AJZ BAHNDAMM WERMELSKIRCHEN

Foto

Besetzt heißt besetzt

Mitten in der verschlafenen Kleinstadt Wermelskirchen, auf halbem Wege an der A1 zwischen Dortmund und Köln gelegen, steht das AJZ Bahndamm, dessen Ursprünge bis in die späten Sechziger Jahre zurückreichen. Warum betreibt man ein AJZ? Warum gründet man es? Welche Schwierigkeiten gab und gibt es? Warum opfert man seine Zeit für solch ein Projekt? Diese und weitere Fragen stellen wir Frank Kaluscha und Andreas „Jucky“ Jung, zwei der Gründungsmitglieder, dem Exilbriten Alan O’Gallon, Saba und Timo als Vertreter der jüngeren, nicht der jüngsten Generation, sowie Thorsten Wieler, Organisator des NRW Deathfests und früher Mitorganisator der landesweit bekannten „Outbreak of Evil“-Discos.

Frank und Jucky, ihr beide habt 1990 den Trägerverein des AJZ mitgegründet. Wie alt wart ihr da?

Frank: Ich war 22 und Jucky 21.

Und wie alt wart ihr, als ihr angefangen habt, die Lokalität hier zu besuchen?
Frank: Da war ich 16 oder 17 und musste noch mit dem Bus herfahren.
Jucky: Das war 1985, da war ich 16.

Die meisten Leute kennen ja nur das AJZ Bahndamm. Welche Vorgeschichte hat der Laden?
Frank: Hier an diesem Ort ist es 1980 losgegangen. Günter Richter ist damals mit seiner Jugendgruppe in die Räumlichkeiten eingezogen. Diese traf sich zuvor in anderen Jugendzentren. Das letzte vorher war in Kenkhausen, in einem alten Abbruchhaus. Hier im Gebäude hatte man dann ein großes Zentrum, wo auch schon, so ähnlich wie heute, Konzerte stattfanden. Das gesamte Gebäude stand ihnen zur Verfügung, was auch einen riesigen Qualitätsschritt bedeutete. Günter Richter, der als Gründer des Ladens gilt, weil es immer seine Idee gewesen ist, war Sozialarbeiter und hat damals die Konzepte für den Laden geschrieben. Er hat mit einer Jugendgruppe begonnen, die sich beim CVJM getroffen hat, war bei der evangelischen Kirche angestellt, der Diakonie in Lennep, die auch der Träger waren, bis wir das übernommen haben. Er hat immer Räumlichkeiten bekommen und diese gemeinsam mit den Jugendlichen renoviert, ist wieder rausgeworfen worden, da es nur Übergangslösungen waren. Sie waren auch immer eine Drogenberatungsstelle, auch hier im Gebäude, das muss man ganz klar sagen. Man versuchte einen niederschwelligen Bereich anzubieten, den es in der Form noch nicht gab. Wir sprechen hier über die ganz späten Sechziger und die Siebziger Jahre, wo mit Drogen ganz anders umgegangen wurde. Das war ein immens wichtiger Baustein für die Diakonie.

Kann es sein, dass ältere Wermelskirchener das AJZ Bahndamm immer noch als suspekt und verrucht ansehen, weil hier früher auch die Drogenberatungsstelle untergebracht war?
Jucky: Das ist ganz sicher so. Durch den damals relativ progressiven Drogenberatungsansatz von Günter Richter, die Akzeptanz von Drogenkonsum, das war in den Siebzigern ziemlich neu und stieß bei vielen Leuten auch nicht auf Verständnis, auch nicht bei der Stadt und beim Kreis, wo damals Wolfgang Bosbach von der CDU, der zu dieser Zeit dem Kreistag des Rheinisch-Bergischen Kreises angehörte, ein erklärter Feind dieses Ansatzes war, so hatte es Günter uns erzählt. Durch die Drogenberatung hat sich in den Achtzigern aber auch eine Konsum- und leider auch Verkaufsszene breitgemacht. In diesem Umfeld entstand parallel dazu eine Szene aus Hippies, Wavern, Reggaes und auch ein paar Bhagwan-Jüngern. Das hatte noch ein gewisses Siebziger-Flair.

Was hat euch als Jugendliche zu dem Laden hingezogen? Die Drogen?
Frank: Haha, nein. Saufen hat schon Spaß gemacht. Auf jeden Fall die Musik. Die Discos. Man ist hier nicht zu Konzerten gegangen. Montags und freitags gab es eine Disco. Bis 23 Uhr, da war das mit dem ÖPNV auch machbar.
Jucky: Die Musik. Das etwas Verbotene. Saufen gehen. Neugierig sein. Als ich das erste Mal hier war, tanzten ein paar Waver und Psychobillys herum. Das war für mich überwältigend.
Frank: Man hatte ja auch Stress mit einigen, man hatte nicht nur Freunde.
Jucky: Ja, ein wenig Schiss hatte man auch.
Frank: Ich kannte ein paar von den älteren Besuchern aus anderen Kneipen, in die ich damals gegangen bin, das machte es etwas einfacher, haha.

Kanntet ihr zwei euch vorher schon?
Jucky: Ja, aber wir sind unabhängig voneinander hierher gekommen.
Frank: Wir hatten aber eine große Freundesclique, mit der wir herkamen. Wir waren viele.

