GUM BLEED

Foto© by Tim Hackemack

Vom Leben in einem autoritären Land

Im März hat die chinesische Punkband GUM BLEED ihr neues Album in Europa veröffentlicht, auf dem deutschen Label Ring Of Fire. Auch wenn der Band hierzulande zuletzt größere Aufmerksamkeit zuteil wurde, weiß man doch noch immer eher wenig über ihr Werk und Punk in China. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Ich spreche mit Sänger Dee über Punk, Protestkultur und Pandemiepolitik in China.

In diesen Tagen ist euer drittes Album mit dem Titel „Punx Save The Human Race“ erschienen. Das nenne ich in Zeiten multipler globaler Krisen eine stabile Ansage. Welche Motive und Inspirationen liegen euren Lyrics im Besonderen zugrunde?

Wir haben das Album tatsächlich vor der Pandemie aufgenommen. Die Songs wurden also größtenteils 2019 und sogar noch früher geschrieben. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum es für dich so „stabil“ klingt. Nach der monatelangen „Abriegelung“, die nicht wirklich eine war, weil wir uns in Peking praktisch frei bewegen konnten – doch die Angst und die Sorge um die eigenen Lebensgewohnheiten haben alles zum Stillstand gebracht –, sind wir im Juni wieder ins Studio gegangen und haben eine weitere Single aufgenommen, „Data rights (Covid 19 changed the world)“. Die Welt war zu diesem Zeitpunkt alles andere als in Ordnung: Die Veröffentlichung unseres neuen Albums wurde abgesagt. Tourneen in Europa, Asien und China wurden abgesagt. Corona verbreitete sich wie wahnsinnig aus auf der Welt. Der Rassismus gegen Asiaten nahm zu im Westen, besonders in den USA. Es kam zu Unruhen in den USA und Hongkong. Und schau dir jetzt die Bewegungen in Thailand und Kambodscha an ... Unser Song „Data rights“ kann das Phänomen nicht umfassend beantworten, sondern konzentriert sich hauptsächlich darauf, rassistische Diskriminierung und Datenmissbrauch zu kritisieren. Die rechten Meinungsführer nutzten soziale Medien und Technologie. Deren Populismus und Fremdenfeindlichkeit bringen die Welt in eine gefährliche Situation, und das gilt eben nicht nur für ihre fürchterliche Pandemiepolitik. In den anderen Songs geht es vor allem darum, dass wir zusammenhalten. Seit unserem Debütalbum „Balefire Juvenile“ und mit dem Nachfolger „City Of Heroes“ sind wir nun seit 15 Jahren als Band zusammen und inzwischen alle mittleren Alters. Wir haben ein bisschen von der Welt und dem Leben gesehen und mehr über die Gesellschaft und das System gelernt. Nach fünf Jahren dachten wir, es ist an der Zeit für ein neues Album. Es ist Zeit, wieder auf die Straße zu gehen und zu kämpfen. Das verdeutlichen der Song „Off the hook leave tonight“ und das Punkrock-Stück „Defy“, in dem wir chinesisch singen.Obwohl NO ONE REALLY CARES we “don‘t give up ourselves but dare to touch the flame. Go through that storm, we gonna reach the shore“, wir CRUSH ´EM ALL und finden einen Ausweg. PAY THE PRICE ist ein Song für Julian Assange und eine Anklage. Wir führen seinen Kampf weiter. PUNX SAVE THE HUMAN RACE ist ein melodischer Schlachtruf. HERAT OF A HERO ist eine elektrisch verstärkte Version unseres Akustik-Songs des letzten Albums: „A real human being which is all I have“, wenigstens hoffen wir, dass es noch so ist.

