Dafür / dagegen: Wer braucht noch Alben?

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Es gibt Bands, die haben sich entkoppelt vom ewigen Kreislauf Studio – Album – Tour, die nehmen hier und da mal was auf, veröffentlichen es als „Single“ gleich online als Stream und Video, später kommt der Song dann „physisch“ oder auf einem Album, aber eigentlich interessiert die und ihre Fans das langsame, schwerfällige Longplayerformat gar nicht mehr. Kann man so sehen, muss man aber nicht.

Dafür

Schon einmal von einer wegweisenden, genrestiftenden oder banhnbrechenden Single gehört? Natürlich nicht! Wer so etwas sagt, der guckt auch lieber Trailer als Filme und liest bei Büchern nur die Klappentexte. Allenfalls EP-Klassiker mit vier bis acht Stücken wie die erste MINOR THREAT-7“ haben eine längerfristige Relevanz. Alben aber können wegweisend, genrestiftend und bahnbrechend sein. Warum? Nur ein Album lässt genug Zeit und Raum, um eine Innovation zu entwickeln, Stile zu kombinieren und eine komplett neue Linie zu fahren oder ein Genre in Vollendung widerzuspiegeln. Alben sind Geburt und Untergang von Idolen, markieren schonungslos Glanz und Scheitern. Eine Single kann kicken, zum Ohrwurm werden und benötigt eigentlich nur ein bis zwei gute Ideen, um zu funktionieren. Ein Album hingegen braucht Substanz. Alben sind keine Momentaufnahme, sondern die Quintessenz einer kreativen Schaffensphase. Einzelne Hits sind schnell kaputtgehört, Alben entfalten oft erst nach Wochen ihre eigentliche Schönheit, vermeintliche Mauerblümchensongs ihre Größe und Tiefe durch den Kontext, in den sie eingebettet sind. Eine Single schrumpft beim Hören, ein Album wächst. Erst auf dem Album zeigt sich, ob du einfach mal Glück mit einem halbwegs passablen Song gehabt hast, um kurzzeitig der Madigkeit des Mittelmaßes zu entfliehen, oder ob du es wirklich drauf hast. Hallo, One-Hit-Wonder-Loser! Vom Opener bis zum Schlusstrack haben gute Alben eine Dramaturgie. Und das gilt nicht nur für Konzeptalben. In der Prä-Internet-Zeit waren Singles als Teaser okay. Mit wenig Geld und Aufwand mal eine Duftmarke setzen. Wer braucht das heute noch? Stellt ein paar Songs online zum Reinschnuppern – und dann liefert! Wenn euch nichts mehr einfällt, dann lasst es sein. Ach ja, Playlisten-Hörer und Willi-Wichtig-Singlesammler: besorgt euch ein Leben mit längeren Aufmerksamkeitsspannen!

Daniel Schubert

Dagegen

Es sind Künstler*innen, die zur rechten Zeit am rechten Ort die richtigen Leute in Sachen Produktion und Marketing kennen lernen, die Musikgeschichte schreiben. Keiner würde „Submission“ als den SEX PISTOLS-Klassiker nennen, „Never Mind The Bollocks“ lebt von „God save the queen“ und „Anarchy in the UK“. Dass die Platte für viele durchgängig großartig ist, bleibt im Vergleich zu den Unmengen an Veröffentlichungen eine Ausnahme. Aber nimmt sich ein 08/15-Musikkonsument für ein Album mit einer Spiellänge von dreißig bis sechzig Minuten angesichts der Schnelllebigkeit und allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Musik heute überhaupt noch die Zeit, um sich intensiver damit auseinanderzusetzen? Wer kennt nicht die Second-Hand-LP, auf deren Cover die Lieblingssongs angekreuzt sind, während der Rest des Albums sicht- und hörbar kaum gespielt wurde. Mal abgesehen von ein paar Nerds beschäftigt sich doch kaum noch jemand mit der Produktion und der Geschichte. Dabei stecken hinter so einer Platte viele Menschen, die alle das Beste daraus machen wollten. Aber wer unter den Musikschaffenden ist selbstkritisch genug, um etwas zu verwerfen, wenn es den eigenen Ansprüchen nicht genügt?! Und wenn sie es selbst nicht richten, spätestens jetzt wären das Management oder das Label gefragt. Es gab mal eine Zeit, da baute man die Künstler auf. Was wird mit der B-Seite einer Single assoziiert? Klasse statt Masse sollte das Maß aller veröffentlichten Stücke sein. Dann braucht ein Album eben fünf oder zehn und nicht ein oder zwei Jahre, auch wenn die Zeiten von fünf-, sechs oder gar siebenstelligen Produktionskosten vorbei sein sollten. Oder man beschränkt sich auf das regelmäßige Veröffentlichen von EPs und vermeidet eben auf diese Weise, womöglich Mittelmaß abzuliefern. Ist das Material wirklich super, wird auch der angesichts mittlerweile kleiner Auflagen angemessene Preis bezahlt.