Wie kam es dazu, dass ihr beide mit anderen dann den Verein gegründet habt, der das AJZ Bahndamm bis heute betreibt?
Frank: Es war nicht so wie heute, wo man ständig hierher geht. Eigentlich gingen wir nur zu den Discos. In der CL, der Carl-Leverkus-Straße, trafen sich die Punker, da hingen wir auch gerne ab, dann gab es dort das Café Distel, wo wir hingingen. Das machte aber früh zu, und so gingen wir immer öfter dorthin, wo noch offen war, und das war eben hier.

Nannte man den Laden damals schon „Bahndamm“?
Jucky: Nein, man nannte es den „Richter“. Die offizielle Bezeichnung war JBZ, also Jugendberatungszentrum.
Frank: Wir sagten alle, wir gehen zum „Richter“.

Aber zurück zur Frage – warum habt ihr den Verein gegründet?
Jucky: Wir gingen eben immer öfter hierher. Zu Konzerten, hauptsächlich zu den Discos. Das machte den Laden interessanter. Wir gingen immer öfter zu den Besuchersitzungen, an denen jeder teilnehmen konnte. Das war total spannend zu erfahren, warum solch ein Laden überhaupt betrieben wurde, warum die anderen Leute aktiv mitmachten. Was sie dazu bewegte, Platten aufzulegen. Das fand ich cool und wollte selber auch etwas machen.
Frank: Entscheidend war aber, dass es zwischen der Diakonie und der Stadt kriselte, unter den Sozialarbeitern herrschte schlechte Stimmung, die Diakonie wollte nicht mehr Träger des Ganzen sein. Und einige der früheren Aktiven hatten sich zurückgezogen, so dass hier ein Vakuum entstand, ein Freiraum.
Jucky: Und den haben wir genutzt. 1987 habe ich Platten aufgelegt, gemeinsam mit einigen älteren Besuchern. Dann wurde das Rockbüro gegründet, wo ich mir angeschaut habe, wie die Konzerte organisierten, und habe auch mal Licht gemacht. Aber als kleiner Stöpsel. Dann gab es die besagte Krise. Der Träger hat sich rausgezogen, die Kattwinkelsche Fabrik wurde als Prestigeobjekt umgebaut und war der Stadt einfach wichtiger. Als sich 1988 oder ’89 die Diakonie endgültig zurückgezogen hatte, sagte man von Seiten der Stadt Wermelskirchen zu, dass sie den Laden übergangsweise weiterbetreiben würden mit zwei Sozialarbeitern, die bereits für die Kattwinkelsche Fabrik eingestellt worden waren, dort aber noch nicht eingesetzt werden konnten. Die haben das hier aber nur mit einem halben Arsch gemacht.
Frank: Die hatten keinen Bock auf uns. Und wir hatten keinen Bock auf die, weil wir den Laden gerne länger offen haben wollten, was es zwischenzeitlich auch gab, ein Uhr nachts hatten wir durchgesetzt, aber die wollten gerne pünktlich Feierabend machen. Die Diakonie hatte noch viel Geld übrig und wir durften das ausgeben, haha. Wir haben davon ohne Ende Platten gekauft, die ruckzuck verschwunden waren. Und wir wollten Konzerte machen, gegen die sich diese Sozialarbeiter total gesträubt haben. Es spielten nur lokale Bands, weil die sich ein Limit von 500 Mark gesetzt hatten – für das gesamte Konzert. Egal, wie hoch der Eintritt war, und egal, wie viele Leute kamen. Voll bescheuert. Wir durften dann eins machen und haben MOLOTOW SODA angerufen, die haben für 500 Mark gespielt, es war rappelvoll und das war cool. Das war das erste Punk-Konzert hier.

Wie wichtig war nun die Gründung des Vereins?
Frank: Da müssen wir ein paar Episoden überspringen. Wir haben uns mit den Sozialarbeitern zerstritten und haben Privatverträge unterschrieben, so genannte Überlassungsverträge.

Also habt ihr den Laden gemietet?
Frank: Nein, zur Verfügung gestellt bekommen. Uns war von vornherein klar, dass das nur eine Notlösung sein konnte, denn keiner wollte privat haftbar sein. Man hatte viel Ärger, auch wegen des Klientels von damals, die vorhin bereits erwähnte Drogenszene. Wir reden hier nicht von Kiffern, sondern Heroin war Kerndroge und wir mussten den Laden erst einmal sauber kriegen.
Jucky: Das waren richtig krasse Auseinandersetzungen, auch körperlich. Mit Dealern, den Leuten, die da mit rumhingen, mit der ganzen Szene. Da kam es zu einigen unschönen Szenen. Teilweise mussten wir die Dealer buchstäblich an den Haaren aus dem Laden ziehen.
Frank: Und die Alteingesessenen auch, die dachten, es sei ihr Laden. Wir waren ja viel jünger als die. Und wir haben von denen auch richtig auf die Fresse bekommen, haha. Das konnten wir uns natürlich nicht gefallen lassen.
Jucky: Wir haben das auch nur geschafft, weil wir relativ viele waren.
Frank: Schon als wir diese Verträge gemacht hatten, wussten wir, dass es so scheiße ist und wir einen Verein gründen mussten, damit die persönliche Haftung wegfällt.
Jucky: Diese Verträge wurden seitens der Stadt nicht mehr verlängert und der Laden sollte schließen mit dem Ziel, die Szene, also uns, in die Sozialarbeit in der Kattwinkelschen Fabrik zu integrieren, worauf wir keinen Bock hatten. Wir wollten Freiräume, wollten selber entscheiden.
Frank: Außerdem hätten wir nur einen kleinen Teil bekommen und kein ganzes Haus wie hier.

