GHOST INSIDE

Foto© by Josiah Van Dien

Aus der Asche

Über vier Jahre nach dem tragischen Busunfall, der 2015 durch alle Medien ging, unzähligen Reha-News und dem stetigen Hoffen auf neue Musik sind THE GHOST INSIDE endlich wieder zurück. Ihr neues, selbstbetiteltes Album läutet eine neue Ära der Hardcore-Band aus Los Angeles ein und steht seinen Vorgängern in nichts nach – im Gegenteil. Sänger Jonathan Vigil erklärt uns, wie das Album nicht nur einen weiteren musikalischen Meilenstein markiert, sondern auch die Macht der menschlichen Willensstärke unterstreicht.

Das ist, soweit ich weiß, eines der ersten Interviews mit einem deutschen Magazin, seitdem ihr aktiv zurück seid. Wie fühlt es sich an, wieder im Fokus der medialen Aufmerksamkeit zu stehen und über Musik statt den Unfall zu reden?

Es ist unbeschreiblich schön! Vor dem Unfall haben die Musik und die Band einen Großteil meines Lebens eingenommen und plötzlich stand alles still. Nicht weil wir es wollten, sondern weil uns der Unfall dazu zwang. Wir wussten nicht, ob wir jemals wieder die Chance bekommen würden, unseren Traum zu leben, und als das Management uns dann vor kurzem fragte, ob wir Lust hätten, ein paar Interviews zu geben, waren wir sofort Feuer und Flamme. Es hat mir echt gefehlt, mit Gleichgesinnten über Musik zu sprechen.

Euer neuer Song „Aftermath“ ist echt ein Statement für sich und auch das dazugehörige Video ist wirklich atemberaubend. Kannst du uns etwas mehr darüber erzählen, wofür das Lied steht und was genau dahintersteckt?
„Aftermath“ richtet sich an alle, die mit den Folgen einer Katastrophe leben müssen – sei es eine globale oder eine persönliche. Unsere Katastrophe war hierbei der Unfall, nach dem wir erstmal vor einer großen Ungewissheit standen. Man plant seinen kompletten Lebensweg, richtet diesen nach seinen Träumen aus und tut alles, um diese zu erreichen, und dann passiert so eine unvorhersehbare Katastrophe, die einen gefühlt unwiederbringlich zurückwirft und hilflos zurücklässt. „Aftermath“ erzählt genau von dieser Situation und wie wir mit deren Nachwirkungen umgegangen sind. Unser Ziel war es, dass Menschen in ähnlichen Situationen wissen, dass nicht alles aussichtslos ist, und neue Hoffnung fassen. Für uns selbst spielt „Aftermath“ aber noch eine weitere zentrale Rolle. Dieser Song ist das, was die Fans von uns hören mussten. Es ist nicht nur unser erster Song nach sechs Jahren, sondern auch der Song von der „Unfall-Band“, weißt du? Viele Menschen wurden nur auf uns aufmerksam wegen des Unfalls und mit „Aftermath“ wollten wir selbst das Wort ergreifen und unsere Geschichte erzählen.

„Aftermath“ ist der letzte Track des Albums. Hat das einen besonderen Grund? Hat „The Ghost Inside“ in gewisser Weise einen roten Faden oder eine Struktur?
Das Album ist selbstbetitelt, weil es so ein großes Statement für uns ist und weil jeder Einzelne in der Band zu gleichen Teilen von Anfang bis Ende daran beteiligt war. Und die aktuelle Besetzung, das ist THE GHOST INSIDE, das sind wir. Die Band wird nie ein anderes Mitglied haben. Wie könnten wir unser Line-up nach unserer Geschichte ändern? Mit dem Album starten wir ein neues Kapitel. Bezüglich der Reihenfolge der einzelnen Songs haben wir uns primär am musikalischen Flow der Tracks orientiert. Es sollte zu hundert Prozent so klingen, wie wir es uns als Band – emotional und klangtechnisch – erträumt hatten. Trotzdem hat „The Ghost Inside“ wie ein gutes Buch einen Anfang und ein Ende. Es beginnt mit „Still alive“, der sagt: „Hey, nach allem, was uns passiert ist, sind wir immer noch hier“ und diese Thematik wird mit einem Auf und Ab der Emotionen durch das ganze Album getragen, wobei manche Songs das Thema das Unfalls überhaupt nicht behandeln. Wir wollen nicht nur die „Unfall-Band“ sein. Das Ende bildet „Aftermath“, wo wir zeigen, dass wir neugierig auf die Zukunft sind und was sie für THE GHOST INSIDE bereithält. Dieser Song ist gleichzeitig der wichtigste, deshalb haben wir ihn auch zuerst veröffentlicht.

