CHAOSTAGE

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Versuch eines Rückblicks - Teil 1: Die Achtziger Jahre

Und auf einmal sind sie wieder in aller Munde, die Chaostage! Nachdem dieses Jahr zu Chaostagen in Sylt aufgerufen wurde, daraufhin mit dem 9-Euro-Ticket schon im Juni die ersten Punks dort auftauchten und so laut taz das Image der Insel mit ihrer Anwesenheit sogar aufwerten, ist es an der Zeit, einen Blick auf diese alte „Punk-Tradition“ zu werfen. Mit Chaostagen waren in den Achtzigern und Neunzigern noch eindeutig Punktreffen gemeint – zunächst nur in Hannover, dann auch in jeder anderen Stadt. In der Medienlandschaft ist der Begriff mittlerweile ein Synonym für Unordnung und Ähnliches geworden. Wie sonst ist es zu erklären, dass es auch „Chaostage bei der CDU“ gibt?

Ende der Siebziger Jahre hatte das Punkvirus die gesamte BRD erfasst. Punks tauchten nun immer häufiger im Stadtbild auf, als öffentliche Treffpunkte waren, neben Clubs wie dem Ratinger Hof in Düsseldorf, gerade auch die Innenstädte beliebt. Versuche, die unliebsamen Gestalten aus den Citys und somit aus dem Auge der Öffentlichkeit zu verdrängen, gab es schon früh, Platzverweise oder gleich Innenstadtverbote führten nur bedingt zum Erfolg. Punk wurde als Bedrohung empfunden – so sahen es auf jeden Fall auch die Cops. In mehreren Städten wurden von der Polizei „Punker-Karteien“ eingeführt und direkt beim Staatsschutz angesiedelt.

1980-82 – Punktreffen in Duisburg und Wuppertal
Die ersten überregionalen Punktreffen gab es im Ruhrgebiet. Initiiert vom Herausgeber des Ungewollt-Fanzines Willi Wucher trafen sich ab 1980 in der Duisburger City jeden Monat regelmäßig teilweise mehrere hundert Punks. Einen guten Eindruck von diesen Treffen, aber auch von den Reaktionen von Passant:innen und Cops vermittelt die WDR-Dokumentation „No Future – Kein Bock auf Illusionen“ aus dem Jahr 1981, die zur besten Sendezeit über die Fernsehgeräte flimmerte und Punk so in die bundesdeutschen Wohnzimmer brachte. In Wuppertal, wo die Stadtverwaltung zu verhindern versuchte, dass sich Punks am Brunnen in Elberfeld trafen, gab es ab Januar 1982 monatliche Punktreffen, bei denen es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Punks und Cops kam.

1982 – Punk-Kartei in Hannover und erster Chaostag
In Hannover ließ der damalige Polizeipräsidenten Gottfried Walzer wie in anderen Städten auch eine sogenannte „Punker-Kartei“ einrichten. In der Verfügung vom 28. Februar 1982 hieß es: „Um einen Überblick über die Punk-Szene in Hannover zu gewinnen, haben sämtliche Dienststellen alle Erkenntnisse über sog. Punks unverzüglich der zentralen Nachrichten- und Auswertungsstelle der K7 mitzuteilen.“ Das war zwar rechtswidrig, trotzdem wurde die Kartei, die beim Staatsschutz geführt wurde, mit der Begründung angelegt, dass „Punks oft bei Demonstrationen auffielen und gegen das Versammlungsgesetz verstießen“. Erst im November 1982 wurde die Kartei öffentlich, nachdem ein Polizeibeamter (!) anonym eine Kopie der Verfügung an die taz schickte und die alternative Tageszeitung darüber berichtete. Anders als in anderen Städten reichten sogar drei Punks Klage gegen die Kartei ein. Und dann kam durch Karl Nagel, der gerade von Wuppertal nach Hannover gezogen war, die Idee zu einem Punktreffen mit dem Ziel, die Kartei durch möglichst viele Einträge zu sprengen. Dafür wurde eine Demo durch die Hannoveraner Innenstadt angemeldet. Der erste Chaostag wurde im Vorfeld nicht nur durch Flugblätter, sondern auch während der Tour der DEAD KENNEDYS massiv beworben. Zum Treffen am 18.12.1982 in der Hannoveraner Innenstadt kamen circa 800 Punks. Die Demonstration wurde noch in der City von den Bullen zerschlagen. Die Punks verteilten sich über die gesamte Innenstadt, Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Am Steintor kam es zu einer heftigen Straßenschlacht, wobei die Steine einer Baustelle als willkommene Wurfgeschosse genutzt wurden. Danach zogen die Punks in die Nordstadt, wo in der UJZ Kornstraße an dem Abend ein Punk-Konzert stattfand. Die Hannoveraner Punkband BOSKPOPS setzte den Ereignissen mit ihrem Song „Punk Kartei“ auf ihrer ersten LP „Sol 12“, die 1983 erschien, ein musikalisches „Denkmal“.

1983 – „Punks und Skins united“ scheitert
Für dieses Jahr wurde für den 2. Juli zu einem Treffen in Hannover aufgerufen, außerdem sollten die Chaostage dazu dienen, Punks und Skins zu vereinen. Diesmal kamen circa 1.500 Punks nach Hannover. Freitagabend spielten auf einem Konzert im UJZ Kornstraße unter anderem DAILY TERROR. Nachdem Naziskins aus Berlin und Hamburg mit „Sieg Heil!“-Rufen provozierten, kam es vor der Korn zu einer Straßenschlacht zwischen Punks und antifaschistischen Skins auf der der einen Seite und Naziglatzen auf der anderen Seite. Auch am Samstag gab es in der City heftige Auseinandersetzungen zwischen Punks und Naziglatzen, als diese den Hitlergruß zeigend über den Kröpcke liefen. Die Naziglatzen flüchteten sich zu den anderen Skins. Die Cops trennten beide Lager. Die Punks zogen sich zunächst zum UJZ Glocksee zurück, um dann in einer großen Demo Richtung City zu laufen. Die Glatzen waren zu dieser Zeit schon in Polizeigewahrsam, da sie versucht hatten, auf das Schützenfest zu gelangen.