Hattet ihr Vorbilder?
Frank: Jein. Wir sind viel auf Konzerte gefahren und haben auch neben MOLOTOW SODA andere organisiert. Da lernt man die Szene kennen. Aus Wuppertal, aus Leverkusen.
Jucky: Wir waren in Köln in der Weißhausstraße. Dort gab es damals ein AZ.
Frank: Die Hafenstraße war das Vorbild, haha.
Jucky: Aber nicht nur.
Frank: Die Ost-Berliner Szene kam erst nach der Wende ’89. Hafenstraße war Standard.
Jucky: Okay, zumindest für die Kölner, aber das war dennoch kein wirkliches Vorbild für uns, denn die waren ja ganz schön martialisch unterwegs. Verbarrikadierte Eingänge, vorsorglich gestapeltes Wurfmaterial in der Nähe des Eingangs und so. Das hätten wir hier in dieser Kleinstadt nicht bringen können. Wollten wir auch nicht.

Was bedeutet für euch das „autonom“ in AJZ?
Jucky: Autonom im Sinne von Selbstverwaltung. Selbermachen. Der DIY-Gedanke. Das konnten wir damals noch nicht so ausdrücken.
Frank: Autonome Zentren waren schon ein Vorbild, weil sie immer schon so strukturiert waren. Ein ganzes Haus haben und dort alles machen können. Das wollten wir. Bei den Sozialarbeitern durften wir die Bands nicht hier übernachten lassen, haben die mit nach Hause genommen. Uns war schnell klar, wenn wir mehr Konzerte machen wollten, dass wir das ändern mussten.

Wo liegt eurer Meinung nach der Unterschied zwischen einem AJZ hier in einer Kleinstadt zu denen in Großstädten?
Jucky: Du musst dich mit mehreren unterschiedlichen Leuten arrangieren. Aus anderen Musikszenen. Wir waren nie ein reiner Punkladen. Wollten wir nie sein.
Frank: Das war auch bei Günter Richter schon so. Da gab es die Hippies, die Rocker.

Also auch Hippies!?
Frank: Haha, heutzutage ja. Und wir kleinen Punker, die Psychos, die Waver. Es gab viele Grüppchen.
Jucky: Und die psychedelischen Leute.
Frank: Das waren doch auch Hippies, nicht mal Rocker, haha.

Ihr habt Wolfgang Bosbach erwähnt. Welche Widerstände gab es und von wem?
Jucky: Widerstand gab es in erster Linie aus der konservativ-bürgerlichen Ecke. Hier setzte man voll auf beaufsichtigte und reglementierte Jugendsozialarbeit.
Frank: Es gab damals wirklich viele Punker, die hier in der Innenstadt und vor allem in der Carl-Leverkus-Straße abgehangen haben, den ganzen Tag. Die Gewerbetreibenden hatten da keinen Bock drauf. Es gab auch Chaostage und Punkertreffen, da war richtig was los. Ständig kam die Polizei. Und solange wir im Bahndamm nur wenig machen konnten, trafen sich die Punker auch in der Stadt. Die CDU der Helmut Kohl-Ära war naturgemäß dagegen. Wir waren aber hartnäckig, haben den Laden besetzt und dadurch Druck gemacht.

Was heißt besetzt?
Jucky: Besetzt heißt besetzt. Wir haben den Bahndamm eben wieder aufgemacht, nachdem die Diakonie raus war und die Stadt den Laden monatelang hat leerstehen lassen. Das war das letzte Mal vor Corona, dass hier so lange keine Bands gespielt haben, haha.

Hat sich in der Art und Weise, wie Bands gebucht werden, etwas geändert?
Frank: Puh, schwere Frage. Es gibt nur gefühlt mehr Bands als früher, da ja auch weniger Leute in der Szene aktiv sind. Vor allem gibt es nicht mehr gute Bands. Die Bands sind durch das Internet jetzt besser präsent, deutschland- und weltweit. Daher wird man auch so überschwemmt. Früher wurde einem auf einem Konzert eine Kassette in die Hand gedrückt und daher hat man auch viel mehr lokalere Bands gemacht.

Ich meine eher die Nachwuchsbands. Bands, die gerade anfangen und die eigentlich keiner sehen will, weil sie noch scheiße sind.
Frank: Das haben wir immer gemacht. Obwohl, du hast recht, es gibt weniger Bands heute. Früher konnten wir Nachwuchsbands aus der Gegend buchen und der Laden war voll. Jetzt fällt mir keine neue Band ein.
Timo: Wenn man mal woanders war und die Leute wussten, dass man mit dem Bahndamm zu tun hat, sprachen sie einen an.
Frank: Wenn ich heute Bands buche, dann mache ich das so wie früher. Klar, man macht etwas per Mail, damit man etwas Schriftliches hat, aber ich will mit denen telefonieren. Geht einfach schneller. Verträge konntest du früher wie heute machen, kannst du aber genauso gut sein lassen. Klar, die großen Agenturen ticken da anders, aber grundsätzlich gibt es keinen großen Unterschied.

Frank, Jucky, ihr seid jetzt beide über fünfzig. Hat sich eure Beziehung zum AJZ in den letzten Jahren geändert, seit Familie und Kinder dazugekommen sind?
Frank: Ja, schon. Selbstsüchtig gesehen ist es der Freizeittreffpunkt, wo du in Ruhe hingehen kannst. Aber klar, man macht nicht mehr so viel wie früher. Aber Saufen macht immer noch Spaß.

