MICK HARVEY

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Jenseits von „sound and fury“

Der australische Multi-Instrumentalist Mick Harvey war Gründungsmitglied von THE BOYS NEXT DOOR, THE BIRTHDAY PARTY und NICK CAVE & THE BAD SEEDS und parallel bei CRIME & THE CITY SOLUTION aktiv. Die BAD SEEDS hat er 2009 nach 25 Jahren verlassen, seither einige Solo- und diverse Serge Gainsbourg-Coveralben eingespielt, Filmscores geschrieben, Theatermusik komponiert und regelmäßig am „Jeffrey Lee Pierce Sessions Project“ mitgewirkt. Anlässlich seiner neuen Soundtracks „Waves Of Anzac“ und „The Journey“ und einiger Konzerte in Europa im Zuge der Wiederveröffentlichung der beiden Soloalben seines Freundes und langjährigen Weggefährten, dem 2009 verstorbenen BIRTHDAY PARTY-Gitarristen Rowland S. Howard, war es Zeit, ihm einige Fragen zu stellen. Harvey lebt heute mit seiner Frau, der Malerin Katy Beale, und seinem Sohn wieder in Australien im Norden von Melbourne.

Mit der Filmmusik zu „Waves Of Anzac“ hat du dich erneut mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt – wie beim letzten Soundtrack, den du geschrieben hast, zu „The Fall And Rise Of Edgar Bourchier And The Horrors Of War“. Du hast dieses Thema auch als Produzent von PJ Harvey bei deren Album „Let England Shake“ aufgegriffen. Woher kommt dieses Interesse?

Ich kann das tatsächlich nicht in aller Kürze beschreiben. Hierzu bedarf es einer sehr ausführlichen Erklärung, die hier vermutlich den Rahmen sprengen würde. Es ist etwas, das mich seit meiner frühesten Jugend interessiert und das, bevor ich realisierte, dass mein Großvater als Kriegsteilnehmer bei der Landung australischer Truppen auf der türkischen Halbinsel Gallipoli im Ersten Weltkrieg teilgenommen hat. Das war allerdings lediglich ein Zusatzaspekt zu meinem generellen Interesse an diesem Thema. Vermutlich ist dieses Interesse nun etwas breiter bekannt und immer dann, wenn es hierzu Filmprojekte gibt, wenden sich die beteiligten Autoren oder Regisseure auch an mich.

Ich habe im Januar Nick Cave auf seiner „An Evening of Talk and Music“-Tour im kleinen Rahmen in Wiesbaden in Deutschland gesehen. Eine anwesende Australierin äußerte sich dabei kritisch über die australische Regierung, was er etwas irritiert und knapp mit dem Satz kommentierte: „Im Vergleich zu welcher anderen schlechten Regierung?“ Bist du ein politischer Mensch?
Ich bin sicher ein politischerer Mensch als Nick. Er hat in dieser Hinsicht bisher relativ wenig Ambitionen erkennen oder öffentliche Meinungsbekundungen verlautbaren lassen. Ich fürchte, er ist generell etwas konservativ geprägt. Ich würde mich selbst eher als „Sozialist“ bezeichnen, aber ich habe eine große und ausgeprägte Abneigung gegen den politischen Apparat im Allgemeinen. Bis heute versuchen die Menschen, den richtigen Weg zu finden, wie gesellschaftliche Strukturen geschaffen werden können, um ein besseres Zusammenleben zu ermöglichen. Vielleicht kommen wir irgendwann dorthin, vielleicht sogar schon bald, aber bisher waren Manifestationen einer echten Demokratie oder eines funktionierenden, gerechten oder fairen Sozialismus eher selten.

Der Buchhändler Gerard Elson aus Melbourne arbeitet aktuell an einer Biografie über Rowland S. Howard mit dem Titel „Something Flammable: Approaching the Ghost of Rowland S. Howard“. Warst du daran beteiligt?
Ja, es gab ein Interview mit Gerard. Aber das ist schon eine Weile her. Wir haben uns lange über sein Buch ausgetauscht.

