AMITY AFFLICTION

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Stolz und Vorurteil

Es ist ein Abend im August, als das Telefon klingelt. Am anderen Ende ist ein gut gelaunter Ahren Stringer (Gesang, Bass), er ist mit der Vans Warped Tour gerade in New York. Die Konzerte laufen prächtig. Ahren ist aber auch etwas nervös. „Misery“ steht in den Startlöchern, das sechste THE AMITY AFFLICTION-Studioalbum. Wir plaudern über die neue Platte, Aufregung und Stolz.

Wird „Misery“ die nächste Nummer eins? „Ich hoffe es!“, sagt Ahren. „Alles unter Nummer eins wäre eine Verschlechterung für uns.“ Die Messlatte haben sie sich selber so hoch gelegt. In ihrer Heimat Australien kletterten schon die letzten drei Veröffentlichungen an die Spitze der Charts. Wie fühlt man sich so kurz vor dem Release? „Sehr eingeschüchtert, demütig und unfassbar aufgeregt“, versichert Ahren trotz 15 Jahren Banderfahrung. Woran das liegt? „Misery“ ist anders als seine Vorgänger, keine Chance, die Reaktionen der Leute vorherzusagen. Das schürt die Aufregung.

Der neue Sound
„Misery“ klingt abwechslungsreich, mit vielen elektronischen Eighties-Elementen und überwiegend cleanem Gesang. Es ist das gängige Vorurteil: Wird eine Band größer und erfolgreicher, orientiert sie sich an vermeintlich massenkompatiblen Motiven. Mehr Pop, mehr Melodie. Doch THE AMITY AFFLICTION beschwören: „Wir wollten unbedingt Neues ausprobieren und uns damit herausfordern, so viele für uns unbekannte Komponenten wie möglich zu integrieren.“ Frontmann Joel Birch hat Shouting und Screaming deutlich reduziert. „Er wollte sowieso schon immer mal singen – und das hat er auf Anhieb so gut gemacht, dass wir ohne Weiteres ins Studio gehen konnten.“

Manchmal muss man raustreten aus seiner Komfortzone, um seinen Horizont zu erweitern, die Grenzen neu abzustecken und einen Schritt nach vorne zu gehen. Dennoch hat man da keine Angst vor den Kommentaren der Fans, die beklagen könnten, „ihre“ Band von früher nicht mehr zu erkennen? „Oh ja!“, Ahren kennt diese Reaktionen aus der Szene. „Es wird diese Stimmen sicherlich geben, aber wir versuchen, uns davon nicht beeindrucken zu lassen. Am Ende des Tages möchten wir selber auf uns stolz sein können. Weg von dem altbekannten Zeug! Dafür mussten wir ein paar Risiken eingehen. Etwas Neues auszuprobieren war notwendig, um als Band weiter wachsen zu können.“

Und persönlich?
Hand in Hand mit musikalischem Fortschritt geht auch die persönliche Entwicklung. Mit dem Älterwerden gewinnen Disziplin und Ehrgeiz an Bedeutung. Sich bis zum gesetzten Ziel pushen zu können, ist eine wichtige Eigenschaft, um im schnelllebigen Musikgeschäft nicht auf der Strecke zu bleiben. Mit erhobenem Haupt eigene Präferenzen durchzusetzen und nicht zu sehr auf andere hören, ist ebenso wichtig. „Endlich hatten wir den Mut zu schreiben, was wir selber gerne hören würden, nicht was andere von uns erwarten.“
Das impliziert auch, dass das nächste Album wieder in eine ganz andere Richtung gehen könnte. THE AMITY AFFLICTION sind noch nicht am Ziel, sondern befinden sich in einem andauernden Prozess, stellen sich immer neuen Challenges. „Sonst kann man gleich aufhören, Musik zu machen“, ist Ahren überzeugt. „Das macht es ja auch spannend für die Hörer, sie wissen nie, was als Nächstes kommt.“

Einzige Konstante: die Lyrics
„Die Texte werden immer ernst und düster bleiben. Aber sie in einem neuen Gewand zu inszenieren, macht es für alle interessanter.“ Das Kernthema Depression schaffte in der Vergangenheit eine enge Verbindung zwischen Band und Fans, so soll es auch bleiben. Alle Texte stammen aus Joels Feder – und aus tiefstem Herzen. „Er hat eine Möglichkeit gefunden, seine Gefühle nicht nur auszudrücken, sondern mit ihnen umzugehen, sich selber zu helfen. Umso cooler, dass die Lyrics auch bei anderen Positives bewirken“, bestätigt Ahren. „Ich selbst habe nichts mit den Inhalten zu tun, aber ich sehe es als meine Aufgabe, ihnen mit der Musik, die ich schreibe, die bestmögliche Plattform zu bieten.“

Die beste Musik entsteht aus negativen Gefühlen heraus – ist das so? „Bei den Texten in jedem Fall! Man ist emotionaler, kann sich intensiver ausdrücken.“ Bei der Musik ist Ahren skeptischer: „Traurige Texte funktionieren auch in einem fröhlichen musikalischen Gewand. Das macht es manchmal interessanter.“

Nach Ton kommt Bild
Dunkle Zeiten im Leben enthüllen wahre Emotionen. Momente, die intensiv berühren. Aus einer solchen Situation heraus entstand Joels Idee zu einer Video­reihe, die drei Songs des neuen Albums begleiten soll. Den Anfang machte das Musikvideo zu „Ivy (Doomsday)“. Auch hier war der Wunsch nach Erneuerung die größte Motivation. „Ein Film erweitert das Erlebnis, das ein Hörer mit unserer Musik hat. Düstere Vorbilder wie das australische Filmdrama ,Chopper‘ bildeten die Inspirationsgrundlage.“

Und dann ging es los: Drei Videos. Drei Tage. Ohne fixes Skript, dafür mit umso mehr Improvisation und Spaß machten Ahren, Joel und Daniel Brown (Gitarre) eine völlig neue Erfahrung. Echtheit und Authentizität – die Keywords der Produktion. „Ich glaube, hätten wir einen genaues Drehbuch gehabt, dann hätten wir uns nicht so gut geschlagen. Wir sind stolz auf uns. Toll, dass wir diese Chance bekommen haben.“

Der Produzent
Zurück zur Musik: Produzent von „Misery“ ist Matt Squire. Ursprünglich in der Hardcore-Szene verwurzelt, arbeitete er aber schon mit PANIC! AT THE DISCO oder Ariana Grande. Ahren schwärmt: „Eine großartige Zusammenarbeit! Mit seinem Background hat Matt sofort verstanden, was wir uns vorstellen.“ Lange hatte Will Putney diesen Posten inne, durchaus mit Erfolg. „Doch wir wollten ja etwas Neues ausprobieren und dazu gehörte auch ein neuer Produzent.“

Fragt man Ahren nach seinem persönlichen Lieblingssong, muss er nicht lange überlegen. „Feels like I’m dying“. „Dieses Stück ist so anders als alles zuvor. Wir hatten die beste Zeit mit Matt im Studio. Aber jeder Song soll für sich stehen. Die Platte birgt Momente, auf die du nicht vorbereitet bist, die du nicht kommen siehst.“ Und das ist definitiv gelungen.