Es ist euch also nicht schwergefallen, die Verantwortung in jüngere Hände zu legen?
Jucky: Das Ganze hat ja von Anfang an mit der Übernahme von Verantwortung zu tun gehabt. Nicht nur für dich selber, sondern gemeinsam mit den anderen. Solidarität. Gemeinsam eine Alternative zum Mainstream zu haben und aufzubauen. Das hat immer eine Rolle gespielt, schon unter Günter Richter, und das ist auch heute noch so.
Frank: Auch wenn das Antikommerzielle weniger geworden ist und sich der Kommerz auch in unserer Szene breitgemacht hat, das muss man klar sagen. Man ist vielleicht mehr Leuchtturm, weil viele ähnliche Läden weggefallen sind oder viel kommerzieller arbeiten als früher, aber die Idee besteht immer noch. Wir haben nur gedacht, dass wir viel mehr andere erreichen und diese Idee durchsetzen können. Früher zumindest.

Welche Beitrag leistet das AJZ inzwischen wirtschaftlich für Wermelskirchen?
Thorsten: Wenn das NRW Deathfest stattfindet, sind alle Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen ausgebucht. Die Besucher kommen hierher, kaufen zwei Tage lang ein, besuchen die Restaurants, wo sie auch schon bekannt sind, weil sie jedes Jahr kommen.
Jucky: Und genau das spielt eine enorm wichtige Rolle für die Akzeptanz des AJZ in der Stadt, wobei wir das alles ganz klar nicht machen, um ein positiver Wirtschaftsfaktor zu sein. Das ist ein angenehmer Nebeneffekt für die Stadt.
Frank: Dadurch betreiben wir indirekt Imagepflege für die Stadt, weil sie dadurch weltweit bekannt wird.

Wenn es bei der Stadt hin und wieder um die Zukunft des AJZ geht, spielt das dann eine Rolle?
Jucky: Der wirtschaftliche Aspekt nicht, aber die Institution und das Image, das entstanden ist, das sind die wichtigen Faktoren. 2004 war das wichtig, als der Laden auf der Kippe stand.
Frank: Wir haben auch ein paar Mal unsere Macht demonstriert, auch wenn uns das erst im Nachhinein klar wurde.

Wie meinst du das?
Frank: Zuerst haben wir den Laden besetzt und uns damit durchgesetzt. Und auch danach hat man uns Steine in den Weg gelegt, aber wir haben dennoch alles so gemacht, wie wir es wollten. Ein Beispiel, wenn wir gesagt haben, wir wollen das Haus rot anstreichen, hat man uns gesagt, dass wir nur weiße Farbe bezahlt bekommen. Da haben wir einfach selber rote Farbe gekauft. Das letzte Mal wirklich wichtig war das 2004, als hier nebenan ein Supermarkt gebaut werden sollte. Da erschienen zur öffentlichen Ratssitzung 400 Leute aus unserem Umfeld. Das war imposant und hat es in der Form noch nie gegeben.

Was wäre das Problem mit dem Supermarkt gewesen?
Frank: Der hätte in unserem Biergarten gestanden.
Jucky: Der Bierkeller wäre weg gewesen und der Veranstaltungsraum vermutlich auch.

Welche Bedeutung hatte und hat die Antifa für das AJZ?
Jucky: Nazistress hatten wir schon recht früh, so ab 1990.
Frank: Neben dem Stress mit den Rockerassis.
Thorsten: Welche Rocker waren das denn früher?
Frank: Na, die Kirmesassis. Die haben uns verprügelt, haha.
Jucky: Die Nazis hier aus dem Dorf wurden verstärkt durch zugezogene Nazis aus dem Osten, die richtig krass unterwegs waren.
Frank: Aus Wurzen bei Dresden. Sächsische Schweiz. Markus Müller. Der ist NPD-Funktionär gewesen. Den Namen kannst du ruhig nennen. Hobbyboxer. Das war echt ein sportlicher Typ.
Jucky: Genau. Der hatte noch zwei Kumpane mitgebracht und sie haben sich hier in der Stadt ganz offensiv gezeigt. Das ging allen von uns auf den Sack, so dass wir uns überlegt haben, was wir dagegen unternehmen können. Da gab es nicht nur Aufkleberabknibbeleien, sondern richtig auf die Fresse.
Frank: Das war nicht nur hier so, sondern auch in den umliegenden Orten. Radevormwald war naziverseucht, in Wuppertal gab es Stadtteilprobleme.
Jucky: Die haben uns unterstützt. Die waren nicht so auf uns angewiesen wie wir auf sie.
Frank: Da gab es viele Auseinandersetzungen und man hat dabei viele Leute kennen gelernt. Und wir haben uns politisiert. Die Wuppertaler haben auch ein AZ, auch wenn das kein Vorbild war, aber wir sind immer zu Konzerten hingefahren. Die Säule im Raum war scheiße, haha.
Jucky: Die hatten einen eigenen Laden mit einer eigenen Antifa. Das fanden wir gut und versuchten, das auf unser Städtchen zu übertragen. Mit den Nazis sind wir recht offensiv in die Auseinandersetzung gegangen und haben uns mit denen geprügelt.
Frank: Und die mit uns.
Jucky: Wir haben die durch die Stadt gejagt. Für uns gab es aber auch ein paar Mal auf die Fresse und so ging das hin und her, bis wir uns schließlich durchgesetzt haben und der Typ wieder in den Osten gezogen ist.

