ENTER SHIKARI

Foto© by Florian Nielsen

Squad up! Squad up!

Es ist gefährliches Halbwissen, aber ich muss um die 16 gewesen sein, als ich ENTER SHIKARI das erste Mal live gesehen habe. Damals sind wir mit dem Freundeskreis und einem geliehenen Auto ins Salzburger Rockhouse gefahren. ENTER SHIKARI waren noch eine junge Band, die gerade ihr erstes Album veröffentlich hatte, aber in unseren Augen schon riesig. Sie hatten sogar ein Trampolin auf der Bühne. War das extra da um Stagedivern einen besseren Flug zu bescheren? Zu dem Zeitpunkt kannten wir uns noch nicht, aber irgendwo im Pit flog auch mein Freund Morri rum, der in den letzten Tagen Rou ein Foto von den beiden von damals gezeigt hat. Heute, viele Jahre später, sind wir als Support auf der intimen Tour rund um den Release des siebten und besten ENTER SHIKARI-Albums dabei. Oha, gewagte These direkt zu Beginn. Als Gastautor für das Fuze nutze ich die Möglichkeit, mit Rou zu sprechen.

Hi Rou, vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast zwischen allem, was gerade bei dir passiert. Wir sind gerade auf der Release-Tour zu „A Kiss For The Whole World“ und ihr habt bereits zwei der drei Residency-Touren in England hinter euch, ihr wart in Japan, wo ihr auf dem Knotfest gespielt habt, und jetzt treffen wir uns hier in Köln, da wir die Ehre haben, euch bei drei sehr intimen EU-Shows zu supporten. Neben all dem führst du bei euren Musikvideos Regie und hast auch das neue Album produziert. Wie schaffst du das alles, ohne den Verstand zu verlieren?

Haha! Vielleicht habe ich meinen Verstand verloren, wer weiß. Es ist der Klassiker, man stellt sich vor: Ja, ich kann das machen, ich kann dies machen, und wenn du mitten im Prozess bist, fällt dir auf: Oh mein Gott, ich kann das nicht machen. Das ist verrückt. Aber ich versuche mich gerade sehr an diesem Juni festzuhalten. Wir werden ein paar Festivals haben und die ganze Arbeit wird erledigt sein. Also warte ich einfach auf den Juni. Vielleicht wird das der Titel des nächsten Albums „Holding Out For June“.

Gibt es in dir eine Art Zwang, das alles anzunehmen und zu tun?
Na ja, also nachdem ich das letzte Album produziert hatte, war es für mich klar, dass es keinen Weg zurück geben wird. Das eröffnet einfach Raum für mehr Kreativität. Ich kann am Ursprung des Songs festhalten und Produktionstechniken einsetzen, die meine Initialidee unterstützen. Wenn du nicht der Produzent bist, kann das recht schwer sein, denn du musst kommunizieren, was den Song für dich ausmacht ,und manchmal geht es um kleine Details, die so gut wie niemand hören kann. Und als das Album dann pünktlich fertig wurde – na ja wir haben die erste Deadline verpasst, aber wir haben die zweite geschafft –, dachte ich mir, ich habe nun etwas Zeit, ich werde mal versuchen, bei den Musikvideos Regie zu führen, weil ich nie zu hundert Prozent zufrieden mit unseren Clips war. Es gibt vielleicht ein oder zwei, die ich mochte, aber es war immer stressig und eine Art Kompromiss zwischen der Vision, die wir als Band hatten, und der, die die Regisseure hatten. Also dachte ich mir, fuck it, ich probiere es mal. Ich glaube nicht, dass mir bewusst war, wie viel Arbeit das ist. Ich arbeite recht langsam, also helfe ich mir selbst auch nicht wirklich. Ich bin sehr bedacht auf jedes kleine Detail und dadurch dauert es länger, aber ja, es war interessant.

Ich habe gerade mit George Perks gearbeitet, der mit euch das neue Album aufgenommen hat, und er hat mir ein bisschen vom Aufnahmeprozess erzählt. Ihr habt auf Airbnb ein Haus gefunden, das mitten im Nirgendwo steht und mit Solarenergie versorgt wird. Er hat mir erzählt, dass ihr am ersten Tag festgestellt habt, dass ihr nicht gleichzeitig aufnehmen und den Ofen, den Wasserkocher und die Mikrowelle benutzen könnt, weil sonst die Elektrizität nicht ausreicht. Ihr musstet euch entscheiden. Entweder Küche benutzen oder aufnehmen. Ich finde die Vorstellung super, dass ihr als Band, die sich mit Nachhaltigkeit auseinandersetzt, ein Album nur mit Solarenergie aufnehmt. Wie war das für euch?
Wir haben dieses Haus auf Airbnb gefunden und ich habe den Besitzer angerufen. Er hatte tatsächlich vergessen, dass das Haus auf Airbnb inseriert war, weil es nie gemietet wurde. Die Fotos waren auch nicht so gut. Es ist ein altes Haus, das etwas Arbeit benötigt und keinen Komfort bietet. Er wollte uns davon überzeugen, dass wir lieber ein anderes Haus nehmen, aber in unseren Augen war es perfekt. Wir wollten kein modernes Studio mit teurem Equipment. Wir hatten das schon und es war spannend, aber dieses Mal wollten wir das komplette Gegenteil davon. Etwas Rohes. Das war eine gute Möglichkeit, um uns wieder zusammenzubringen, nachdem wir während der Pandemie als Band nicht existiert haben. Wir haben keine Musik geschrieben und keine Shows gespielt und hier im Nirgendwo konnten wir wieder zueinander finden. Es waren nur wir vier und George, unser Engineer. Wir haben füreinander gekocht und Holz zum Heizen gehackt, weil es keine Heizung gab. Das war eine sehr gute und gesunde Erfahrung. Wenn du ein eigenes temporäres Studio einrichtest, rutscht du auch nicht so leicht in gewohnte Arbeitsprozesse. Wenn du in ein normales Studio kommst, gibst es oft einen Ort, wo die Drums stehen, und bestimmte Mikros, die dafür verwendet werden. Das machen dann alle Bands so. Wenn du aber deinen eigenen Raum für Drums in einer Hütte einrichtest, kannst du alles so machen, wie du möchtest, und zum Kontrollfreak werden und jedes kleinste Detail entscheiden. Das macht es sehr schön.

