BERLIN 2.0

Foto© by Natasa Sipka

Abgrenzung zum Sehnsuchtsort

An brisanten Themen mangelt es Punkbands aktuell ganz sicher nicht, scheinen wir doch von einer Krise in die nächste zu stolpern. BERLIN 2.0 eskalieren ihre Gedanken dazu wütend und tiefsinnig, über ein Genre namens Death Pop, nahe am dunkelschwarz gefärbten Post-Punk. Wir sprachen mit Gitarrist Matze und Sängerin/Texterin Ele über das Debütalbum „Scherbenhügel“, mit dem die Band aus Stuttgart sogar den Soundcheck-Sieg in der vorherigen Ausgabe des Ox geholt hat.

Was verbindet ihr mit Berlin?

Ele: Berlin als Sehnsuchtsort, wo man eine Zeitlang wohnen kann und dann wieder zurückkommt oder sich als reicher Schwabe eine Wohnung kauft und einen Stadtteil gentrifiziert, und dann wieder zurückkommt und das Geld für sich arbeiten lässt, haha. Berlin war schon immer für alle von uns so ein Ding, als Abgrenzung oder Distinktion. Irgendwann wurde es dann Leipzig, als Berlin den coolen Kids zu blöd wurde.
Matze: Das ist auch international gesehen ein Bezugspunkt, in den man vieles projiziert.

Was soll man sich unter Death Pop vorstellen?
Ele: Eigentlich sind wir eine Rockband, aber das sagt einem ja erst mal nicht viel, man braucht immer eine Genrebezeichnung und irgendwie kamen wir auf Death Pop. Es gibt auf „Scherbenhügel“ sehr viel Poppiges und ich habe sogar schon gehört, dass es schlagermäßig sei, weil man gut mitsingen kann. Selbst das wehre ich nicht ab, aber natürlich ist es erst mal gitarrenbasiert. Death Pop bringt gut rüber, dass viel Zerbrechliches und auch viel Schönes in unserer Musik steckt, aber eben auch viel Brachiales und Zerstörerisches. Diesen Widerspruch fanden wir interessant.

Euer erstes Album heißt „Scherbenhügel“, es bezieht sich auf einen Trümmerberg aus dem Zweiten Weltkrieg. Ist das eine Metapher auf die Art, wie wir als Gesellschaft leben?
Ele: Mir ist aufgefallen, dass jede größere, deutsche Stadt so einen Scherbenhügel hat. Da wurden die Trümmer aus dem Krieg aufgetürmt, das ist also nichts Genuines aus Stuttgart und das fand ich interessant. Es steht sinnbildlich dafür, dass sich alles von Generation zu Generation wiederholt, wenn man die Strukturen nicht aufbricht. Ohne die Nazikiste aufmachen zu wollen, aber gerade Nationalismus und Entnazifierung sind Dinge, die jahrelang schlummern und bei denen immer wieder nur aufgeschüttet und niemals aufgeräumt wurde. Also steht Scherbenhügel in vielerlei Hinsicht für aufgeschüttete Problematiken, die sich transgenerativ reproduzieren, immer und immer wieder.

Positiv gedeutet: Je höher der Hügel ist, umso weiter kann man sehen und Neues entdecken?
Matze: Ja, so kann man es natürlich auch sehen. Historisch betrachtet kann man ja auch nur ausgehend vom Scherbenhügel etwas Neues starten, das alleine entwirft es zwar noch nicht und es ist letztendlich noch offen, aber der Hügel ist der Ausgangspunkt und es geht eigentlich nur von da aus los.
Ele: Nur vom Hügel aus kann man in eine Zukunft blicken, die nicht von gestern ist. Das Grundgefühl ist schon negativ, aber man kommt nur weiter, wenn man oben steht.

Aufgenommen habt ihr mit dem Produzenten Ferdinand Führer, der über sein Studio kommuniziert, dass es „tief unter der Erde im Stuttgarter Süden“ gelegen ist. Klingt gruselig.
Matze: Haha, es liegt tatsächlich eine Etage tief unter der Erde, hier im Stuttgarter Süden, in einem Raum in einer Tiefgarage. Da hat er eine zweite Ebene reingezogen, oben ist so was wie ein Studio und unten kann man Zeugs aufnehmen. Dann wurde noch eine Toilette in die Ecke gezimmert, es gibt kein Fenster und somit kein Tageslicht, man verliert sich da ein bisschen.

War das der Stimmung bei den Aufnahmen zuträglich?
Ele: Schon. Und wenn wir da drin gestorben wären, wäre es noch geiler gewesen, haha.