Wie geht ihr damit um, wenn ein Besucher zum Beispiel ein BÖHSE ONKELZ-Tattoo hat? In der Metal-Szene gibt es ja auch eine Tendenz nach rechts. NSBM und so.
Thorsten: Bei den Konzerten ist das eher selten, aber bei den „Outbreak of Evil“-Discos, die wir früher gemacht haben, tauchten Anfang der 2000er doch einige sportliche Leute auf. Aus dem Osten. Berlin. Teilweise haben die auf der Tanzfläche dann den rechten Arm gehoben. Die haben wir dann rausgekickt.
Frank: Da haben wir verstärkt Kasse gemacht und waren mit viel mehr Leuten im Laden als üblich.
Thorsten: Von dieser NSBM-Band ABSURD war mal einer hier, der hatte sich groß angekündigt, da haben wir Präsenz gezeigt. Den hat keiner erkannt und er war gefühlt nur fünf Minuten im Laden, weil er gemerkt hat, dass es nicht seine Bühne ist, und dann ist er schnell wieder abgehauen.

Wie lange dauert es, so etwas durchzusetzen?
Thorsten: Das war ein Prozess von einem Jahr. Diese NSBM-Szene wurde zu Beginn der 2000er recht stark, in Oberhausen war ein Zentrum, und diese Leute kamen leider auch hierher. Denen haben wir es sehr unbequem gemacht. Einer hat wie gesagt mal den rechten Arm gezückt, den haben wir morgens um drei Uhr bis vors Tor geprügelt. Das spricht sich herum und dann bleiben solche Gestalten auch wieder fern. Beim NRW Deathfest haben wir ein anderes Publikum, aber klar, wir können niemandem in den Kopf schauen.
Jucky: Das sind auch verschiedene Eskalationsstufen. Wenn jemand ein Onkelz-Shirt trägt, kriegt der nicht direkt eine aufs Maul, der wird eher rausgelabert und es wird ihm auf diese Weise unbequem gemacht. Bei diesen ABSURD-Leuten oder wenn einer den Hitlergruß zeigt, ist das anders. Einmal wurden wir von Nazis angegriffen, das war wirklich krass.
Frank: Die waren wie auf Koks, so mit reintreten, wenn einer am Boden liegt. Das war unglaublich. Wir waren mit siebzig, achtzig Leuten im Laden und die waren vielleicht zu zehnt und konnten einstecken ohne Ende.

Alan, du machst seit einigen Jahren die Bar. Wie gehst du damit um, wenn du merkst, dass verdächtige Gestalten im Laden sind?
Alan: Ich behalte sie im Auge und gebe den anderen Bescheid. Wenn sich der Verdacht bestätigt, fliegen sie raus. Ohne Diskussion.

Wann warst du das erste Mal hier?
Alan: Das war 2005. Jemand von hier war 2004 auf dem Punx Picnic in Bristol und hat meine Band eingeladen. Zwei Bandmitglieder, Nick und John, die früher bei DISORDER spielten, waren aber schon früher hier. Als wir ankamen, war unser Bus kaputt und wir eine Woche zu früh. Keiner von uns sprach Deutsch. Was tun? Der Biergarten war offen, wir gingen rein, stellten uns vor. „Hallo, wir sollen hier spielen ... nächste Woche. Können wir vielleicht ...?!“ Uns wurde sofort eine Kiste Bier hingestellt und wir fühlten uns gleich willkommen. Der Promoter tauchte dann auf, zeigte uns einen der Schlafräume und die Küche, und meinte nur, dass wir alles sauber halten sollten. Das war es. Wir blieben eine Woche, spielten die Show und dann die restliche Tour.

Was hat dich dazu bewogen, von Bristol nach Wermelskirchen umzuziehen?
Alan: Ich lag in Bristol im Krankenhaus und machte mir Gedanken über mein Leben. In der Zeitung las ich eine Anzeige. Bristol-Düsseldorf – 34 Pfund. Ich dachte nur, scheiße, das ist günstig. Dann rief mich Sandra aus Wermelskirchen an und fragte mich nach meinem Befinden. Wir vereinbarten, dass ich sie besuchen würde, sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen werde. Das ist 14 Jahre her und wir sind lange verheiratet.

Und seitdem steckst du hier fest?
Alan: Hast du schon mal versucht, ohne Auto aus Wermelskirchen wegzukommen?

Und wie bist du wieder zum AJZ gekommen?
Alan: Ich war bereits ein Jahr hier und bin als Gast zu Konzerten gegangen. Dann habe ich 2010 mit ein paar jüngeren Leuten eine Band gegründet, THE.AFTERMATH, und bin seitdem regelmäßiger hier gewesen. Ich wollte schon vorher gerne mitmachen, wusste aber nicht wie. In England haben wir solche Orte wie das AJZ Bahndamm nicht. Wenn du dort auftreten willst, musst du im Hinterzimmer eines Pubs spielen. Kein Essen, kein Bier, keine Gage. Ich bin mit verschiedenen Bands durch Deutschland getourt und habe kennen gelernt, mit welchem Respekt man Musikern hier begegnet. Wenn du in ein anderes Land ziehst, dauert es natürlich eine Weile, bis du dich zurechtfindest. Nachdem das hinter mir lag, verbrachte ich immer mehr Zeit hier im Laden.

Du bist mit deinen früheren Bands ja weltweit getourt. Hast du da vergleichbare Klubs gesehen?
Alan: Nicht genau so, aber in der Schweiz gibt es viele Orte wie diesen, die nach einem ähnlichen Prinzip organisiert sind, mit einer Bar, wo man sich um dich kümmert, wo du Essen und einen Schlafplatz bekommst. Auch in Italien und eigentlich in ganz Europa – außer in England. Vielleicht liegt es daran, dass du in Europa von der Stadt unterstützt wirst, wenn du einen Laden wie diesen betreiben willst. Oder man lässt dich zumindest in Ruhe. In England musst du, wenn du ein Konzert organisieren willst, einen Van mieten, eine PA, hast keinen Zugang zu einer Küche oder zu Übernachtungsmöglichkeiten. Du hast von vornherein keine Chance. Die Punk-Szene in England war so kompliziert und seit ich 21 war, wollte ich dort weg. Als ich dann 2007 keine Wohnung und keinen Job mehr hatte, auch mein Hund war gerade gestorben, bin ich gegangen.

