur billiger Quietsch-Metal – geschenkt. Aber die anfängliche Euphorie weicht schnell der Erkenntnis, dass es sich hier leider doch um einen Ramschladen mit zu vielen CDs und mittelmäßigem Vinyl-Sortiment handelt. Aber kommt ein:e starke:r Jäger:in und Sammler:in ohne Beute nach Hause? No Way! Also wird gesucht, bis die Finger bluten und schließlich eine alte AC/DC-Maxi in VG-Qualität zum Mint-Preis mitgenommen, die du sonst so nie freiwillig gekauft hättest. Immerhin noch mit Bon Scott– ja, ja, dir solche Käufe schönreden, das kannst du perfekt. Und ... zack!

Die „Schnapper“-Überraschung
Der Mailorder deines Vertrauens preist den „Schnapper der Woche“ an. „Schnapper“, subkulturell runtergekühlt dem Siebziger-Jahre-Hausfrauenterminus „Schnäppchen“ entlehnt, haha, lustig. Aber: Vinyl für 9,90 Euro!? Geil! Die Band heißt UXO und du erfährst, dass es sich um ein Nebenprojekt von UNSANE-Sänger und -Gitarrist Chris Spencer handelt. UNSANE! Wer geht da nicht steil?! Ruckzuck wird der Warenkorb bestückt und nur zehn Tage später sitzt du mit einem langen Gesicht vor dem Plattenspieler. Dir wird sofort klar, warum a) die Sülze nicht unter dem Namen der Hauptband veröffentlicht wurde und b) du bei dem Preis hättest Verdacht schöpfen sollen. Richtig, wollte kein Mensch haben und ist an dich Deppen verramscht worden. Weiterverkauf zwecklos, bei Discogs wird das Teil quasi verschenkt. Und ... zack!

Das „Just One Song“-Phänomen
Du bist mehr so der:die crustige Vetreter:in des Punk und fandest die UK SUBS immer schon etwas hüftsteif. Allerdings: jede:r hat ein Leben „Before Punk“ gehabt und deine frühe Jugend in den Siebzigern war unter anderem von den ersten QUEEN-Scheiben geprägt. Da entdeckst du beim Stöbern das Album „Subversions II“ eben jener Briten, die dich bislang recht kalt ließen. Ein weiteres Album voller belangloser Coverversionen, die niemand braucht? THE WHO, LED ZEPPELIN, na ja. Doch da entdeckst du „We will rock you“, was zumindest dazu führt, dass du um eine Hörprobe bittest. Natürlich willst du dir nicht entgehen lassen, wie die Punks diesen – wenn auch bei jeder Dorfdisko totgenudelten – Hit verhunzen. Doch dann, der Blitz der Erkenntnis trifft dich langsam, aber heftig: die covern doch glatt die völlig veränderte, eher unbeachtete, aber sehr geile „Fast Version“! Immerhin der Opener des legendären Live-Albums „Killers“, das – ähnlich wie „Sheer Heart Attack“ – in seiner Räudigkeit damals einen Hauch von Punk in den sonst eher opulenten Hardrock der vier „Königinnen“ pumpte. Diese Version findet sich auf keinem regulären Studioalbum und war im Oktober 1977 Teil einer von mehreren BBC-Sessions, bei denen die Band live im Studio performte. Selbstverständlich hast du dir viele Jahre später die Vinylversion dieser Radioaufnahmen besorgt, obwohl die späteren QUEEN für dich natürlich nicht mehr relevant waren. Und jetzt wandert die Kohle für die ganze Platte wegen eines (!) Songs in die Kasse des:der wissend lächelnden Zeremonienmeister:in hinter dem Tresen. Bist du trotzdem in deinem persönlichen Musikhimmel angekommen? Aber so was von! Trotzdem ... zack!

Die Merchandise-Verführung
Du freust dich schon seit Wochen, die SPERMBIRDS endlich mal wieder live zu sehen. Die ersten Biere werden auf dem Weg zum Club gezischt, viele alte Bekannte sind da, die Stimmung ist bestens. Du bist mittlerweile leicht angeschickert, die Vorgruppe läuft entsprechend gut rein. Wie hießen die noch? In der Umbaupause gehst du natürlich zum Merch und deren Gitarrist verkauft Shirts und Vinyl! Kurzer Smalltalk, klar, ihr wart super! Er hält dir die Platte hin: „Nur 15 Tacken, alles DIY!“ Ab jetzt rennst du nicht nur mit dem unhandlichen Ding in der Hand durch den rappelvollen Laden, du kannst auch nicht wirklich ohne Sorge um den neuen Schatz vor die Bühne und bist genervt von deinem Anfängerfehler. Und zu Hause ist die Scheibe dann auch noch ein ewiger Staubfänger, weil DIY in dem Fall leider bedeutet, dass weder Kohle noch Sachverstand vorhanden waren, um die absolut mittelmäßig vorgetragene Mucke auch nur halbwegs auf das Live-Niveau zu heben. Und ... zack!

