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MARC ALMOND

Stranger Things

Als ich 2001 Marc Almonds elftes Album „Stranger Things“ in diesem Heft besprach, sah mein Mindset offenbar folgendermaßen aus: das ist dieser ehemalige Sänger von dieser Band (SOFT CELL), zu der ich noch nie ein besonders inniges Verhältnis hatte, zumal schwule Künstler (siehe auch Andy Bell von ERASURE) oft zu einer etwas aufdringlichen Theatralik am Rande von schwer zu ertragendem Kitsch neigen. Soweit die Vorurteile, für die auch Comiczeichner Ralf König mitverantwortlich war, der die schwule Subkultur gerade in musikalischer Hinsicht wenig schmeichelhaft darstellte – alle hören nur Marianne Rosenberg und glotzen den ESC. Dabei entging mir damals, dass an „Stranger Things“ maßgeblich der isländische Komponist Jóhann Jóhannsson beteiligt war, den 2018 im Alter von 48 Jahren eine Kokain-Überdosis vermischt mit Grippemedikamenten viel zu früh aus dem Leben riss. Neben einigen sehr schönen Soloplatten (zwei erschienen bei 4AD) veröffentlichte Jóhannsson auch erfolgreich Filmsoundtracks, die er kurz vor seinem Tod vor allem für Denis Villeneuve komponierte. Auch wenn „Stranger Things“ sicherlich nicht zu den besten Soloalben von Almond gehört, ist diese mit dem typischen düsteren Pathos des charakteristischen Sängers versehene Mischung aus Synthpop und experimentelleren Neoklassik-Elementen erstaunlich gut gealtert und gefällt mir deutlich besser als vor gut zwanzig Jahren – ein Höhepunkt ist dabei das vorletzte, herrlich dramatische Stück „Love in a time of science“. Und mit „Born to cry“ empfahl sich Almond als Sänger des nächsten „James Bond“-Titelsongs – eigentlich verwunderlich, dass den Mann nie jemand gefragt hat. Die aktuelle CD-Neuauflage enthält insgesamt drei Discs, die 32 Bonustracks zu bieten haben, eben die übliche Mischung aus Demos, Remixen, Alternativversionen und Live-Aufnahmen, darunter aber wirklich viel gutes Material. Ob „Stranger Things“ diese nachträgliche Veredelung tatsächlich verdient hat, ist sicher Geschmacksache, ich habe die erneute Beschäftigung mit dem Album jedenfalls nicht bereut.