AMENRA

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Postmoderne Nomaden

Die belgische Band ist eine musikalische Macht, ihre Kompositionen sind doomig, episch, monumental, riffgewaltig – es passte, dass AMENRA mit ihrem letzten Album „Mass VI“ von 2017 noch auf dem NEUROSIS-Hauslabel Neurot ansässig waren. Mit dem neuen Album „De Doorn“ sind sie nun zu Relapse gewechselt. Colin H. van Eeckhout beantwortete meine Fragen.

Colin, du hattest schon immer Songtitel und Texte in verschiedenen Sprachen, wie Englisch, Niederländisch, Deutsch, Französisch – wie kommt das?

Manchmal verfehlt ein bestimmter Satz oder sogar ein Begriff seinen Sinn in einer Sprache und in einer anderen trifft es perfekt auf den Punkt. Eine Gedichtzeile im Französischen zum Beispiel kann dich bis ins Innerste berühren, doch die Übersetzung fühlt sich einfach nur trivial an. Manche Dinge lassen sich besser in einer bestimmten Sprache sagen. Manche Dinge bleiben besser ungesagt, manche Dinge lassen sich nur durch ein Gefühl vermitteln. Sprache ist vielschichtig, facettenreich, es werden Bilder erzeugt, Emotionen sind irgendwo zwischen zwei Zeilen versteckt. Es gibt kein Ende, und es ist schön, darin einzutauchen. Es ist der Ton, mit dem ich arbeiten muss. Der tote Buchstabe und der lebendige Klang. Mit dem Texten in verschiedenen Sprachen begann ich, weil ich das Gefühl hatte, dass ich die Essenz dessen, worüber wir schreiben, nicht in einer einzigen Sprache eingefangen werden kann. Es ist universell, es gehört zu uns allen. Deshalb mag ich es, verschiedene Sprachen zu verwenden. Vermutlich hat es auch damit zu tun, dass wir in Belgien leben. Wir haben drei offizielle Sprachen in unserem kleinen Land. Ganz zu schweigen von all den verschiedenen Fremdsprachen, die hier gesprochen werden. Die Muttersprache berührt einen tiefer als alles andere auf der Welt. Es ist die instinktive Waffe des Ausdrucks. Ein Ausländer in einem anderen Land wird in extremen emotionalen Situationen auf seine Muttersprache umschalten. Da ist es, worum es bei uns geht.

Dieses Mal ist der Albumtitel „De Doorn“ auf Holländisch wie auch alle Songs. Warum?
„De Doorn“ ist holländisch respektive flämisch, ja. Das ist es, was ich täglich spreche, das ist es, wie wir klingen. In den über zwei Jahrzehnten unseres Bestehens habe ich kaum noch auf meine Muttersprache zurückgegriffen. Aber jetzt hatte ich den Eindruck, dass die Zeit reif ist. Und es fühlt sich für mich an wie eine Offenbarung. Ich weiß nicht, warum es uns immer zu anderen Sprachen zieht, wenn es um das Texten geht. Vielleicht hat man Angst, dass man sich zu sehr entblößen könnte. Oder man befürchtet, in einer primär angelsächsisch geprägten Musikwelt nicht ernst genommen zu werden. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass unsere eigene Sprache immer uncool vorkam. Lächerlich sogar. Jetzt, mit vierzig, bin ich anderer Meinung. Bei AMENRA war uns immer wichtig, dass alles, was wir machen, wahrhaftig und echt sein soll. Und unmittelbar aus dem Herzen kommt ... Und dann hat es mich plötzlich wie ein Blitz getroffen. All die Jahre habe ich das verleugnet, was mir am nächsten war, meine eigene Muttersprache. Ich kann tiefer gehen, als ich es jemals konnte, Dinge verbergen, niedermachen und überhöhen, verdrehen und umkehren, meine eigenen Worte, meine eigene Welt erfinden, besser als ich es jemals zuvor vermochte. Wir sind Belgier, Flamen. Und das ist es, was du auf dieser Platte hören kannst. Ich erzähle dir unsere Geschichte, so wie sie ist. So authentisch wie möglich.