Die Mint-Connection
Deine Sammlung nimmt beachtliche Ausmaße an und Discogs gaukelt dir vor, dass die Rente gesichert sei. Aber die angegebenen Werte beziehen sich natürlich nur auf Platten und Hüllen, die nicht etwa nur „Very Good“ sind. Mint ist das Zauberwort! Zur Erhaltung der Qualität müssen Schutzhüllen her, am besten die etwas dickeren. Mal von den Kosten ganz abgesehen: Habt ihr schon mal nachgemessen, wie viel Zentimeter zum Beispiel 100 Stück von den Dingern in eurer Vinyl-Schrankwand einnehmen? Also, schon ganz ohne Platten!? So, jetzt rechnen: Anzahl der Platten durch 100 mal X Zentimeter ... dir wird schlagartig klar, warum du keinen Platz mehr im Zimmer hast. Keine einzige Platte gekauft und trotzdem ... zack!

Das TOOL-Universum
Erst wartest du jahrzehntelang auf ein neues TOOL-Album, um dann am Tag der VÖ festzustellen, dass die Jungs nicht nur genial, sondern auch gnadenlos abgezockt sind. Kein Vinyl, dafür die CD zum Horrorpreis jenseits jeglicher Schmerzgrenzen. Der Streaming-Anbieter deines Vertrauens läuft monatelang heiß, weil das Album musikalisch deine Erwartungen immerhin mehr als übertrifft. Dann, endlich, die Ankündigung des Vinyls: eine Box mit fünf (?!) Platten, jeweils nur einseitig (!) bespielt und mit meist nur einem langen Song pro Seite. What the f..k?! Der Preis ist natürlich jenseits ... siehe oben. Und ... zack!

Der Loriot-Effekt
Dein:e Chef:in schickt dich gelegentlich dienstlich ins Ausland, sagen wir mal nach Düsseldorf. Du nutzt das natürlich aus, um dir bislang fremde Plattenläden zu testen. Profi, der:die du bist, scannst du ca. 15 Minuten lang das Sortiment und speicherst im Kopf alle interessanten Titel ab. Da du unerkannt in der Fremde weilst, nimmst du allen Mut zusammen und probst deinen persönlichen „Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein“-Moment. Der:Die Chef:in hinter der Kasse wird mit der peinlichen Frage nach Mengenrabatt konfrontiert. Er:Sie wittert deine Gier, lächelt, und lässt dich voll auflaufen: „Ab 100,- Euro 5%, ab 150,- 10%.“ Und ... zack, zack, zack!

Das Dagobert Duck-Syndrom
Sagen wir mal, REFUSED oder BOY SETS FIRE bringen ein neues Album raus. Dein Lieblingsmailorder hat gute Connections zum Label und offeriert eine auf hundert Stück limitierte, exklusive Version im schicken Grauton. Grau? Egal, die Dollarzeichen in deinen Augen leuchten, als hättest du dir die Nase „gepudert“. Denn eins ist klar: in zwei bis drei Jahren ist das Ding bestimmt das Doppelte wert – ach was, das Dreifache! Natürlich bestellst du noch eine schwarze Version, die willst du ja schließlich hören können, wenn die andere schon gewinnbringend verhökert werden soll. Portokosten noch dazu, das Loch im Portemonnaie wird größer. Doch es kommt noch schlimmer: der kapitalistische Teil deines Charakters hat dich völlig übersehen lassen, dass a) andere Mailorder auch „exklusive“ Versionen in kleinen Auflagen mit deutlich interessanteren Farbgestaltungen angeboten haben (Blood-red Splatter, cool!) und b) alle anderen 99 Käufer dieser „Seltenheit“ den gleichen gierigen Gedanken hatten, aber viel schneller bei Discogs angeboten haben als du. Bis du soweit bist, ist der Preis auf einem Niveau, der deutlich unter deinem Einkaufspreis liegt. Mit Tränen der Verzweiflung in den Augen siehst du nun jahrelang zwei halbwegs wertlose Versionen eines Albums im Regal stehen, die es so nie und nimmer gebraucht hätte. Und ... zack!

Der „Geiz geht steil“-Indikator
Mailorderbestellung: Wir skippen zu dem Punkt, an dem du feststellst, dass noch zusätzliche Portokosten fällig werden. Kurzer Check: Es fehlen 12 Euro bis zur portofreien Lieferung? Also noch eine Platte, das schaffe ich ... und zack!

Das Tetris-Problem
Wir alle können Lücken schwer ertragen, erst recht nicht in unserer Plattensammlung! Sagen wir mal, du bist großer UK SUBS-Fan, alte Schule und so. Natürlich kaufst du über die Jahre neue Studioalben blind und freust dich, dass bei den alten Säcken immer noch Feuer im Hintern brennt. Das ist schließlich nicht selbstverständlich, siehe alte Lieblinge wie G.B.H oder STIFF LITTLE FINGERS. Und dann wird ein Akustikalbum angekündigt – Schnappatmung! Nächtelang wälzt du dich im Schlaf und am Tag der Veröffentlichung materialisiert sich dein Nachtmahr in Form einer schwarzen Vinyl-Scheibe. Die Hörprobe im Plattenladen wird zum inneren Spießrutenlauf, doch klar, da musst du durch! Ja, gar nicht sooo schlecht, mal was anderes, bla bla. Die Selbstbetrug-Phase hat eingesetzt und funktioniert aufgrund jahrelangen Trainings bestens! Denn alles ist erträglicher als das Gefühl der Lücke in der Sammlung. Und überhaupt, vielleicht ist das Album ja ein „Grower“!?