Wirst du vermehrt von englischen Bands kontaktiert, die gerne hier auftreten möchten?
Alan: Oh ja. Ich habe immer wieder britische Bands gebucht und alle wollen wieder hier auftreten. Und Freunde und Bekannte dieser Bands kontaktieren mich auch. Die Gastfreundschaft und die Gegebenheiten sprechen sich schnell herum.

Saba, Timo, ihr beide seid gerade geboren worden, als das AJZ Bahndamm gegründet wurde. Wie habt ihr als Kinder den Laden wahrgenommen?
Saba: Wir sind mit ein paar Leuten zum Busbahnhof gegangen, wo zu der Zeit die Skaterhalle stand, und haben uns dort herumgetrieben. Was man mit 13, 14 eben so macht. Den Bahndamm habe ich nur vom Vorbeigehen gekannt. Die rote Farbe war markant. Die Eltern erzählten nur vom schlimmen Drogenladen, wo man auf keinen Fall hingehen durfte. Das machte das Fleckchen Erde natürlich umso interessanter. Mit 15 bin ich dann das erste Mal in den Bahndamm rein, um mir ein Konzert anzuschauen von einer Band, die ich schon etwas länger toll fand. Da war es um mich geschehen. Der Bahndamm mit seinen Leuten und seinem Charme hat mich quasi verschlungen und ich bin geblieben.
Timo: Ich kannte den Laden von Videokassetten meines Cousins, der in einer Band gespielt hat, auch hier, und das wurde auf Familienfeiern gezeigt. Das fand ich cool. Auch, dass es Bands aus Wermelskirchen gab, was ich da noch nicht wusste. Mein Vater ist dann mit mir zu diesem SKIN OF TEARS-Konzert gegangen. Berührungsängste wie bei vielen anderen gab es in meiner Familie zum Glück nicht. Verrucht war es schon, aber verboten nicht.

Und wann seid ihr von Gästen zu Aktiven geworden?
Timo: Über das Kinder- und Jugendparlament, mit denen ich hier eine Party organisiert habe. Da war ich 16.
Jucky: Ich muss kurz einhaken, denn was Timo eben erwähnt hat, ist wichtig. Wir haben hier Proberäume, in denen viele Bands proben, womit wir auch einen großen Beitrag zur Wermelskirchener Musikkultur leisten.
Frank: Und wir haben den Bands auch Druck gemacht, indem sie ein Pflichtkonzert pro Jahr spielen mussten.
Timo: Jedenfalls hat Alans Frau uns irgendwann angesprochen, dass er gerne eine Band gründen wollte, und so haben wir unseren ersten Proberaum bezogen, waren stolz. Durch die Band haben wir dann immer mehr Konzerte veranstaltet.
Saba: Bei mir war es anders, da ich keine Musik mache. Als ich 16 war, sprach mich ein Mädel an, das heute nicht mehr aktiv ist, und fragte, ob ich bei einem Konzert mit kochen würde. Da habe ich mich das erste Mal engagiert und auch einen guten Einblick bekommen, weil man bei solch einer Gelegenheit alles mitbekommt, was wichtig ist, was abläuft. Da hatte ich Blut geleckt, ging zu den Sitzungen, lernte weitere Leute von hier kennen. Die vorhin erwähnte Punkerszene in der Carl-Leverkus-Straße war zu diesem Zeitpunkt bereits stark geschrumpft, aber auch da lernte man Besucher und Aktive kennen. Ich habe den Laden einfach lieben gelernt, auch wenn ich mich habe durchkämpfen müssen. Leute, die schon ewig dabei waren, haben uns belächelt, aber machen lassen. Viele andere haben uns aber mit offenen Armen empfangen. Jucky und Frank haben uns dann gefragt, ob wir nicht Juckys Platz im Jugendhilfeausschuss der Stadt übernehmen wollten. Das war jetzt zwar kein Ritterschlag, aber man fühlte sich ernst genommen. Da entstand dann so eine Art Familiengefühl, weil man merkte, dass da doch die gleichen Denkansätze vorhanden waren.

Aber am Anfang war die Geschlechterrolle klar verteilt – du kochst, er macht Musik.
Saba: Haha, hört sich tatsächlich so an.
Timo: Anfänglich haben wir theoretische Leseveranstaltungen gemacht und haben „Das Kapital“ gelesen und Erich Fromm.
Thorsten: Oh Gott.
Timo: Von zehn Leuten sind auch schnell nur vier übrig geblieben.
Saba: Aber wir haben es durchgezogen.
Timo: Und wir haben Theke und Kasse gemacht, alles, wo man gebraucht wurde. Und mit dem DIY-Gedanken im Kopf, den wir hier gelernt haben, sind wir mit offenen Augen an anderen Orten gewesen und haben das, was uns dort gefallen hat, versucht hierher zu bringen. Mittwochs war hier richtiger Punkertreff, jeder hatte gefühlt eine Ratte auf der Schulter und die Leute kamen aus dem Umkreis hierher.