Wie du bereits angesprochen hast, ist das Album selbstbetitelt und rückt die Band somit direkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In gewisser Weise ist es der Anfang einer neuen Ära von THE GHOST INSIDE. Wie hat sich der Unfall von 2015 auf die Band langfristig ausgewirkt. Hat sich dadurch etwas an eurem Motiv, eine Band zu sein, verändert?
Der Unfall hat alles verändert – nicht nur physisch. Er hat uns einen neuen Respekt für das gegeben, was wir tun. Vorher hätte ich vielleicht Interviews abgesagt, weil ich zu dem Zeitpunkt andere Ding zu tun hatte. Jetzt weiß ich, wie sehr ich es eigentlich schätzen sollte, dass so viele Menschen echtes Interesse an uns und unserer Musik zeigen. Früher sind wir vielleicht ein- bis zweimal im Jahr nach Europa gekommen und das werden wir jetzt durch unsere körperlichen Einschränkungen auch nicht mehr tun können. Das gibt uns einfach eine ganz neue Sichtweise auf die Chancen, die uns gegeben wurden. Wir hätten dieses Jahr auf dem Full Force Festival gespielt und vor dem Unfall wäre das natürlich auch cool für uns gewesen, aber im Grunde nur eins von vielen fantastischen Festivals des Sommers. Jetzt bedauern wir die Absage um einiges mehr, da das unser erster Auftritt in Europa nach der Tragödie gewesen wäre. Unterm Strich hat der Unfall unsere Wahrnehmung und Dankbarkeit für das, was wir tun, komplett geändert und nachhaltig geprägt.

Hat das auch euren Songwriting-Prozess beeinflusst?
Aaron, unser letzter Gitarrist, war bis dato unser Hauptsongwriter. Als er ausstieg, um eine Familie zu gründen, kam Chris dazu und alles wurde etwas zentraler produziert. Wir haben schon vor längerer Zeit angefangen, an neuem Material zu arbeiten, und als dann der Unfall passierte, mussten wir erst wieder lernen, wie man als Band zusammenarbeitet. Anfangs war es echt schwer, wieder in den Sattel zu kommen und neue Musik zu schreiben. Im Endeffekt verwarfen wir alles Vorherige oder schrieben es zumindest um, da sich unser Fokus natürlich komplett verschoben hatte. Wir wussten aber, dass wir uns neu ordnen und auf dem Album von Anfang bis Ende alles und noch mehr geben mussten. Letztendlich denke ich, dass wir das auch gemacht haben. Der Schreibprozess selbst hat sich auch komplett verändert, aber meiner Meinung nach lediglich zum Besseren.

Es gibt einige Zeilen auf „The Ghost Inside“, die mir im Kopf geblieben sind. Zum Beispiel in „The outcast“ singt ihr „So allow me now because it’s now or never“ und „When there’s no torch to bear and no footsteps to follow“. Inwieweit beschreiben diese Lyrics die neue Ära der Band?
Gut, dass du diese Stellen ausgewählt hast, denn das ist die Quintessenz des neuen Albums und somit unserer neuen Ära. Wir wussten nach dem Unfall zu keinem Zeitpunkt, ob wir eine weitere Chance bekommen würden. Unser letztes Konzert vor dem Crash war in einem kleinen Sportcafé in Texas und nichts gegen diese Location oder Texas, aber wenn du über zehn Jahre als Band bestehst, stellst du dir dein letztes Konzert in deiner Heimatstadt mit viel Pyrotechnik und Konfetti vor und nicht irgendwo im Nirgendwo. Für uns war es jetzt tatsächlich „now or never“, weil wir nach allem, was passiert ist, wussten, dass jeder Song und jeder Gig der letzte sein kann, weil die Show in Texas fast wirklich unser letzter Auftritt gewesen wäre. Nur wenige Bands haben die Chance, nach einer so langen und unbestimmten Pause immer noch dermaßen treue Fans zu haben, die auf neue Musik fiebern. Für uns gab es einfach keine andere Option; wir sind THE GHOST INSIDE und die Band ist unser Leben.

Du sagtest bereits, dass ihr verständlicherweise nicht als die „Unfall-Band“ abgestempelt werden wollt. In Hinblick auf Lyrics wie „The past is yours but the future is mine“ – soll das Album dabei helfen, die alte Ära der Band und die Erinnerungen an den Unfall abzuhaken?
Definitiv. Ein Großteil des Albums dient tatsächlich dazu, mit diesem Kapitel abzuschließen. Natürlich wollen wir die Erfahrungen und Weisheiten, die wir in dieser Zeit gesammelt haben, mitnehmen, aber die negative Energie der Vergangenheit soll mit „The Ghost Inside“ ein für alle Mal hinter Schloss und Riegel gebracht werden. Wir lebten im Schatten des Unfalls für vier lange Jahre und es reicht einfach. Jetzt ist die Zeit gekommen, in einem neuen Licht zu erstrahlen und weiterzumachen.