Die APPD
Nach dem Chaostag 1983 wurde die schon 1981 gegründete Anarchistische Pogo Partei Deutschland, kurz APPD, unter anderem von Karl Nagel reaktiviert. Es hatte schon vorher Demonstrationen der APPD unter dem Motto „Freiheit für den Osterhasen“ gegeben. Am 18. Februar 1984 fand der erste ordentliche Parteitag der APPD in Hannover statt und es wurde ein offizielles Parteiprogramm verabschiedet. Die Idee fand auch in anderen Städten Anklang, es wurden zahlreiche Sektionen gegründete, etwa in Bonn und in München. Doch Forderungen wie „Für ein Deutschland in den Grenzen von 1237“, nach einem „Recht auf Arbeitslosigkeit“ oder „Ficken für den Frieden“ zogen vor allem Punks an, die diese Parolen auch wirklich ernst nahmen, wie Karl Nagel im Rückblick in der ZAP-Sonderausgabe „Streetpunk“ 1994 frustriert anmerkte.

1984 – Punks gegen Naziglatzen und Bullen
Dieses Mal wurde für den 4. August zum größten „Punktreff in Europa“ aufgerufen. Es kamen circa 2.000 Punks, auch aus anderen Ländern wie Belgien, Dänemark, England, Finnland, Frankreich, Holland, Italien, der Schweiz. Allgegenwärtig waren auch die Cops, die bereits den ganzen Tag über versuchten, mit Repressionen, Provokationen und Leibesvisitationen die Punks von der Teilnahme abzuhalten. Es wurden „Waffen“ wie Nietengürtel oder Lederjacken beschlagnahmt und willkürliche Verhaftungen vorgenommen. Aber auch die Nazis hatten mobilisiert. Ein Flugblatt mit dem Titel „Skins erwachet“ forderte „Skinheads und Kameraden“ dazu auf, „die Punkerschweine in Hannover weder (zu) tolerieren noch (zu) ignorieren. Wir werden sie zerschlagen und verjagen“. Aber allen Polizeischikanen zum Trotz setzte sich eine vom Antifaschistischen Bündnis angemeldete Demonstration von der City aus in Richtung UJZ Glocksee, einem selbst verwalteten Jugendzentrum, in Bewegung, wo abends ein Konzert stattfinden sollte. Auf der Demonstrationsroute, besonders am Aegidientorplatz kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Punks und circa 150 bis 200 Nazi-Skinheads. Daraufhin wurde der ganze Demonstrationszug wieder zum Opernplatz geleitet und dort eingekesselt. Um die Situation nicht eskalieren zu lassen, sollten die Punks auf schnellstem Weg zur Glocksee geschleust werden. Schließlich wurden die Punks am Abend von den Bullen in das JUZ Glocksee geprügelt und Tränengas in den Innenhof geschossen. In der entstehenden Panik wurde das Cafe Glocksee demoliert und alles zum Barrikadenbau verwendet, was gerade zur Hand war. Die Cops riegelten die Glocksee ab und kesselte so die Punks über Nacht ein – ohne Wasser, Essen und Toiletten. Gut 800 Punks waren davon betroffen, die trotz des Konzerts im Innenhof, unter anderem mit BOSKOPS und HANSA-KNACKER, die Glocksee im Laufe der Nacht komplett zerlegten.

Reaktionen
Während die Langenfelder Punkband WUT ihren Zorn über das Verhalten der Cops in ihrem Song „Hannover ’84“ zum Ausdruck brachten, zieht Ox-Kollege Helge Schreiber in seinem Buch „Network of Friends“ rückblickend ein bitteres Fazit: „Die Enttäuschung über das völlig aus den Fugen geratene Treffen war in der Punk-Szene riesengroß. Vielen dämmerte, dass dies wohl für lange Zeit die letzten Chaostage waren. In den folgenden Monaten und Jahren wandten sich viele Punks u.a. wegen dieser Vorkommnisse von der Szene ab und bildeten stattdessen den Kern der neu aufkommenden Hardcore-Szene.“

Die späten Achtziger
Doch, hey, war es wirklich so? Was war mit denen, die nicht dabei waren, weil sie zu jung waren, nicht in Hannover lebten, von den Chaostagen dort nur aus dem Radio erfuhren oder am nächsten Montag aus der Bild-Zeitung? Wir wollten auch! Und so gab es in den Folgejahren immer wieder und gefühlt überall Chaostage. Die anderen hatten es ja vorgemacht: Flugblatt machen, kopieren, verteilen und sehen, was passiert. 1989 kam es vom 4. bis 6. August zu dem Versuch, die Chaostage in Hannover wieder aufleben zu lassen. Dieses Mal verlagerte sich das Geschehen allerdings vollständig aus der City in die Nordstadt, einem Stadtteil, in dem sich neben der Universität auch viele alternative Wohnprojekte und Zentren befanden. Obwohl die besetzten Häuser auf dem Sprengelgelände in der Schaufelderstraße geschlossen waren, trieben die Bullen die Punks immer wieder von der Lutherkirche auf das Sprengelgelände. Der Versuch, den Penny-Markt gegenüber zu plündern, scheiterte. Dennoch wurden bei den Auseinandersetzungen mit den Cops insgesamt 121 Menschen festgenommen.