LUNACHICKS

Foto© by Michael Lavine

The future is all of us

Um ein Haar wäre aus Theo eine Prima Ballerina geworden. Am Ende stand sie tatsächlich verschwitzt und mit Tutu auf der Bühne. Warum sie dabei allerdings statt Theaterluft Bierfahnen und Zigarettenqualm schnupperte, verriet die Sängerin von den LUNACHICKS im Zoom-Interview. Außerdem warfen wir einen Blick in die im Juni erscheinende Bandbiografie „Fallopian Rhapsody“, in der die New Yorker Punkband Storys über Sexismus, Drogenabstürze und Female Empowerment erzählt. Dabei stellen wir nebenbei fest, dass Ballett und Punk gar nicht so weit auseinanderliegen.

Bis auf zwei Reunion-Shows waren LUNACHICKS von 2000 bis 2019 inaktiv. Was ist in diesen 19 Jahren alles passiert?

Oh je, eine Menge! Ich hatte viele andere kreative Ventile. Ich hatte eine Band mit meinem Mann und ein paar anderen Jungs namens THEO AND THE SKYSCRAPERS. Ich besaß eine Lipgloss-Firma, die vor vier Jahren dichtgemacht wurde, bekam ein Kind und wurde Make-up Artist. Die Band hat sich nie aufgelöst, wir haben nur nicht mehr gespielt.

Jetzt habt ihr ein Buch veröffentlicht, „Fallopian Rhapsody“. Eine Art Bandbiografie, in der ihr euch nicht davor scheut, sehr persönlich und ehrlich über psychische Probleme und Drogenmissbrauch zu erzählen. Wieso ein Buch und warum jetzt?
Gute Frage. Wir haben schon vor einer Weile mit dem Schreiben angefangen, es war lange ein unfertiges Werk. Das Buch ist unsere Art, unsere Geschichte zu erzählen und anderen damit zu helfen. Es geht viel darum, wie es ist, eine Frau und vor allem eine Frau im Musikbusiness zu sein. So wie ich das sehe, hat sich bis heute nicht viel geändert. Es gibt diese Show auf Netflix, „Hysterical“. Das ist eine Dokumentation über weibliche Comedians. Da ist es genau das Gleiche: Die Clubs wollen nicht mehr als eine Frau in der Woche auftreten lassen. Es macht einen sprachlos. Und ich denke, gerade mit Blick auf die Trump-Regierung und die #MeToo-Bewegung ist jetzt ein guter Zeitpunkt für die Veröffentlichung. Wir haben Jahre gebraucht, um uns mit all dem auseinanderzusetzen und in der Lage zu sein, es auf eine Art zu erzählen, die ehrlich, liebevoll und frei von jeglichem Groll ist.

Das Buch beginnt mit einem Bericht über einen sexuellen Übergriff, den ihr als Band erlebt habt. Warum habt ihr euch entschieden, damit zu anzufangen?
Das ist ein Verdienst der Journalistin Jeanne Fury, die „Fallopian Rhapsody“ mit uns geschrieben hat. Als wir das Buch präsentiert haben, ging es gleich mit einem „Bäm!“ los, was einfach perfekt zu uns passt. Außerdem bringt diese Geschichte die ganze Situation auf den Punkt. Als ich die Stelle gelesen habe, dachte ich: Das ist eine so aufregende und filmreife Szene! Es ist toll, ein Buch so zu beginnen. Wenn man ein Buch beginnt, möchte man sofort gepackt werden.

Im ersten Moment denkt man, es geht um Belästigung, aber dann merkt man, dass es eigentlich das Gegenteil ist, nämlich eine Geschichte über starke Frauen.
Ganz genau!

Was mir beim Lesen des Kapitels über deine Jugend aufgefallen ist: Wir haben eine Menge gemeinsam. Ich habe zum Beispiel auch Ballett getanzt. Ich fand übrigens immer, dass es viele Parallelen zwischen Punk und Tanz gibt.
Das ist total cool. Ich glaube, ich habe genau das in mich aufgesogen, ohne es zu merken. Als ich mit Ballett anfing, war ich richtig besessen davon. Ich wollte im Rampenlicht stehen und ein Tutu tragen. Beides habe ich später als Sängerin getan, aber ich habe das nie so in meinem Kopf zusammengefügt, also Danke!