Das Album ist sehr abwechslungsreich und reicht von Singer/Songwriter-Einflüssen bis zu Hardcore. Wie gestaltet sich bei euch der kreative Prozess? Wie sind die Aufgaben und Potenziale in der Band organisiert?
Es läuft bei uns meistens so, dass ich als Sänger für Themen und Komposition zuständig bin. Die anderen Bandmitglieder kommen später für die Arrangements der Instrumente dazu. Am Ende gebe ich dem Text dann den Feinschliff. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum du Singer/Songwriter-Einflüsse wahrgenommen hast. Im Übrigen entwickeln wir die Inhalte gemeinsam, und dass wir stilistisch offen und kreativ sind, das hörst du ja selbst. Hardcore liegt uns im Blut. Das ist unsere DNA, unser Ausgangspunkt. Unsere Musik ist aber von vielfältigen Einflüssen geprägt, weil wir alle unterschiedliche Musik hören und keine Lust haben, unterkomplex und langweilig zu klingen. 15 Jahre sind eine lange Zeit. Unsere Musik lebt vor allem von zwei Grundzutaten: Punkrock und Hardcore. Wir haben uns weiterentwickelt und Elemente von Thrash, Punk’n’Roll, Post-Punk, Alternative ins neue Album einfließen lassen. Wir wollen einen eigenständigen GUM BLEED-Punksound kreieren. Entscheidend ist, dass unsere Songs eingängig sind und die Fans schnell in der Lage sind mitzusingen.

Wie kämpferisch ist die Punk-Szene in China zur Zeit? Wie kämpferisch kann sie angesichts drohendem staatlichen Verfolgungsdrucks sein? Welche Themen werden debattiert?
Die Punk-Szene erlebte 2019 einen Boom. Viele junge Leute sind dazugekommen. Ich spreche von der Generation Z. Es sind auch ein paar kämpferische Bands und DIY-Punk-Festivals sowie Underground-Fanzines entstanden. Ich war überrascht von dem, was ich hier gesehen habe. Das Gleiche habe ich im Sommer 2019 während unserer Tour in Europa beobachtet. Die neue Generation kommt jetzt zu unseren Konzerten. Es ist sehr schwer für mich zu erklären, wie kämpferisch man hierzulande auftreten kann. Die Menschen leben schon lange in einem autoritären Land. Sie wissen inzwischen, wie sie überleben und ihre Ansichten verbreiten können. Aber das ist auch das, was mich am meisten beunruhigt. Sie machen Kompromisse. Die junge Generation macht viel früher als wir die Erfahrung, dass ihr Widerstand und ihre Kämpfe nur im Toleranzbereich der Autoritäten stattfinden. Zum Beispiel müssen auch die Punk-Shows von der Zensur genehmigt werden, wenn du legal auftreten willst. Das ist verrückt. Du musst schlau genug sein und den Behörden sagen, dass die Konzerte nur der Unterhaltung dienen. Und beim Konzert versuchst du dann so gut wie möglich, dich cool und unangepasst zu geben. Das heißt, die Szene hier darf nicht zu kämpferisch sein. Es ist hier ganz anders und kaum zu vergleichen mit den Möglichkeiten in Südostasien oder gar in Europa. Wir leben in einer Blase, ein bisschen so wie die USA in den Achtziger und Neunziger Jahren. Die Wirtschaft boomt. Materielle Güter gibt es im Überfluss. Das System hier kontrolliert alles noch strenger. Aber was soll’s? Solange die Leute in Komfort leben können, hält sich die Bereitschaft zum Widerstand in Grenzen. Aber weil es um die Subkultur geht, um die Rechte der Arbeiterklasse, um eine andere Art zu Leben, um die Forderung nach Freiheit und Demokratie, bleibt für uns der Kampf das Ziel.

Gibt es unter euch, in der Szene, eine politische Auseinandersetzung mit der scheinbar erfolgreichen staatlichen Strategie der Pandemiebekämpfung? Wie habt ihr die Zeit der Abriegelung Wuhans erlebt?
Leider nicht wirklich. Wie ich schon sagte, haben die Menschen hier zu lange im Autoritären gelebt. Sie haben sich daran gewöhnt, nach den Regeln zu leben. Am Anfang gab es natürlich Kritik an der Politik des Verschleierns der Wahrheit in Wuhan, aber dann verging die Zeit. Und ich habe irgendwie das Gefühl, dass alle stolz darauf sind, dass China die Seuche besser bekämpft als der Rest der Welt und sich nur wenige über die konkreten Maßnahmen und bürokratischen Sprachregelungen beschweren. Ich habe Ende Januar 2020 in Finnland gearbeitet. Als die Pandemie in Wuhan ausbrach, bin ich eine Woche später nach Peking zurückgekehrt und habe mich selbst für zwei Wochen in Quarantäne begeben. Ich war noch nie so lange allein. Ich fühlte mich psychisch nicht gesund. Ich beschloss, im Februar nach Thailand zu fliegen. Ja, wir konnten während der Wuhan-Abriegelung noch ins Ausland reisen. Ich hing auch mit den Punks in Bangkok ab. Im März wurde unsere Tour in Deutschland abgesagt. So wurde ich einer der ersten Freiwilligen, die in einem von drei Quarantäne-Hotels arbeiteten. Ich habe dort den Leuten geholfen, die aus den Risiko-Ländern Italien, Großbritannien, USA nach Peking einreisten, sich testen zu lassen und so weiter; bis China Anfang April die Grenzen schloss. Im April hob Wuhan dann die Abriegelungsregelung auf.