Eure Musik wird oft als „atmosphärisch“ bezeichnet. Ist das ein Begriff, mit dem du leben kannst?
Ja, ich kann jede Beschreibung von außen annehmen. Ich meine, es ist einfach das, was irgendjemand denkt. Und was auch immer diese Person empfindet, so ist es für sie oder ihn. Das ist seine oder ihre Wahrheit. Es gibt gibt nicht die eine Definition, die das, was wir tun, abschließend beschreibt. Wir wissen immer noch nicht, was wir tun. Da kommt die Post-dies- oder Post-das-Terminologie zum Tragen. Das emotionale Spektrum unserer Musik ist extrem breit. Von minimalen, akustischen Parts mit klarem Gesang bis hin zu Passagen mit extrem hoher Lautstärke, mit heftigen Gitarren und Drums und Angstschreien. Von verletzlich und gebrochen bis zu schierer Kraft, machtvoll und unbesiegbar.

Mit welchen Gefühlen, denkst du, kann man eure Musik assoziieren?
Ich glaube, wir arbeiten mit einem uralten Gefühl, der „saudade“ oder „duende“, wie es die Portugiesen nennen. „Hireath“ für die Waliser. „Sehnsucht“ für dich. Ich glaube, dass wir nicht die Ersten sind, die sich mit dem gleichen „Sentiment“ beschäftigen. Menschen haben immer versucht, zu bestimmen, was es genau ausmacht. Das wird auch nie enden. Das macht es zu einer extrem intuitiven Angelegenheit, einer Art von Musik, die extrem schwer zu erklären ist. AMENRA sind etwas, das man live erleben muss. Nur so ist das Ganze instinktiv zu erfassen. Ob Anhänger des Genres oder nicht, wenn du dich einmal für das geöffnet hast, was wir in Musik übersetzen wollen, wirst du verstehen und respektieren, was wir tun, oder es zumindest versuchen.

Habt ihr eine bestimmte Stimmung, ein Szenario, eine Atmosphäre im Kopf, wenn ihr eure Musik komponiert? Wenn eine Band einen klassischen RAMONES-artigen Punksong schreibt, ist der Deal ziemlich einfach. In eurem Fall ist es deutlich komplexer, denke ich.
Es muss etwas tief in dir bewegen, wenn du so willst. Und dafür gibt es leider kein Lehrbuch. Es geht darum, sich selbst ständig zu hinterfragen, deinen Platz oder deine Funktion hier auf der Erde. Es geht darum, so tief wie möglich in sich zu graben. Sich zu öffnen. Erlaube dir die Selbst-Demontage. Lasse immer wieder Verletzungen zu, um daran zu wachsen und stärker und weiser zu werden. Entweder es zwingt dich in die Knie oder treibt dir Tränen in die Augen. Jagt dir einen Schauer über den Rücken oder lässt den Raum erbeben. Auch hier lässt sich die gewisse „Stimmung“, das „Szenario“ oder die „Atmosphäre“ nicht wirklich beschreiben. Es bleibt undurchdringlich. Es in Worte fassen zu wollen, kann dem nicht gerecht werden.

Vor 13 Jahren sagtest du in einem Ox-Interview über eure Band: „Das ist unsere Kirche. Wir haben unser eigenes Glaubenssystem geschaffen, wenn man so will.“ Und: „Es geht darum, ein ‚gutes Leben‘ zu führen, ein ‚guter Mensch‘ zu sein.“ Kannst du dich heute noch mit diesen Aussagen identifizieren und erklären, was sie im Bandkontext bedeuten?
Sehr sogar, sogar mehr als damals. Da ich 13 Jahre älter und hoffentlich weiser bin, würde ich hinzufügen „zumindest versuchen, ein ‚guter Mensch‘ zu sein“. Offensichtlich war ich an diesem Tag ein wenig übermütig. Ich denke immer noch, dass es extrem wichtig ist, jede Sekunde des Tages zu versuchen, das Beste aus sich herauszuholen. Es ist wichtig, zu versuchen, das zu tun, was getan werden muss, alles richtig zu machen. Sei dankbar für die Menschen um dich herum, die es gut meinen, die gutmütig sind. Sie sind es, die wir brauchen. Manchmal irren wir in unserem Urteil und manchmal verändern sich Leute, das ist nur menschlich. Aber die sind meistens schnell verschwunden. Und alles ist gut. Wir möchten demütig und dankbar sein. Dankbar für alles, was wir haben, und was wir gemeinsam erreicht haben, vor allem als Freunde. Wir arbeiten hart und versuchen, unsere Gemeinde nach besten Kräften aufzubauen. Eine Gruppe von Brüdern, eine Kirche, eine Loge. Es ist egal, wie man es nennt. Die Leute werden es wissen, wenn sie uns begegnen.