Wenn ich Leuten aus der Szene erzähle, dass ich mit 15 nicht NOFX, sondern Musicals gehört habe, werde ich immer schief angeschaut. Aber für mich waren das nie zwei verschiedene Welten. Eher ein Ausdruck der gleichen Sache, aber in einer anderen Sprache.
Ja! Und was ist punkiger, als ein Punk zu sein, der Musicals hört? Wenn es bei Punk darum geht, individuell zu sein und gegen den Strom zu schwimmen, ist NOFX zu hören weniger Punk, als Musicals zu mögen. Ich finde, das ist ein Problem in jeder Gruppe oder Szene: Es gibt all diese Regeln – wie beim Ballett –, während es doch eigentlich darum geht, sich selbst auszudrücken und das zu tun, was man will, ohne dafür verurteilt zu werden.

Du wolltest lange Prima Ballerina werden. Wann hast du deine Pläne geändert?
Es war mir sehr ernst damit, ich studierte an der Joffrey Ballet School in New York. Ich war gerade in einem Kurs und wärmte mich auf, das kennst du ja. Ich konnte aber nie einen Spagat. Ich hatte gerade die Beine auseinander und stützte mich nur auf meinen Händen ab, als eine andere Tänzerin hinter mir auftauchte und meine Schultern herunterdrückte. Es tat so weh, sie hätte die Sehnen reißen lassen können! Das ist zwar nicht passiert, aber ich war böse verletzt. Danach musste ich eine Weile aussetzen. Als ich wiederkam, sagten sie, ich müsse in einen Kurs eine Stufe tiefer, um meine Haltung gerade zu bekommen und so weiter. Das war so langweilig! Das wollte ich nicht mehr machen, also habe ich aufgehört. Ich ging dann auf die Kunsthochschule LaGuardia, bekannt aus dem Film „Fame“. Da gab es Tanz, Musik und Kunst. Ich fragte mich: Was soll ich machen?! Will ich wirklich Ballerina werden? Meine Eltern drängten mich, Kunst zu machen. Ab da hat sich alles auf Kunst verlagert. Aber das Tanzen war schon immer Teil meines Lebens. Ich liebe es immer noch und vermisse es ständig. Meine Tochter und ich tanzen zusammen, das ist schön, haha.

Du bist mit Fat Mike befreundet, er hat eines eurer Alben mitproduziert und die LUNACHICKS waren mehrfach mit NOFX auf Tour. In unserer Februar/März-Ausgabe hat er im Ox-Interview einige Dinge erzählt, die man negativ auslegen könnte.
Haha! Ich liebe Fat Mike, aber das ist so widerwärtig und ich bin sicher, er weiß das. Oder er glaubt es wirklich. Ich meine ... haha, besonders wenn man bedenkt, dass wir mit ihm auf Tour waren! Manchmal sagt er Sachen, um sich wie ein Idiot zu verhalten und die Leute anzupissen. Das ist einfach lächerlich. Die Leute können unsere Erfahrungen mit ihm im Buch nachlesen. Er ist, wie er ist, er sagt dummes Zeug und macht dummes Zeug. Was er sagt, stimmt einfach nicht. Oh Gott ... Das ist das Problem mit der weißen Männerwelt. Weiße Männer kümmern sich nur um sich selbst. Na ja, davon will ich gar nicht erst anfangen, haha.

Es klingt, als würde er sagen, die Männer in der Szene trügen keine Verantwortung, Frauen* zu fördern. Aber sind Männer nicht unverzichtbare Verbündete, da wir nun mal in einem Patriarchat leben?
Eben. In Mikes Welt ist das so: Frauen gehören hierhin, Männer gehören dorthin. Er sieht die Realität der Bands nicht, mit denen er getourt hat – in denen Frauen sind, die sogar Gitarre spielen!