Die Pandemie scheint in China weitgehend beherrscht zu werden, wohingegen Europa am Beginn einer dritten Welle zu stehen scheint. Dementsprechend ist das Kulturleben hier fast vollständig zum Erliegen gekommen. Sind Konzerte in China möglich? Könnt ihr mit eurem neuen Album touren? Was ist geplant?
Alle Konzerte und kulturellen Veranstaltungen wurden in der ersten Hälfte des Jahres 2020 abgesagt. Die Shows begannen im Juni wieder, aber mit reduzierter Zuschauerzahl. Die Auslastung der Clubs wurden stufenweise erhöht von 30% auf 50% und schließlich auf 70%. Dann brach in Peking eine kleine Epidemie aus. Dieses Mal gab es kein Reiseverbot, wenn man einen negativen Test nachweisen konnte. Aber alle Bands aus Peking wurden von den nationalen Festivals ausgeladen. Die Tourneen begannen im Herbst. Aber wir hatten weder das neue Album veröffentlicht noch sind wir auf eine lange Tournee gegangen. Aber es war wieder möglich, unter fast normalen Bedingungen Konzerte zu spielen. Wir spielten einige Gigs in Peking und anderen Städten. Fast alle Bands spielten vor ausverkauften Häusern. Die Leute schätzten das kulturelle Leben damals sehr. Ja, jetzt haben wir gerade das neue Album veröffentlicht und starten eine Tour durch China.

Als ihr 2009 zuletzt im Ox interviewt wurdet, war die Szene in China noch sehr jung. Wie hat sie sich seither entwickelt? Wie ist sie organisiert? Wie divers ist sie? Wo trifft sich die Szene und wie verschafft sie sich über die Musik hinaus Gehör?
Sie hat sich mit dem Kapitalismus im Land entwickelt. Die Punk-Szene war klein, aber die Rockmusikszene war Schritt für Schritt größer geworden. Die Punk-Szene wird allerdings von der ganzen unabhängigen Musikszene in ihrem Umfeld beeinflusst. Einige Online-Kanäle haben jungen Street-Dance- und HipHop-Bands so was wie eigene Reality-Shows angeboten. Die Acts wurden dadurch sehr populär im Mainstream. Dann begann die Kommerzialisierung der Szene. Die hohen Tiere der Majorlabels und Werbung hielten Einzug. Gemeinsam mit den großen Festivalmarken übernahmen sie die Szene in den großen Städten und auch in den Kleinstädten. Ich weiß, dass einige Punkbands das Hundertfache an Gage von Festivalveranstaltern bekommen können, wenn sie durch die Online-Shows populär wurden. Ich denke, die Leute in Deutschland sollten wissen, was in der chinesischen Szene passiert. Es ist ziemlich bizarr und extrem. Die Entwicklung beschleunigt sich vor allem seit dem zweiten Halbjahr 2019 und noch mal seit 2020, während die Pandemie im Rest der Welt wütete. Auf der anderen Seite gibt es auch eine kleine freie Szene, die sich gegen diese Bands und deren Fans richtet. Die Shows finden bevorzugt in kleinen Clubs statt. Die Zahl der DIY-Bands und Underground-Fanzines wächst. Die Kultur des Anti-Mainstreams und des Anti-Kommerziellen organisiert sich auch online. Ich denke diese Abspaltung wird sich in Zukunft noch verfestigen. Der Mainstream bevorzugt Pop und modische Bands. Deren Szene und Musik sind eng verbunden mit dem Kapital und der Werbeindustrie. Die extremen Musikrichtungen wie Hardcore, Crust, Grindcore, Thrash bleiben im Underground und bewahren sich ihre DIY-Einstellung auch über die Musik hinaus.

