ITALIENISCHER HARDCORE-PUNK DER 80er

Foto© by Helge Schreiber

DER KANON DES GUTEN GESCHMACKS

Die italienischen Hardcore-Punk-Bands der Achtziger Jahre dürften mit am einflussreichsten für die nordeuropäische Szene gewesen sein, zumindest aus deutscher Sicht. Dieser Artikel beschäftigt mit zehn Bands aus Italien, deren Musik, Charme und Charisma in den Achtziger Jahren teilweise für Tsunami-artige Begeisterung sorgte. Kulturelle Phänomene, die nicht dokumentiert oder in der Öffentlichkeit erwähnt werden, sind dem Vergessen preisgegeben. Die aktuelle Musikszene tickt heute anders und interessiert sich jetzt für andere Länder, Themen oder Stilrichtungen. Daher lade ich euch zu einem kleinen Wiedersehen mit zehn Bands ein, die ich willkürlich und rein nach meinem Gusto ausgewählt habe.

Die aktivste italienische Hardcore-Punk-Band, die bis heute durchgehend existiert, sind ohne Zweifel RAW POWER aus der Reggio Emilia, etwas westlich von Bologna. 1981 gründeten sie die Brüder Guiseppe (Gitarre, RIP 2002) und Mauro (Gesang) Codeluppi und nahmen die bandeigenen Superhits „Fuck authority“ und „You are the vicitm“ bereits zu Anfang ihrer Bandhistorie auf. Über Kontakte zum Maximum Rocknroll-Fanzine konnten RAW POWER 1984 als erste italienische Punkband in den USA auf Tour gehen. Dort wurden sie von Toxic Shock Records gesignt, später erschienen bei weiteren Labels etliche Alben, was in der Folge zu insgesamt fünf weiteren US-Touren führte. Insgesamt 14 Alben kamen bislang auf diversen Labels raus, plus weitere Split-7“s mit Bands wie MOTTEK, D.R.I., MDC oder CRIPPLE BASTARDS. Das 1983er Debütalbum „You Are The Victim“ ist ein Meilenstein des wütenden RAW POWER-Sounds, während das letzte Album „Inferno“ auf Demons Run Amok die ständige Weiterentwicklung der Band bezeugt.

NEGAZIONE aus Turin waren dagegen der Gamechanger, sie hatten einen unheimlich positiven Einfluss auf die deutsche Hardcore-Punk-Szene. Erstmalig tauchten NEGAZIONE am Vorabend der Chaostage 1984 im AJZ Bielefeld auf, eine kunterbunte ca. 35-köpfigen Interrail-Zugreisegruppe von Punks aus ganz Italien im Schlepptau. Während hierzulande 90% der Szene noch aus Nietenkaisern und Iro- & Stachelhaar-Punks bestand, fielen NEGAZIONE und Clique durch ihren Turnschuh-Brutalpogo, Bandanas und wild-verwegene Outfits auf. „Tutti pazzi“ („Komplett verrückt“!), der Titelsong der ersten 7“, wurde zum Erkennungsruf. Ein Jahr später, 1985, auf der nächsten Tour, sah die Mehrheit der Punks in Deutschland wie die Italiener aus. Der Kernpunkt der Attraktion bezüglich NEGAZIONE war: Selber machen, aktiv sein. Kooperation, kein Wettbewerb. Für einander einstehen, niemals alleine gehen! In den Jahren darauf nahmen NEGAZIONE ihre Alben in Amsterdam auf. Die LP „Lo Spirito Continua“ von 1986 wurde zu einem Meilenstein. Die Konzerte von NEGAZIONE wurden immer größer, teilweise spielten sie vor tausenden von Leuten. Vier Alben, sechs Singles ... 1992 löste sich die Band auf. Mit Drummer Fabrizio Fiegel (2011) und Bassist Marco Mathieu (2021) sind inzwischen zwei Bandmitglieder verstorben. 2022 erschien das NEGAZIONE-Buch „Collezione di Attimi“ mit 370 Seiten auf Englisch im Großformat, das meiner Meinung nach eine der besten Bandbios ever ist.

Aus Vercelli, einer Kleinstadt zwischen Turin und Mailand, stammen INDIGESTI. 1981 gegründet, existierte diese Band bis 1987, tourte mehrfach in Europa und auch in den USA (1986). Das erste Ausrufezeichen war die Split-7“ mit WRETCHED im Jahr 1982, die für Furore sorgte. Sie enthält je sechs wirklich gut aufgenommene Hardcore-Punk-Songs von zwei großartigen Bands. Im Original ist sie durchschnittlich für nicht unter 500 Euro zu bekommen. Im Dezember 1985 kamen INDIGESTI das erste Mal auf Tour und hatten ihre Debüt-LP „Osservati Dall’ Inganno“ im Gepäck, die mit ihrem wunderbaren melodisch-hektischen Songs zu begeistern wusste. Ich sage da nur „Silenzio statico“ und „Doppio confronto“! Ihr letztes Konzert spielte die Band übrigens 1987 im Treibsand Club in Lübeck. Aktuell stellt F.O.A.D. Records aus Italien eine Diskografie-Doppel-LP zusammen. Man darf gespannt sein.

Mailand hatte ebenfalls eine Reihe von extrem guten Bands. Dazu gehörten WRETCHED, die sich selbst als anarchistische Chaospunks bezeichneten. Sie gründeten zudem mit Chaos Produzioni ihr eigenes Label. Nach der Split-7“ 1982 mit INDIGESTI nahm die Band im Jahr 1983 ihre erste EP „In Nome Del Loro Potere Tutto E’ Stato Fatto ...“ auf, gefolgt von der zweiten 7“ „Finira Mai?“ im Jahr 1984. Den musikalischen Höhepunkt stellt die 1984er LP „Libero Di Vivere / Libero Di Morire“ dar. Weitere neue Songs erschienen in den USA bei BCT-Tapes und auf dem Kult-Doppel-LP-Sampler „P.E.A.C.E.“ auf R-Radical Records von MDC-Sänger Dave Dictor. Ihre Message „Chaos Non Musica“ wurde dadurch weltweit verbreitet und brachte ihnen 1985 auch eine Tour in England ein. Ich beiße mir bis heute in den Arsch, dass ich diese Band, mit der ich lange Zeit in Kontakt stand, auf ihrer Tour in Deutschland und Holland verpasst habe. Interne Probleme, unter anderem die stark lädierten Stimmbänder des Sänger Gianmarios, und Besetzungswechsel zwangen sie 1985 zum Aufhören. Bevor sie sich auflösten, spielten sie ihre letzte Show im Virus Squat in Mailand, gemeinsam mit ANTISECT aus England. Unglücklicherweise führte das starke Engagement von WRETCHED, alles selbst zu machen, dazu, dass ihre Platten außerhalb Italiens immer schwer erhältlich waren. Erst in den vergangenen Jahren wurden sämtliche Platten wieder neu aufgelegt, sogar als 7“-Box mit ihren fünf Singles. Bassist Fabio kümmert sich ausgiebig um den Nachlass der Band, während Sänger Gianmario heute als Anwalt tätig ist und kein Interesse mehr an seinen Jugendaktivitäten hat.

Eine sehr schöne, weil liebenswerte Geschichte handelt von KINA aus dem wunderschönen Aosta-Tal. Das liegt in den italienischen Alpen näher am schweizerischen Matterhorn als an Turin. Dennoch hielten sich die drei Bandmitglieder von KINA vor allem in Turin und seiner umtriebigen Punk-Szene auf. Wenn sie Punkrock hören wollten, dann mussten sie sich selbst darum kümmern. Von 1982 bis 1997 brachten sie neun Alben und sechs Singles heraus. Sie hätten nie gedacht, dass sie jemals aus ihrem abgeschiedenen Tal herauskommen würden, aber letztendlich waren sie mehr als ein Dutzend Mal auf Tour in Europa und haben sich mit ihrem wunderbaren, eher an der Musik von HÜSKER DÜ orientierten Punk in die Herzen von vielen Menschen im subkulturellen Deutschland gespielt. Sämtliche Platten von KINA wurden in den letzten Jahren wiederveröffentlicht. Nach dem Ende von KINA machten Gitarrist Alberto Ventrella und Drummer Sergio Milani unter dem Namen FRONTIERA weiter. Vor der Corona-Zeit gab es einige wenige Reunion-Shows, unter anderem auch in Deutschland. Glücklich schätzen können sich diejenigen, die diese Konzerte gesehen haben. Sergio arbeitet heute als Bergführer, Bassist Gianpiero leitet eine eigene orthopädische Reha-Einrichtung und lehrt an einer Fachhochschule im Schweizer Tessin.

Wenn es um wirklich krasse Persönlichkeiten geht, dann muss man CHEETAH CHROME MOTHERFUCKERS (kurz: CCM) aus Pisa nennen. Keimzelle für die Punk-Szene in Pisa war das G.D.H.C.-Squat (Gran Ducato Hard Core). Bereits 1981 erschien die erste 7“, „Four Hundred Fascists“, die heute im Original kaum unter 200 Euro erhältlich ist. Im Dezember 1985 sah ich CCM zum ersten Mal. Der Kernspruch „Making Punk A Threat Again“ traf hier in der Tat zu. Konzerte mit CCM waren keine Luschen-Veranstaltungen. Sänger Syd Migx agierte auf der Bühne wie ein waidwundes Tier, verausgabte sich bis zum Letzten. Es geschah nicht selten, dass sich Syd auf der Bühne verletzte und wie ein Schwein blutete. Adrenalin schützte vor vorzeitigem Absturz. Ich stand vor der Bühne und habe Fotos gemacht und hatte ohne Scheiß echt Muffensausen vor diesem Maniac. Aber auch die anderen Bandmitglieder gaben ziemlich heftig Gas. Die Musik von CCM war sperrig, knarzig, wütend und brutal, aber kaum jemand hat so vehement mit dem Finger in die Wunden der Gesellschaft gebohrt wie CCM. 2017 erschien auf Area Pirata eine Diskografie-Doppel-LP mit allen Studioaufnahmen der Band, die heute noch erhältlich ist. Rufe ich mir die Live-Szenen der Band aus den Achtziger Jahren vor mein geistiges Auge, dann sind im Vergleich gut 90% der heute auftretenden Bands eher Luschen. Sorry, dass ich es so formuliere, ist aber so. Zum Glück gibt es CCM nicht mehr. Das hält doch kein Schwein aus ...

Wichtig waren auf jeden Fall auch EU’S ARSE aus Udine, die von 1981 bis 1985 existierten. Ihre 1982er 7“ „Lo Stato Ha Bisogno Di Te? Bene, Fottilo“ als auch die 1983er Split-7“ mit IMPACT waren musikalische Highlights, die sich beide als Originalpressung im dreistelligen Bereich bewegen. Musikalisch gehörten sie wie WRETCHED ebenfalls der Fraktion der Chaospunx an und haben ihren Unmut gegenüber der Gesellschaft regelrecht rausgekotzt. „Ribelle“, „Attacco“, „Combaittili“, „Cibernauti“, „E noi?“ oder „Servitu militari“ sind bis heute Kultsongs der italienischen Hardcore-Punk-Szene. Seit einigen Jahren gibt es EU’S ARSE wieder, wobei Bassist Kily das einzige verbliebene Originalmitglied ist. Die neuen Leute sind aber allesamt keine Unbekannten, denn Drummer Stefano war in den Achtziger Jahren bei UPSET NOISE und Sänger Richard zuvor bei WARFARE, und beide verfügen über extrem viel Erfahrung. EU’S ARSE habe ich vor kurzem erst in Belgien gesehen und bin der Meinung, dass sie von den alten italienischen Bands aktuell die geilste ist. Der neue Gitarrist Marco Simonella ist echt ein Viech, unfassbar, was der da an Riffs abreißt. Und Sänger Richard gehört mein Herz für die exaltierteste Bühnen-Performance ever. Was für ein Psycho! Geil.

Eben hatte ich bereits Udine erwähnt, eine italienische Grenzstadt an der Adria, nahe Slowenien. Dort starteten UPSET NOISE 1983 und veröffentlichten bereits ein Jahr später ihre erste Split-7“ gemeinsam mit WARFARE. Da spielten sich noch ziemlich guten Hardcore Punk, allerdings hörten sie sich so wie viele Bands zu diesem Zeitpunkt an. Das änderte sich ab der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre, als sie ihrem Hardcore-Punk eine ganze Menge Metal hinzufügten. In Italien waren sie damit damals ganz klar Vorreiter. Ihre Alben „Nothing More To Be Said!“ (1987) und „Growing Pain“ (1989) stehen exemplarisch für Crossover-Thrash aus Italien. Durch gemeinsame Konzerte kam es dazu, das ihr Song „Growing pain“ 1990 von JINGO DE LUNCH auf deren LP „Underdog“ gecovert wurde, was zu weiterer Bekanntheit führte. Doch 1995 endete die Zeit für UPSET NOISE.

Alessandria, eine Kleinstadt im Piemont zwischen Genua und Turin, war die Heimstätte von PEGGIO PUNX, die Anfang der Achtziger Jahre aus einem Freundeskreis heraus entstanden und anfangs eher mit experimentellen Sounds agierten. Aber bereits ab 1983 zeigten sie mit ihrer ersten 7“, „Disastro Sonoro“, wo der Hammer hängt. Eine weitere 7“ folgte, aber überregional bekannt wurden sie erst mit ihrer 1985er 12“ „Ci Stanno Uccidendo Al Suono Della Nostra Musica !! E.P.“. Wie erklärt man hektischen, wilden, ungestümen und trotzdem wild charmanten Hardcore-Punk? Diese 12“ ist ganz klar die Blaupause für diesen großartigen Sound, wobei PEGGIO PUNX zugleich aber auch immer wert auf explizit politische Texte legten. Sie standen linken Ideen als auch der Hausbesetzerszene nahe und haben immer klare Worte gefunden. Bis 1989 war die Band aktiv. 2012 wurden alle Aufnahmen von F.O.A.D. Records auf 2 CDs in der Box „30 Anni Di Rumori“ wiederveröffentlicht.

Als zehnte Band erwähne ich hier IMPACT aus Ferrara, das in der Po-Ebene in der Emilia-Romagna liegt. Bereits 1980 gründeten sich IMPACT, die 1983 mit ihrer Split-7“ mit EU’S ARSE für Aufsehen sorgten und einen größeren Bekanntheitsgrad erlangten. Absolut herausragende IMPACT-Veröffentlichungen sind die 1985 erschienene „Solo Odio“-LP auf dem WRETCHED-Label Chaos Produzioni als auch die 1986er „Attraverso Involucro“-12“-EP auf dem KINA-Label Blue Bus. Alle drei Platten sind auf Bandcamp zu finden. Schlagzeuger Gigo starb 2022 leider an Corona, was zu großer Bestürzung innerhalb der italienischen Szene führte. Im Juli 2023 fand in Ferrara zu Ehren von Gigo das Distruggi La Bassa Festival statt, wo neben IMPACT auch weitere alte italienische Bands auftraten. Videos davon sind auf YouTube zu finden.