Wie entstehen eure Songs?
Ele: Matze oder Hannes haben meistens ein Riff und ausgehend davon entsteht ein Song, der Text wird am Ende darüber gegossen. Ich mache H.P. Baxxter-mäßige Assoziationen dazu, damit ich beim Jammen irgendwas singen kann. Einfach um Wörter zu verbalisieren, aber es geht mir eher um die Melodie. Die Stimme ist für mich schon wie ein fünftes Instrument. Wenn dann ein gutes Demo da ist, setze ich mich hin, gieße mir eine Weißweinschorle ein und schreibe Ideen auf ein weißes Blatt. Meisten lasse ich mich von der Musik in die dunkelsten Ecken meines Gehirns treiben und schaue, was dabei herauskommt. Oft habe ich keine Kontrolle darüber.

Fuchst du dich inhaltlich rein, um einem Song wie beispielsweise „Kairos“ mehr Substanz zu geben? Kairos ist ja nicht der Plural von Kairo.
Ele: Also ich suche jetzt nicht online nach einem intellektuell klingenden Wort, das meinen Song schlauer erscheinen lässt, haha. Nee, das weiß ich dann schon vorher, so was kann man auch nicht zurückrecherchieren. Kairos ist eine mythologische Figur mit rasiertem Schädel, der nur eine Stelle mit einer langen Locke hat. Sie steht für den richtigen Moment, um die Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Wenn du davon singst, dass die Gelegenheit günstig ist und Deutschland aber am Scheißgestern festhält, ist der richtige Moment dann vorbei oder kommt er noch?
Ele: Man wünscht sich, dass sich Dinge ändern, und jede politische Scheißzeit setzt ja auch unheimlich viel Energie auf der anderen Seite frei. Es ist nicht geil, dass die AfD mit fast 20% am Start ist, aber auf der anderen Seite werden Energien auf der antifaschistischen Seite freigesetzt. Wenn nicht jetzt, wann dann? Aber es ist eigentlich für beide Seiten günstig, es gibt Spaltungen in der Linken, die sich anbieten, da Keile reinzuhauen und Leute von rechts abzuholen. Also ist es auch für die Rechten eine günstige Ausgangslage, um Unsicherheiten, Frustrationen, Inflation und multiple Kriege für sich zu nutzen.

„Deine Freiheit, mein Problem“ definiert ganz deutlich klare Grenzen, wenn Bekannte und Freunde sich seltsam orientieren.
Ele: Als der Querdenkerscheiß in Stuttgart losging, da waren wir mit der Band bei einer der ersten Demos, um zu kucken. Nicht aus Sensationsgeilheit, sondern um präsent zu sein, wobei die das ja nicht sehen, warum wir da sind. Uns war das Ausmaß aber gar nicht bewusst. Da standen Tausende Väter, Mütter, Nazis, Esos und wirklich alles gemischt, und in den folgenden zwei Jahren hat es sich im eigenen Umfeld abgezeichnet, dass Familienangehörige und Freunde auf Verschwörungsscheiß und rechte Propaganda abgeschmiert sind. Bei vielen hat sich das zugespitzt. Da mussten manche in den letzten zwei Jahren härtere Grenzen ziehen, weil man den Scheiß nicht mehr hören konnte.
Matze: Bei mir war das ähnlich, zwar im entfernten Umfeld, aber dann auch krasse Sachen. Die haben einem ohne Maske ein Gespräch aufgedrängt, von Diktatur erzählt und davon, dass sie den Job kündigen und in den Widerstand gehen, aber eben trotzdem Hartz IV beziehen, haha.
Ele: Mir war auch das Schmerzhafte wichtig. Wenn man jemanden lange kennt, dann ist das ja kein geiles Gefühl, sich zu trennen, sondern ein krasser Schritt. Wie Liebeskummer, nur für immer. Es gibt mittlerweile Sozialeinrichtungen, die sich an Angehörige von Schwurblern wenden, wenn die jemanden zum Reden brauchen, weil es eben auch schambehaftet ist. Ich setze aktuell nicht so viel Hoffnung in die Menschheit, da sich ja Krise an Krise reiht. Die gleichen Leute, die bei Telegram über Masken und Impfungen geschwurbelt haben, sind dann über Klima zu den Ukraine-Verschwörungen gesprungen. Man wird mit der Scheiße-Bazooka beschossen und kommt ja gar nicht mehr damit hinterher, Dinge zu debunken. Vielleicht kriegt man irgendwann eine psychologische Elefantenhaut und dann ist es einem egal. Aber ich will auch in keiner Welt leben, in der es normal ist, dass Menschen an Grenzen erschossen werden oder Leute sich homophob oder transphob äußern. Ich habe keinen Bock darauf, dass mich das nicht mehr triggert.
Matze: Was sich verändert hat, ist, dass sich alle selbst für die erste Person zu halten scheinen. Vielleicht liegt das auch an der Vereinzelung und diesem neoliberalen System. Es gibt eine Studie aus der Persönlichkeits- und Einstellungsforschung, die besagt, dass 32,3% der Bevölkerung ausgesagt haben, dass sie ihrem eigenen Gefühl mehr vertrauen als sogenannten Experten. Was sagt man, wenn jemand meint, er sei noch nie an der EU-Außengrenze gewesen und wüsste also nicht sicher, was da passiert? Warst du da?