Apropos Konzerte: Worin unterscheiden sich die Shows in China von denen in Europa?
Fast alle Shows in China müssen, wie schon erwähnt, durch die Zensurverfahren gehen. Meistens kümmert es die Behörden nicht, aber man muss alle Dokumente und Videos und Texte einsenden. In China müssen Bands beispielsweise ihre Instrumente nicht mitbringen. Alle Veranstaltungsorte haben ihre eigene vollständige Backline. Das ist in Japan und Korea genauso. Ich denke, in Europa ist das anders. Pogo, Moshpit und kraftvolle Live-Shows verlaufen sehr ähnlich, aber die Themen der Songs sind hier ganz andere. Die Klimakrise, die „Black Lives Matter“-Bewegung, Rechte ethnischer Minderheiten, über die zu sprechen hierzulande gefährlich ist, die vegane Bewegung, Tierrechte, also Themen, die weltweit von grundlegender Bedeutung sind, spielen hier keine Rolle. Wir leben immer noch auf einer Insel, vor allem in kultureller Hinsicht. Wir leben in einem anderen System und lesen in einem blockierten Internet.

Bleiben wir noch kurz bei der Pandemie. In der deutschen Linken wird derzeit viel darüber diskutiert, ob man bei der Corona-Bekämpfung von China lernen könnte. Ich fürchte, das wäre nur um den Preis der Schleifung von Grundrechten möglich. Was denkst du?
Es ist ein bisschen kompliziert. Aber natürlich geht es darum, seine persönlichen Freiheitsrechte aufzugeben. China installiert das größte Datenerfassungssystem der Welt: ein 5G-Netz und ein Bürgerkreditsystem [Es gibt Bonuspunkte für „gutes“ und Minuspunkte für „schlechtes“ soziales Verhalten. Die Red.]. Es gibt zwar keine Sperre mehr wie in Wuhan, aber man muss jedes Mal den „Health Code“ scannen, wenn man ein Gebäude betritt, ein Taxi nimmt, mit dem Zug oder mit dem Flugzeug reisen will. Außerdem bezahlt man mit dem Handy, liest auf dem Handy, arbeitet mit dem Handy. Die Behörde weiß alles über einen. Aber Big Data hilft sehr bei der Bekämpfung von COVID-19. Und die Behörden werden immer effektiver im Umgang damit. Man kann ihre Lockdown-Methoden sehr genau nachvollziehen. Es werden Bewegungsprofile der Menschen erstellt in den Städten, in den Bezirken und jetzt auch in den Gebäuden. Zur Strategie unserer Regierung gehörte auch die Maskenpflicht nach dem Virusausbruch in Wuhan. Darüber wurde hier kaum gesellschaftlich diskutiert, wohl wegen der Erfahrungen mit SARS 2003. Über Jahre stellte China so die weltweit größten Produktionskapazitäten für Masken, Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte auf. Jetzt wird das ganze Land geimpft. Von der Zentralregierung organisiert, werden selbst die kleinsten Dörfer erreicht. China hat seine Zeit nicht mit dem Warten auf Pfizer vergeudet. Viele Länder haben viel Geld an das Unternehmen gezahlt, aber warten nun ewig auf die Lieferung. China hat viel Geld in seinen eigenen Impfstoff investiert. Der Impfstoff ist nicht so aufwändig und teuer produziert wie der amerikanische, rettet aber auch Leben. Was mich dabei beunruhigt, ist das Fehlen einer offiziellen Informationspolitik. Das Problem der Verschmutzung der Masken und die Impfstoffproduktion ist hier nicht sehr bekannt. Der Westen hat sein eigenen Probleme. Die Rechten instrumentalisieren den Schutz der Grundrechte gegen die Pandemiebekämpfung. Schau nur in die USA, nach Großbritannien und Brasilien und wie es um deren Strategie gegen Corona steht.

Zurück zur Band: Was sind eure Pläne für die Zukunft? Sind zumindest Konzerte zum neuen Album in Deutschland geplant?
Weiter Musik machen ist der Plan. Es gibt noch keine Tourpläne für Deutschland oder Übersee. Vielleicht sollte ich das jetzt für 2022 in Angriff nehmen?