In „Fallopian Rhapsody“ erzählt ihr auch, dass Promoter euch oft nicht in einem Club spielen lassen wollten, weil eine Woche zuvor schon eine andere Frauenband dort aufgetreten ist. Die Musikpresse sei keinen Deut besser, heißt es weiter. Ist das heute immer noch so?
Es ist schon lange her, dass wir gespielt haben, und die Leute scheinen begeistert davon zu sein, uns bald wieder live zu sehen, deswegen kann ich das jetzt nicht für uns sagen. Wir sind gerade aber auch nicht auf Tour, sondern haben nur ein paar Shows gebucht. Doch da wir weit oben im Line-up vom Punk Rock Bowling in Las Vegas stehen, hoffe ich, dass sich vielleicht etwas verändert hat. Aber ich habe kürzlich mit Frauen aus Bands wie MOTHER FEATHER und DESTROY BOYS gesprochen und da klingt es so, als hätte sich rein gar nichts getan. Der gleiche Sexismus, die gleichen Fragen: „Wie ist es, als Mädchen in einer Band zu spielen?“ Fragst du Männer danach? Wie es ist, ein Kerl in einer Band zu sein? Wie es ist, einen Penis zu haben? Ich wünschte, wir könnten das überwinden. Es gibt so viele strukturelle Probleme wie Rassismus und Sexismus. Es ist so tief in allen Menschen verankert, dass sie nicht darüber hinwegkommen. Dabei ist es höchste Zeit, es reicht!

Du bist schon seit mindestens zwei Jahrzehnten Feministin. Wie haben sich feministische Diskurse in den letzten zwanzig Jahren gewandelt?
Es gibt so viel mehr Begriffe, zum Beispiel für die LGBTQIA-Szene, nicht-binäre Menschen, alternative Pronomen. Es gibt exklusiven und inklusiven Feminismus. Es gibt Dinge, von denen ich wahrscheinlich nicht einmal den Namen kenne. Ich war schon immer jemand, der inklusiv ist. Ich hatte schon immer Drag Queens und Trans-Menschen um mich herum. Für mich bedeutet Feministin zu sein, dass mir all das wichtig ist. Die Rechten und die Tatsache, dass Trump hier im Amt war, hat etwas Bestimmtes bewirkt: Die Leute gehen sich gegenseitig an, obwohl wir eigentlich alle auf der gleichen Seite stehen und das Gleiche wollen. Diese ganzen Kämpfe machen mich wahnsinnig. Das ganze Hickhack, dieses „Du hast etwas Falsches gesagt“ oder „Du darfst dies oder das nicht sagen“. Es sollte nicht heißen „The future is female“, sondern „The future is all of us“. Das Positive ist aber, dass es heutzutage so viele nicht-binäre Menschen gibt, ich liebe es, dass die Kids sich auf diese Weise ausdrücken können. Es ist toll, wenn Menschen ihr Geschlecht infrage stellen, wenn Männer Kleider und Bärte tragen. Das macht einfach Spaß und ich lebe buchstäblich dafür. Ich liebe es, dass meine Trans-Freunde jetzt Film- und Fernsehrollen bekommen. Die Welt öffnet sich in vielerlei Hinsicht, und das ist das Gute, das die vergangene Zeit bewirkt hat.

Viele verbinden Drag Queens wahrscheinlich mit Männern mit Make-up und Perücken und wissen gar nicht, dass auch Frauen sich für Drag begeistern.
Drag Queens machen Drag, um das Aussehen einer Frau zu verkörpern, wie zum Beispiel von Diana Ross, Marilyn Monroe, Dolly Parton, all diese wunderschönen, atemberaubenden, aber auch verspotteten und übertriebenen Charaktere. Drag ist einfach unglaublich. Es passt zu meiner Liebe für Clownerie und Glamour. Letztendlich bin ich vielleicht nicht-binär, ich weiß es nicht, ich bin einfach ich. Ich habe mich immer ein bisschen wie ein Typ und ein bisschen wie ein Mädchen gefühlt. Aber es liegt eine gewisse Macht darin, sich glamourös zu kleiden. Ich wurde oft mit einer Drag Queen verwechselt, was ich unglaublich fand, aber ich fühlte mich dadurch geschmeichelt. Wahrscheinlich weil ich nach heutigen Maßstäben letztlich queer bin. Ich bin eine queere Frau, die mit einem Mann verheiratet ist. Wenn ich mich verkleidet habe, fühlte ich mich mächtiger – wie eine Superheldin und auch mehr wie ich selbst.