Der Bruder von Rowland, Harry Howard, der auch bei CRIME & THE CITY SOLUTION aktiv war, hat heute eine Band namens HARRY HOWARD AND THE NEAR DEATH EXPERIENCE. Hast du Kenntnis, ob Rowland, der Ende 2009 an Leberkrebs verstorben ist, eine Nahtoderfahrung hatte?
Er fühlte sich sicherlich eine Zeit lang so, als sich Mitte 2009 bestätigte, dass seine Krankheit wahrscheinlich unheilbar ist. Er diskutierte dies damals ein wenig, aber nicht so sehr mit mir direkt. Ich habe gehört, wie er ganz offen mit Brian Hooper, dem Bassisten der BEASTS OF BOURBON, der leider 2018 verstorben ist, darüber sprach, da er der Meinung war, dass Brian in der Lage sei, sich in die Sache besser einzufühlen. Wie bei den meisten Menschen, die ich in seinem Zustand erlebt habe, wurde er ziemlich vorsichtig, als das Ende immer unausweichlicher erschien.

Nick Cave spielte an diesem Abend auch „Shivers“, den zentralen Song, den Rowland für die BOYS NEXT DOOR geschrieben hatte. Was gibt dir ein „besseres Gefühl“ der Erinnerung an Rowland: „Shivers“ selbst zu spielen oder „October boy“, den Song, den du speziell für Rowland geschrieben hast?
Wahrscheinlich nichts von beidem. Warum sind es überhaupt die beiden Optionen? Die letzten Rowland-Tribute-Shows in Europa, die ich gespielt habe, enthielten viele Momente, die mir deutlich stärkere Augenblicke bieten und in denen die Erinnerung an Rowland sehr präsent ist.

Wie war denn die Rowland S. Howard Tribute-Show im Februar in Paris mit Lydia Lunch, Bobby Gillespie von PRIMAL SCREAM, Harry Howard, JP Shilo, Jonnine Standish von HTRK und Conrad Standish?
Wirklich schön und sehr stark. Ein großartiges Gefühl und eine Freude. Es war ein Vergnügen, diese Lieder mit diesen Musikern zu spielen. Auch die Show in London war großartig. Ich wünschte mir nur, Nick hätte „Shivers“ mit der Band gesungen, anstatt alleine am Klavier, dann wäre er ein Teil des Teams und nicht so getrennt.

Bist du noch an „klassischen“ Bandformaten interessiert oder zufrieden damit, alleine oder mit bestenfalls einem oder zwei weiteren Musikern auf der Bühne zu stehen, wie in jüngster Vergangenheit?
Ich bin daran nicht uninteressiert, aber vielleicht liegen die Tage, in denen ich mich voll und ganz dieser Idee verschrieben habe, hinter mir. Es gibt einfach so viele Kompromisse und Schwierigkeiten, mit so vielen Menschen auf einer demokratischen Basis zu arbeiten. Kürzlich war ich noch mit PJ Harvey in einer zehnköpfigen Band auf Tournee. Und zuletzt hatten die Rowland S. Howard-Shows ein fünf- bis sechsköpfiges Ensemble mit Gastsängern auf der Bühne, so dass ich immer noch diese Art des Musikmachens erlebe und wie das klingen kann und wie sich die Chemie bei dieser Art des kreativen Schaffens anfühlt. Auch bei meiner Serge Gainsbourg-Show stehen bei einigen Konzerten bis zu elf oder sogar zwölf Musiker auf der Bühne. Was den Wiedereinstieg in eine derartige Situation betrifft, in die mein nächstes Soloprojekt eingebettet ist, bin ich wahrscheinlich am Bandformat nicht interessiert.

Nach zahlreichen Soundtracks arbeitet Warren Ellis aktuell mit Nick Cave an dem zu „Blonde“, dem Film über Marilyn Monroe von Regisseur Andrew Dominik. Verfolgst du mit Interesse, welche Soundtracks Warren komponiert und wie er es im Detail macht?
Nein, nicht speziell. Ich bin ein Fan von Warrens Arrangements und Kompositionen, aber ich habe keinen Grund, das mit Interesse zu beobachten. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich wahrscheinlich eher ein Fan seiner Arbeit mit THE DIRTY THREE und den BAD SEEDS als von dem, was er als Filmkomponist macht. Um ehrlich zu sein, verfolge ich niemanden wirklich „mit Interesse“. Ich lasse die Dinge einfach irgendwie einfließen, wenn ich ihnen begegne.