Wie viele Leute sind heute noch wirklich aktiv?
Timo: Der harte Kern sind dreißig Leute, denke ich.
Frank: Nein, das sind mehr. Nicht alle sind regelmäßig da, aber wenn größere Veranstaltungen und Festivals anstehen, machen schon sehr viele mit. Und viele bringen sich auch hinter den Kulissen ein.

Wie wichtig ist es für den Laden, dass es so viele gibt, die sich freiwillig engagieren?
Jucky: Wären es nicht so viele, könnte der Laden in der Form, wie es ihn heute gibt, nicht existieren.
Timo: Neben den Veranstaltern gibt es viele Leute, die handwerklich helfen, teils nach dem normalen Job, die einfach dafür sorgen, dass alles funktioniert, dass Dinge zeitnah repariert werden. Dann gibt es die ganz jungen Leute, die von der Skaterrampe nebenan in den Laden kommen und anfangen, sich einzubringen.
Frank: Wenn du solch einen Laden betreiben willst, brauchst du nicht nur Leute in der Masse, du brauchst vernünftige Leute, die etwas können, die verlässlich sind und auch Ahnung haben.
Jucky: Du brauchst vernünftige Soundleute, die ihr Handwerk verstehen. Das Thekenpersonal muss Kopfrechnen können, kann leider nicht jeder, haha. Die Booker müssen wissen, was sie tun.
Alan: Jeden Tag sind nicht so viele Leute hier. Viele müssen eben arbeiten, haben Familie, haben Kinder, einen Alltag. Aber wenn du sie brauchst, kommen sie.

Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus? Gibt es den?
Alan: Es wird wieder besser. In letzter Zeit kommen einige junge Leute zur Kneipe, die ich noch nie gesehen habe. Sie schnuppern in den Laden rein und bringen beim nächsten mal andere mit. Erst mal natürlich als Besucher, aber wer weiß, so haben wir alle angefangen.
Saba: Passiven Nachwuchs, also reine Besucher gibt es eine Menge. In den letzten Jahren gab es viele Discos von unterschiedlichen Veranstaltern, die ziehen einfach junges Publikum an. Von denen bringen sich aber die wenigsten später aktiv ein.

War das früher anders?
Jucky: Das Problem mit dem Nachwuchs gab es immer schon.
Frank: Es gibt Nachwuchs, aber die sind erst so kurz dabei, dass sie hier zum Interview noch nicht eingeladen wurden. Mal sehen, wie lange die überhaupt durchhalten.
Timo: Zu früher hat sich geändert, dass der Nachwuchs gerne Aufgaben übernimmt, aber eigene Ideen, der DIY-Gedanke, der Drang, selber etwas auf die Beine stellen zu wollen und zu organisieren, das fehlt oft.
Frank: Aber das ist doch normal, so habt ihr doch auch angefangen.
Alan: Ich erlebe es ab und zu, dass junge Leute gerne mal die Theke machen wollen, weil sie es cool finden. Nach ein paar Wochen schmeißen sie hin, weil sie sich nicht bewusst waren, was alles dazugehört. Die Vorarbeit mit Bierkästen schleppen und die Nacharbeit mit abrechnen, aufräumen und sauber machen.
Saba: Aber die jungen Leute sehen im Alltag keine Subkultur mehr. Als ich 15 war, sah man überall in der Stadt noch Punks mit Iros oder andere einzelne klassische Subkulturen. Heute ist alles nur noch eine breite Masse.
Jucky: Ich beobachte das bei meiner Tochter. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, also links, doch sie bringt sich mit ihrer Kreativität und Eigeninitiative hier nicht richtig ein, verbringt aber dennoch gerne Zeit hier im Laden.
Saba: Vielleicht schrecken wir sie aber auch ab, weil wir schon so lange dabei sind, unsere eigene Sprache sprechen und vieles so läuft, wie es läuft.
Jucky: Laut meiner Tochter ist es aber auch die Dominanz der Alteingesessenen, die abschreckt. Ohne dass wir das wollen, schrecken wir potenziellen Nachwuchs ab. Wir machen den Laden vielleicht interessant, hindern sie aber zugleich eigeninitiativ zu werden.
Saba: Das Grundprinzip von DIY haben manche nicht verstanden oder einfach nie kennen gelernt. Wenn du Lust dazu hast, tu es. Sei kreativ und verwirkliche deine Ideen. In der heutigen schnelllebigen Konsumgesellschaft schwindet dieser Gedanke und gerät in Vergessenheit.
Frank: Das ist aber eine gesellschaftliche Frage und liegt an der Durchkommerzialisierung von allem. Wir wollten bei der Gründung des AJZ ein antikommerzielles Verhalten fördern. Das heutige Freizeitverhalten war nicht unser Plan.
Timo: Wir haben vor 15 Jahren hier einen Freiraum vorgefunden, den wir nutzen konnten und genutzt haben. Aber du kannst niemanden dazu zwingen.
Alan: Es ist auch ein Generationsproblem. Wenn irgendetwas zu tun ist, wissen wir alle hier im Raum intuitiv, was wir machen müssen. Die jungen Leute haben diesen Blick nicht mehr, sie denken nicht vorausschauend.
Frank: Es gibt diese Leute aber schon, nur werden es weniger. Die Szene schrumpft auch.

Warum steht das AJZ Bahndamm in der Corona-Krise besser da als so manch anderer Szeneort?
Frank: Ehrenamt. Keiner verdient hier Geld. Wir haben keine hohen Fixkosten und haben in der Vergangenheit gut gewirtschaftet und können eine Weile entspannt überleben.