Für das Coverartwork des Albums habt ihr viele Bilder von euch selbst, aber auch von Logo-Tattoos eurer Fans zusammengestellt. Was steckt hinter diesem visuellen Element?
Es waren in erster Linie die Fans, die uns die Stärke gaben zurückzukommen. Natürlich haben wir das neue Album auch für uns geschrieben, um unseren Traum am Leben zu erhalten, aber ohne die Fans wäre vieles, was wir tun und taten, nie möglich gewesen. Was sie uns über die Jahre konstant gegeben haben – und nicht nur in unserer aktiven Zeit, sondern auch Kommentare, Nachrichten und sogar Tattoos in der Zeit unserer Abwesenheit und Genesung –, ist unbeschreiblich. Dass man selbst Teil von etwas ist, das einen so hohen Stellenwert im Leben einer anderen Person einnimmt, dass er oder sie sich sogar das Logo tätowieren lässt, ist eine Ehre, die ich bis heute nicht in Worte fassen kann. Es gab Zeiten in der Reha, in der ich kurz vor dem Aufgeben war. Aber die Nachrichten, in denen Menschen erklärten, wie THE GHOST INSIDE ihnen durch schwere Situationen geholfen hat, änderten alles. Wie könnte man jemals etwas beenden, das so viel für einen Menschen bedeutet? Unsere Fans haben uns nie hängenlassen und das werden wir ebenfalls niemals tun, versprochen. Wir wollen einfach mit „The Ghost Inside“ etwas zurückgeben. Symbolisch zeigt das Cover, dass nicht nur wir als Band THE GHOST INSIDE sind, sondern auch unsere Fans, die die Band mit ebenso viel Herzblut pushen wie wir selbst.

Ihr habt eure erste Show nach dem Unfall im Sommer letzten Jahres in Los Angeles gespielt. Wie hat es sich angefühlt, all diese Menschen zu sehen, die – ebenso wie ihr als Band – so lange auf diesen Moment gewartet haben?
Diese Show war wirklich schwer für mich, weil alles stimmen musste. Ich machte mir selbst einen so großen Druck, weil ich dieses Konzert für uns fünf als Band spielen wollte. Während der Show habe ich mich immer wieder zu den anderen umgedreht. Da war Andrew, der mit nur einem Bein am Drumset saß, Chris der durchgehend nur am Grinsen war, Zach und Jim, die so gut es nur ging auf der Bühne herumliefen. Diese Show zeigte uns allen einmal mehr, was wir fast für immer verloren hätten. Natürlich spielten wir auch für die Fans, aber mindestens in gleichem Maße auch für uns selbst.

Also war das Konzert ein weiterer entscheidender Meilenstein auf dem Weg zurück zur Normalität.
Du sagst es.

Halten wir das folgende Thema ausnahmsweise mal etwas kurz: Wie beeinflusst das Corona-Virus derzeit euer Privatleben und die Band und wie gehen THE GHOST INSIDE mit der Situation im Hinblick auf die kommende Veröffentlichung um?
Das Video zu „Aftermath“ wurde erst vor wenigen Wochen während der Corona-Krise gefilmt. Durch die Quarantäne konnten wir keine Crew mit professionellem Equipment engagieren, deshalb nahmen wir einfach altes Videomaterial zur Hand und filmten uns selbst, während wir performten. Das meiste wurde mit GoPros aufgenommen. Die Segmente von mir filmten wir mit einem iPhone und einer Drohne, weil wir zu mehr einfach keinen Zugang hatten. Der Plan war eigentlich, das Video in L.A. zu drehen, aber dann kam uns – so wie jedem anderen auf diesem Planeten – das Virus in die Quere. Trotzdem wollten wir das Video drehen und so kam Jim mit dieser improvisierten Idee an. Die aktuelle Lage ist für jeden schwierig, besonders in der Unterhaltungsbranche. Wir müssen einfach einen Weg finden, damit umzugehen und das Beste daraus machen. Wir hätten den Videodreh und die Albumveröffentlichung natürlich aufschieben können, aber wofür? Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, zu dem die Fans ein Lebenszeichen von uns gut gebrauchen können. Man hat zu Hause nichts zu tun, kann nicht vor die Tür gehen und braucht vielleicht etwas, um sich von der ungewissen Zukunft abzulenken. Sobald die Quarantäne aufgehoben ist, werden die Menschen nach draußen strömen und nicht zu Hause vor dem PC sitzen, um sich ein Musikvideo anzusehen. Wie eben schon gesagt: „Now or never“ war auch beim Video unser Motto. Wir haben so lange auf diesen Moment gewartet und werden uns das nicht von Corona nehmen lassen.

Wenn du eine Lektion in den letzten Jahren gelernt hast, welche wäre das?
Puh, gute Frage. Ich denke, die wichtigste Lektion, die ich aus den letzten vier Jahren mitnehme, ist, dass der menschliche Verstand stärker ist als wir denken. Ich hätte nie gedacht, dass ich es je wieder auf die Bühne schaffen würde. Da war zwar immer der Wille und der Wunsch, aber die physische Kraft hat gefehlt. Aber Menschen können unfassbar stark sein und wenn wir unseren Verstand auf etwas konzentrieren und diszipliniert und bestimmt dafür arbeiten, können wir es tatsächlich entgegen aller Erwartungen erreichen. Der Geist ist meist viel überzeugender als der Körper und wenn du dir etwas vorstellen kannst, kannst du es auch in die Tat umsetzen.