Von NICK CAVE & THE BAD SEEDS und mehr noch von THE BIRTHDAY PARTY gab es immer eine Menge sehr explosiver und lauter Songs. Bist du noch daran interessiert, selbst „laute und explosive“ Songs zu schreiben und auf der Bühne zu spielen?
Ich interessiere mich immer noch für das Potenzial solcher Songs, aber die Art und Weise, wie meine Solo-Shows strukturiert sind, bietet keine wirklich starke Plattform für die Präsentation solcher Musik. Sicherlich boten die letzten „Pop Crimes“-Shows für Rowland diese Möglichkeit, potenziell explosive Musik zu spielen, und ich war am Schlagzeug, was natürlich ein guter Ort ist, um viel Krach zu machen und aggressiv zu sein. Das hat mir Spaß gemacht. Aber ich bin jetzt älter geworden, und manchmal erscheint das ganze laute Zeug als zu viel „sound and fury signifying nothing“. Natürlich hat es nicht immer nichts zu bedeuten, aber es muss gut inszeniert sein, und es gibt viele andere Möglichkeiten, künstlerisch stark zu sein.

„Deep in the woods“ von THE BIRTHDAY PARTY ist der einzige Song, den du jemals mit Nick Cave geschrieben hast, bei dem du während des Songwriting-Prozesses tatsächlich mit ihm zusammen in einem Raum gewesen bist. Was ist so herausfordernd an so einem Face-to Face-Songwriting?
Nichts, wenn es einem Spaß macht. Aber warum zum Teufel muss ich meine Position in dieser Angelegenheit jemandem erklären? Wie kann ich das überhaupt? Wenn mir dieser Prozess nicht gefällt, sollte das als Erklärung ausreichen. Für mich ist der kreative Prozess und der Moment der Inspiration etwas, was ich gerne erforsche, wenn ich allein bin. Daran ist nichts merkwürdig, oder?

Nein, das ist es in der Tat nicht. Du hast vor einiger Zeit „Wicked game“ von Chris Isaak gespielt. Ich mag Chris Isaak und speziell diesen Song. Hast du eine besondere Beziehung zu ihm?
Nein, habe ich nicht. Man hat mich gebeten, diesen Song als Teil der David Lynch-Tribute-Show „In Dreams“-zu spielen, wo beispielsweise auch Stuart A. Staples von den TINDERSTICKS mitwirkte. Das Video zu „Wicked game“ wurde ja von David Lynch gedreht, und der Song war auch Teil des Soundtracks zu seinem Film „Wild At Heart“. Ich habe Chris Isaak ein oder zwei Mal persönlich getroffen und die BAD SEEDS haben mit seinem Toningenieur Louie Beeson auf einigen US-Touren zusammengearbeitet. Er war ein netter Kerl.

Ich habe mich jüngst wieder mit dem Soloalbum „Wildweed“ von Jeffrey Lee Pierce beschäftigt. Teilweise gefällt es mir besser als einige Sachen von THE GUN CLUB. Wie steht es aktuell um das „Jeffrey Lee Pierce Sessions Project“?
Ich glaube, die nächste Ausgabe steht vor der Tür, aber der Entstehungsprozess wurde in Erwartung einiger Songs, die noch in Bearbeitung waren, etwas aufgehalten. Mein einziger Beitrag ist diesmal als Mitglied von THE AMBER LIGHTS, eine Band, die ich zusammen mit JP Shilo zusammengestellt habe, um Jeffreys frühe Songs mit THE RED LIGHTS zu covern. Für diese Sessions haben wir zwei Songs eingespielt. Es ist schon so lange her, dass wir diese Songs eingeschickt haben, dass es schwer ist, sich überhaupt noch daran zu erinnern, wie sie klingen. Es ist aber etwas, auf das man sich freuen kann.