Ist diese Erfahrung auch der Grund, warum du die Zeit gerade als zweite Ära von ENTER SHIKARI bezeichnest?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich habe zum ersten Mal für eine längere Zeit nicht geschrieben. Ich hatte schon vorher mal Schreibblockaden, aber die dauerten nie länger als einen Monat. Jetzt ging es aber eineinhalb Jahre. Das war beängstigend. Ich dachte, ich bin jetzt in meinen Mittdreißigern angekommen und meine Kreativität ist erloschen. Bin ich das? Habe ich die Fähigkeit verloren, Musik zu schreiben? Es war wirklich komisch. Ich habe festgestellt, dass ein wichtiger Grund dafür war, dass wir keine Shows gespielt haben. Die Energie, die Zielstrebigkeit, die Connection zum Publikum, all das ist Motivation für mich als Songwriter. Also hat mein Verstand gesagt, wenn du die Musik mit niemandem teilen kannst, wofür machst du sie dann? Das war eine sehr komische Phase. Es war wir eine erzwungene Ruhepause für die Band, in der wir uns für eine Weile sprichwörtlich aufgelöst haben. Als wir wieder angefangen haben zu schreiben, hat es sich wie eine Wiedergeburt angefühlt. Wir hatten zum ersten Mal die Möglichkeit, durchzuatmen und die Band von außen zu betrachten. Als es wieder losging, hat es sich wie etwas Neues angefühlt. Außerdem hat Luke Morton gerade eine Biografie von uns herausgebracht und wir konnten auf unsere Geschichte zurückblicken bis zu dem Punkt, an dem wir anfingen, dieses Album zu schreiben.

Der Track „Giant Pacific octopus (I don’t know you anymore)“ ist eine tolle Überraschung am Ende des Albums. Du singst: „I went to live outside to find myself / But when I found truth, it was something else / There was a whole collection of characters there / I couldn’t help but stare / So if you’re looking for personality over looks / That bodes well for me / ’Cos I’ve got 20 or 30 at my disposal“. Ich hatte direkt Lust, eins deiner Bücher zu lesen, die die Hintergründe deiner Texte erklären, aber da es das – noch – nicht gibt, magst du mir verraten, was dahintersteckt?
Dieser Song ist über meine Erfahrung im Lockdown. Ich war auf einmal nicht mehr Rou von ENTER SHIKARI, sondern nur noch Rou und ich habe mich gefragt: Wer ist das? Seit ich 16 war, war ich Rou von ENTER SHIKARI. Es war eine beängstigende Zeit, in der ich viel Selbstanalyse betrieben habe, um herauszufinden, wer ich eigentlich bin. Ich kam zu dem Schluss, dass niemand wirklich weiß, wer man ist. Wir können daran arbeiten. uns zu verbessern, uns auf Aspekte fokussieren, oder bestimmte Punkte unserem Charakter verändern oder verbannen, aber wir verändern uns ständig. Das macht es schwer herauszufinden, wer man eigentlich wirklich ist. Anfangs klingt das beängstigend, aber ich denke, es sollte befreiend sein. In dem Moment ist einer der schlechtesten und klischeebehaftetsten Ratschläge „Sei du selbst“. Wenn ich doch gar nicht weiß, wer ich bin, und denke, es gibt eine Millionen verschiedene Ichs. Ich kann sehr verschieden sein, je nach Situation. In dem Song geht es um die Vielzahl von verschiedenen Charakteren in mir. Im ersten Vers benutze ich das Bild des Chamäleons aber es gibt ja schon eine Menge Songs, in denen das vorkommt. Also habe ich darüber nachgedacht, welche Kreaturen noch ihre Farbe verändern und in verschiedenen Umgebungen unterschiedlich auftreten, und der „Giant Pacific octopus“ ist einer davon, weil das er seine Farbe verändern kann, und außerdem ist er verdammt cool. So eine eine tolle Spezies. Ich dachte, das wäre eine tolle Parallele in der Natur, ein Wesen, dass seine Farbe ständig ändert und fein damit ist, unterschiedliche Personen in verschiedenen Situationen zu sein.