Nach mehr als einem Jahr ohne Konzerte, was vermisst ihr am meisten an der Performance, dem Live-Erlebnis – und was hat das mit euch als Individuen gemacht?
Es hat uns das alles noch mehr schätzen gelehrt. Ich glaube, die Menschheit war jahrzehntelang ziemlich verwöhnt. Wir haben vieles für selbstverständlich gehalten, die Freiheit zum Beispiel. Die Krise hat uns unseren Familien näher gebracht. Die zusätzliche Zeit, die wir jetzt mit ihnen verbringen durften, kann man uns nicht mehr nehmen. Ich glaube, dass diese Momente sehr kostbar sind, und später wird es vor allem das sein, woran ich mich erinnere. Ich bin glücklich. Als Band haben wir endlich die „Pause“ gemacht, von der wir seit Jahren gesprochen haben. Wir hatten nie den Mut, die Stopptaste zu drücken. Da wir in Belgien leben, so zentral in Europa, war es so einfach für uns, jedes Wochenende loszuziehen, in andere Länder zu reisen für Konzerte, und das jahrelang nonstop. Wir denken nicht in Albumzyklen, wir haben einfach immer gleich weitergemacht. Und ich denke, das wird uns hinterher noch enger zusammenschweißen. Wir haben etwas Zeit geschenkt bekommen, um uns auf Dinge zu konzentrieren, für die wir uns nicht unbedingt von selbst Zeit nehmen. Am meisten vermisse ich es derzeit, mit der Band und der Crew unterwegs zu sein, das Abenteuer, mit ihnen Neues zu entdecken. Freunde zu treffen, die wir im Laufe der Jahre in verschiedenen Ländern gewonnen haben. Wir waren daran gewöhnt, sie alle mindestens einmal im Jahr irgendwo in aller Welt zu besuchen. Und auch die anderen tourenden Bands, die man auf Festivals und so trifft, wir sind alle wie eine kleine umherreisende Familie. Postmoderne Nomaden. Was die Shows selbst angeht, so seltsam es auch erscheinen mag, die vermisse ich persönlich nicht. Sie verlangen mir einfach zu viel ab, körperlich und geistig. Ich werde sie nie genießen können. Was ich vermisse, ist das Gefühl, das ich habe, wenn ein Auftritt hinter mir liegt. Erledigt. Das fehlt mir wirklich. Ich weiß aber, dass einige der Bandmitglieder das vermissen, sehr sogar.

Mit eurem neuen Album habt ihr bei Relapse unterschrieben.Was verbindet dich als Musikfan und euch als Band mit diesem Label?
Relapse ist eines der wenigen großen Extreme-Metal-Labels, das zukunftsorientiert ist. Da trägt man keine Scheuklappen, für sie gibt es in der Musiklandschaft noch viel zu entdecken, sie sind stilistisch breit aufgestellt, das reicht von Noise über skandinavische Folk- bis hin zu Death- und Grind-Metal-Bands, und alles dazwischen. Es ist bemerkenswert, wie viele Bands sie gesignt haben, als diese noch als „zu progressiv“ oder „komisch“ galten, jetzt sind das bekannte Namen, die für sich beanspruchen können, eine neue Art von Heavy Music erfunden zu haben. Jeder in der Band kann dir eine Reihe von Relapse-Veröffentlichungen nennen, die viel zu seiner individuellen Entwicklung als Musiker oder sogar als Mensch beigetragen haben. Es ist einfach eine unglaubliche Ehre, jetzt ein Teil dieses Labels zu sein. Es ist das, wovon wir als Teenager geträumt haben, was kann ich mehr sagen. Dazu kommt die Tatsache, dass wir ohne Ende Musiker kennen, die uns ständig vorschwärmen, wie cool Relapse ist. Es ist einfach großartig, ein so kompetentes Team an unserer Seite zu haben. Ich habe unendlichen Respekt vor ihnen, sie brauchen Nerven aus Stahl, um mit mir zu arbeiten. Ich bin die größte Nervensäge, die es gibt! Enrique, Steve, Pip, Drew, Jay, Frank, Rennie – danke für alles.