Da ist wieder diese Parallele zwischen Drag, Tanzen und Punk: Es geht um Übertreibung und die Liebe zum Künstlichen.
Oh meine Güte, ja!

Was ist deine Lieblingsstelle im Buch?
Eine meiner Lieblingsstellen ist dieses Zitat von Squid: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit Leuten geschlafen habe, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Davon abgesehen, das holländische Wort für Knoblauchmayo ist Knoflooksaus.“ Außerdem liebe ich die Sicht der anderen Mädels auf mich. Da haben wir, glaube ich, alle ähnlich empfunden, als wir die Parts der anderen gelesen haben. Ich liebe es, wie Squid beschreibt, wie ich diesem Typen ins Gesicht geschlagen habe. Ich erinnere mich daran, wie es passiert ist, wie wütend ich war und wie groß er war. In dem Moment konnte ich mich nicht beherrschen. Als ich ihm eine reingehauen habe, habe ich gehofft, dass er zu Boden geht, aber er taumelte nur etwas. Als ich Squids Beschreibung las, dachte ich: Kam das echt so rüber? Cool!

Seit 1. Juni ist das Buch raus, können wir jetzt auch eine neue Platte erwarten?
Ich weiß es nicht, das kann ich noch nicht sagen. Wir haben uns natürlich seit einem Jahr nicht mehr getroffen. Gerade haben wir das Hörbuch aufgenommen und das war das erste Mal, dass wir uns persönlich gesehen haben, außer via Zoom. Wir werden aber bald mit den Proben beginnen.

Das ist kein Nein.
Haha, genau.

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Fünf Teenager der berühmten LaGuardia High School in New York (bekannt aus dem 1980er Kinohit „Fame“) taten sich 1987 als LUNACHICKS zusammen: Theo Kogan (voc), Gina Volpe (gt), Sydney „Squid“ Silver (bs), Sindi Benezra Valsamis (gt) und übergangsmäßig ein Freund Kogans als Schlagzeuger, der dann von Becky Wreck (aka Susan Rebecca Lloyd) abgelöst wurde. Schon früh machten sie sich einen Namen in ehrwürdigen lokalen Clubs wie CBGB oder The Limelight, wo sie die Aufmerksamkeit von Kim Gordon und Thurston Moore von SONIC YOUTH auf sich zogen. 1990 veröffentlichte das Londoner Plattenlabel Blast First ihr Debütalbum „Babysitters On Acid“. Von Anfang an waren die Texte von feministischen Kampfansagen und die Konzerte von bizarren Kostümen, riesigen Perücken und grellem Make-up geprägt. Schnell entwickelten sich die LUNACHICKS zusammen mit Bands wie HOLE und L7 in der Punk-Szene zu so etwas wie einer moralischen Instanz, was Sexismus in den eigenen Reihen anging. Mehr als ein Jahrzehnt lang veröffentlichten die ständig tourenden LUNACHICKS, die der Riot Grrrl-Bewegung zugerechnet werden, fünf Studio-CDs, ein Live-Album und unzählige Singles. In den Neunzigern teilten sie sich die Bühne mit den RAMONES, Joan Jett, RANCID, Deborah Harry und NOFX. Im Laufe der Jahre wechselte die Band das Label und machte einige Neubesetzungen am Schlagzeug durch. Das letzte Album „Luxury Problem“ (1999) erschien via Go Kart. Nach dem Ausstieg von Rhythmusgitarristin Sindi im Jahr 1997 blieben die New Yorker:innen ein Quartett. Theo, Gina, Squid und Chip (dr, seit 1994) legten von 2000 bis 2019 allerdings eine Pause ein. Seitdem spielen sie vereinzelt Konzerte und veröffentlichen nun mit „Fallopian Rhapsody“ ihre Bandbiografie inklusive Hörbuch.