Um den Bogen zu schlagen, was würde Günter Richter sagen, wenn er miterleben könnte, wie es hier heute läuft?
Frank: Der DIY-Gedanke war der rote Faden in seinem pädagogischen Konzept, weniger das Autonome. Eigeninitiative, selber gestalten, um sich besser mit dem Laden identifizieren zu können. Das haben wir von der Pike auf gelernt und diese coolen Strukturen gab es schon, als wir Mitte der Achtziger hierher fanden, aber das war eine ganz andere Zeit. Es gab die Jugendzentrumsbewegung, die waren alle so drauf. Das ist tatsächlich ein Relikt der ’68er.

---

Timeline
1968 Günter Richter beginnt im evangelischen Vereinshaus mit sozialer Gruppenarbeit für delinquente Jugendliche, denen der Heimaufenthalt droht.

1972 Umzug ins Café Hausmann. Das Zentrum wird von Jugendlichen nahezu selbständig organisiert.

1973 Abriss des Café Hausmann durch einen neuen Besitzer. Behelfsmäßig trifft man sich im Haus der Jugend und im Audimax am örtlichen Gymnasium.

1975 Neues Provisorium in einem alten Fachwerkhaus in Kenkhausen, das zuvor von der Kloakenabfuhr und als Notunterkunft genutzt wurde. Jugendliche renovieren es selbst.

1980 Die bisherige Arbeit Günter Richters wird im Dezember 1980 durch eine großangelegte polizeiliche Razzia bei der die Beamten nichts finden, einigen Festnahmen von Jugendlichen im Stadtgebiet, folgender negativer Berichterstattung in der Presse und Ausschlachtung durch politische Gegner der Jugendarbeit und des Zentrums, schwer beschädigt.

1981 Umzug in die stillgelegte Schraubenfabrik Dresler, ein dem Abbruch geweihtes Fabrikgebäude am heutigen Standort. Im Mai 1981 öffnet das Jugendbegegnungszentrum (JBZ) Bahndamm erstmals die Pforten.

1982 Ein Zwist zwischen dem Diakonischen Werk als Träger und der Stadt/dem Kreis über die Bezahlung der Sozialarbeiter führt Ende 1982 fast zum frühen Aus des Projekts.

1983 Eine Lokalzeitung wählt das JBZ Bahndamm zum Veranstaltungsort des Jahres.

1984 Das JBZ öffnet nur nachmittags, da die Drogenszene härter wird und viele Jugendliche und junge Erwachsene von weichen Drogen auf Heroin umsteigen.

1985 Einbrecher stehlen die komplette Musikanlage. Discos und Konzerte fallen aus.

1986 Die Jugendlichen renovieren fast ein Jahr lang das schwer abgenutzte Gebäude. Gegen Ende des Jahres können erstmals aktive Besucher Konzerte organisieren.

1988 Die Stadt Wermelskirchen kündigt den Vertrag mit dem Diakonischen Werk zum Ende 1989. Engagierte Musiker/Besucher gründen das Rockbüro. Eine junge Punk-Szene drängt in den Freiraum.

1989 Die Arbeit Günter Richters findet wegen der Kündigung ein Ende. Mit MOLOTOW SODA spielt im Oktober erstmals eine Punkband im JBZ vor 300 Besuchern.

1990 Wegen wachsender Nazi-Aktivitäten gründet sich die Antifa, am 8. Dezember die Jugendinitiative Wermelskirchen e.V.

1991 Nazis greifen im Januar den Bahndamm an – ohne Erfolg! Mit der Eintragung des Vereins ins Vereinsregister am 16. April wird das AJZ Bahndamm aus der Taufe gehoben.

1992 Szenegrößen wie THE DICKIES, GREEN DAY, GORILLA BISCUITS oder NOFX geben sich mit zig weiteren Bands die Klinke des AJZ Bahndamms in die Hand. Umbaumaßnahmen geben dem Klub sein heutiges Gesicht.

1994 Vertreter des AJZ kommen in den Jugendhilfeausschuss. Der Laden kann erstmals komplett genutzt werden, da im Obergeschoss keine Obdachlosen mehr untergebracht werden. Der Biergarten wird gebaut.

1995 Eine Umgehungsstraße wird so geplant, dass der Bahndamm weichen müsste. Glücklicherweise kommt es anders.

1997 Die ersten „Solinger Heartcoretage“ finden in Wermelskirchen statt. Eine ordentliche Lüftungsanlage wird eingebaut.

1998 Die „Outbreak of Evil“-Metaldisco zieht Metalheads aus ganz Deutschland an.

2003 Das erste NRW Deathfest findet statt. Das Dach wird aus Eigenmitteln repariert, das Wäldchen gerodet.

2004 Erneut droht das Aus. Ein Supermarkt soll gebaut werden und Teile des Bahndamm-Geländes werden „verplant“. Proteste zeigen Wirkung, alles bleibt erhalten. Die Mittwochskneipe findet das erste Mal statt.

2006 In Eigenarbeit wird das Außengelände zum brauchbaren Parkplatz.

2007 Bei einem Festumzug der Stadt Wermelskirchen ist der Bahndamm mit einem Sattelschlepper inklusive Punkbands vertreten.

2008 Zum zehnjährigen Bestehen der „Outbreak of Evil“-Disco spielen SODOM im Klub.

2009-2018 Der Betrieb läuft reibungslos mit unzähligen internationalen Künstlern und den verschiedensten Veranstaltungsreihen.

2019 Ein Besucher verletzt sich bei einem tragischen Fenstersturz tödlich.

2020 Das Festival zum dreißigjährigen Jubiläum wird wegen der Corona-Pandemie auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben.