LOST LYRICS

Foto© by Michy Winter

Ach, die gibt’s noch?

Rechtzeitig zum dreißigjährigen Bandjubiläum gibt es mit „Freak Preview“ eine neue Platte von THE LOST LYRICS. Und auch 2020 serviert das nordhessische Trio wieder energischen und melodischen Punkrock mit tollen Texten, die auch bei politischen und gesellschaftskritischen Themen nicht bemüht oder verkrampft wirken. Bei dem neuen Album, übrigens zum ersten Mal nur auf Vinyl und digital erhältlich, ist ihnen das meiner Ansicht nach wieder ausgesprochen gut gelungen, so dass ich mich bei Holger (voc, gt), Kati (bs, voc) und Steffen (dr, voc) mal nach dem Stand der Dinge erkundige.

Dreißig Jahre THE LOST LYRICS – wie fühlt sich das an?

Kati: Da ich ja „erst“ fünfzehn Jahre dabei bin und ich vor dreißig Jahren in dem Alter war, in dem ich gerade angefangen habe, aktiv Musik zu hören, sehe ich Holger als gutes Beispiel dafür, dass man auch im hohen Alter noch was losmachen kann, haha. Aber im Ernst: Neben der Frage, wie man sich so als einzige Frau in einer Band fühlt – danke, gut! –, ist das, was wir am meisten hören: Ach, die gibt’s noch? Mittlerweile verstehe ich das als Kompliment!
Holger: Jetzt, da die Drei vorne steht, fühlt es sich tatsächlich etwas unwirklich an. Über die Hälfte des Lebens hat die Band uns schon begleitet, und wir haben unheimlich viel dadurch erlebt. Wir haben kürzlich unsere Homepage neu gestaltet und zu diesem Zweck auch viel aus der Bandhistory aus der erinnerungsmäßigen Versenkung hervorgeholt. Und da wurde uns bewusst, wie sehr die Band auch das eigene Leben mitgeprägt hat. Vor allem durch die vielen tollen Leute, die wir kennen gelernt haben und die zum Teil zu Freunden geworden sind. Das wäre sonst alles weggefallen. Vor allem bin ich aber allen echt dankbar, die mit mir THE LOST LYRICS all die Jahre am Laufen gehalten haben. Ohne meine Mitmusikantinnen und Mitmusikanten wäre noch nicht mal eine Eins vorne. Als Basti, Karsten und ich uns im Keller von Karstens Eltern beim ersten Treffen durch ein paar Covertracks probten, hätte mir mal einer erzählen sollen, dass ich dreißig Jahre danach Interviewfragen zu dieser Band beantworten werde. Das meine ich mit „unwirklich“.
Steffen: Das geht tatsächlich alles noch. Ich kann dir aber sagen, wie ich mich nach dreißig gespielten Songs am Schlagzeug fühle. Kennst du die Geschichte vom Gummiarmmann? Für mich sind es mittlerweile siebzehn Jahre in dieser Band, und das ist schon eine stattliche Zeit. Wenn man überlegt, wie viele Bands und Trends seitdem gekommen und wieder gegangen sind ...

Eure neue Platte ist schön kurz und knackig geworden, finde ich. 14 Songs voll auf die Zwölf in bester RAMONES-Manier. Von einstigen Liedermacher-Anklängen ist nichts mehr zu erkennen. Bewusst oder unbewusst?
Steffen: Der politische Geist der Zeit treibt uns da unter anderem um. Und das spiegelt sich dann wohl auch in den aktuellen Songs wider. Wobei ja auch durchaus ruhigere Lieder mit den richtigen Texten für ganz viel Härte und Aufruhr sorgen können.
Holger: Meinst du damit, dass weniger ruhigere Parts in den Liedern vorkommen? Das ist gut möglich, ist aber eher unbewusst, würde ich sagen. Wir haben uns nicht hingesetzt und gesagt: So, wir müssen jetzt härtere Songs machen. Es muss eben zu den Texten passen. „Immer schön authentisch bleiben“, bleibt sozusagen unser Motto. Wir sind zum Glück nicht in der Lage, Sachen machen zu müssen, die irgendjemand von uns erwartet.
Kati: Da kann ich Holger nur zustimmen, wobei ich finde, dass uns die „härtere“ Seite gut steht und mir selbst sehr in die Karten spielt.

Was ist die Geschichte hinter dem neuen Song „Punkrock generation gap“?
Holger: Auf einem Open Air in unserer Gegend spielten mal BLACK FLAG und danach WIZO. Und nach BLACK FLAG tauschte sich fast das komplette Publikum aus. Ich dachte mir: Das ist vielsagend, und das gibt einen Song! Aber natürlich treffe ich selbst immer wieder mal jüngere Punks, die mit meinen Erfahrungen, Bands und Einstellungen nicht mehr viel anfangen können, weil sie in einer anderen Zeit mit anderem Soundtrack in diese Subkultur eingetaucht sind. Auch wenn das Label „Punk“ das gleiche geblieben ist. Wenn eine Bewegung ein paar Jahrzehnte existiert, bleibt so ein „Generation Gap“ nicht aus. Es ist immer wieder spannend, das zu erleben, aber es ist auch ein etwas wehmütiges Lied über die Unmöglichkeit von gelungener Kommunikation in der eigentlich gleichen Schublade.

In einigen Texten wird es auch dieses Mal wieder politisch. Wie seht ihr dieses Land momentan? Wird alles nur schlimmer oder manches vielleicht doch besser?
Holger: Es wird einfach bedrohlicher. Bedroht sind Empathie, Solidarität, Mitmenschlichkeit, Toleranz und schlicht und einfach die Vernunft. Also all das, was uns zu Menschen macht und das gemeinschaftliche Leben lebenswert. In der Hinsicht drehen sich viele der neuen Lieder um diese Bedrohungen. Rechte Bewegungen werden zum Beispiel in Europa seit Jahren immer stärker. Ängste, Neid, Hass und Egoismus sind derzeit aus ganz verschiedenen Gründen so ausgeprägt, wie ich sie nie vorher erlebt habe, auch nicht nach 1989/90. Und durch die Möglichkeiten des Internets verbreiten sie sich auch wirkungsvoller. In der Krise zeigen viele dann ihr wahres Gesicht. Die positiven Gegenkräfte gibt es zwar, sie halten aber offenbar nicht Schritt damit. Es wird derzeit noch nichts besser, denke ich, und unseren Song „Zweierminderheit“ haben wir zum Beispiel genau deswegen so geschrieben.
Kati: Ganz so pessimistisch sehe ich das nicht. Ja, viele Sachen scheinen schlimmer zu werden. Oder werden sie einfach offensichtlicher und salonfähiger? „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ und dies mit einem Mausklick zu erledigen, ermöglicht vielen Menschen, ihre persönlichen Abgründe öffentlich zur Schau zu stellen, die sie sonst vielleicht nur beim Stammtisch „publiziert“ hätten. In meiner Arbeit mit Jugendlichen habe ich aber auch die Erfahrung gemacht, dass viele Themen wie Homosexualität, Transgender und Gleichstellung für die Kids kein Thema sind und da eine viel höhere Akzeptanz von Unterschiedlichkeit vorliegt. Das Gleiche gilt für Rassismus. Natürlich gilt das nicht für alle, aber es gibt Potenzial, das es zu erhalten und zu fördern gilt.
Steffen: Ich sehe da auch ganz viel gutes Potenzial gegenüber dem ätzenden Menschenschrott, der sich auf der Straße oder dem Netz in seiner oft kleinbürgerlichen Wut in seinem Wohlstand bedroht fühlt und sich auskotzt. Wichtig ist aber weiterhin, dass die positiven Kräfte zur Verantwortung gezogen werden, wenn es darum geht dagegenzuhalten. Da kann man sich die „New Media World“ durchaus zum Vorteil erarbeiten. Wichtiger denn je: Solidarität!

Was machen eigentlich die Ex-THE LOST LYRICS-Mitglieder inzwischen?
Holger: Nun, Berufe haben sie alle und Familie fast alle; ansonsten ist das natürlich recht verschieden. Während die Herren Bassisten sich tendenziell eher völlig aus der Musik verabschieden, macht Stefan immer noch mit THE SWIPES die Bühnen der Republik unsicher. Basti, mit dem ich die Band gegründet hatte, lebt leider seit zwölf Jahren nicht mehr.

Welche Platten haben euch durch den Corona-Lockdown begleitet?
Steffen: Meine freie Zeit war leider sehr limitiert durch meine Tätigkeit in der Behindertenhilfe, ich hätte gerne mal meine LP-Sammlung sortiert und vor allem erweitert. Das hole ich nun aber nach. Was ich aber nicht verpassen wollte, war das neue KOMMANDO MARLIES-Album im April. Das dreht sich heiß bei mir. Gegönnt habe ich mir aber auch die Anschaffung einer historischen Jukebox für die wilden Beat-Partys in meiner Bude, haha.
Holger: Oh, von ganz alt bis ganz neu. Platten sind ja wie alte Bekannte, die man zwar mal aus den Augen verliert, aber mit denen man schnell wieder ganz dicke ist, wenn man sie wieder trifft. Die neueste MILLENCOLIN-Scheibe hat mich begeistert, das war die schönste neue Bekanntschaft. Und ich habe HERESY wiederentdeckt, die ich 1987 im JUZ Göttingen gesehen habe und seitdem habe ich nie wieder so einen brachialen Ausbruch von Power erlebt, außer vielleicht bei NEGAZIONE. Von den deutschen Sachen: „Angst“ von NEUROTIC ARSEHOLES. Das ist sozusagen eine Dauerfreundschaft. 1985 seiner Zeit um Längen voraus.
Kati: So unterschiedlich kann das ein. Während Holger Zeit hatte, sich seiner Plattensammlung zu widmen, habe ich das Gefühl, so viel gearbeitet zu haben wie nie. Wie schimpft sich das? Ach, „systemrelevant“! Außerdem war ich mit dem Artwork für die neue Platte und dem Video beschäftigt. Da blieb nicht mehr viel Zeit.